Wessjolowka (Kaliningrad, Tschernjachowsk)

Wessjolowka (russisch Весёловка; Betonung: Wessjólowka; bis 1938 deutsch Judtschen, von 1938 bis 1945 Kanthausen) ist ein Dorf in der russischen Oblast Kaliningrad. Es gehört zur kommunalen Selbstverwaltungseinheit Stadtkreis Tschernjachowsk im Rajon Tschernjachowsk.

Siedlung
Wessjolowka
Judtschen (Kanthausen)

Весёловка
Föderationskreis Nordwestrussland
Oblast Kaliningrad
Rajon Tschernjachowsk
Frühere Namen Jutzschwentta (um 1577),
Jutschen (um 1590),
Juschen (um 1615),
Judschen (um 1887),
Judtschen (bis 1938),
Kanthausen (1938–1946)
Bevölkerung 232 Einwohner
(Stand: 1. Okt. 2021)[1]
Höhe des Zentrums 40 m
Zeitzone UTC+2
Telefonvorwahl (+7) 40141
Postleitzahl 238161
Kfz-Kennzeichen 39, 91
OKATO 27 239 000 007
Geographische Lage
Koordinaten 54° 35′ N, 22° 1′ OKoordinaten: 54° 35′ 20″ N, 22° 1′ 0″ O
Wessjolowka (Kaliningrad, Tschernjachowsk) (Europäisches Russland)
Wessjolowka (Kaliningrad, Tschernjachowsk) (Europäisches Russland)
Lage im Westteil Russlands
Wessjolowka (Kaliningrad, Tschernjachowsk) (Oblast Kaliningrad)
Wessjolowka (Kaliningrad, Tschernjachowsk) (Oblast Kaliningrad)
Lage in der Oblast Kaliningrad
Ruine in Wessjolowka (ehem. Pfarrhaus, „Kanthaus“) (2013)
Kant-Museum seit 2018

Geschichte Bearbeiten

Über die Siedlungsgeschichte und Dorfgründung ist nur wenig überliefert. Im 16. Jahrhundert wurden die Dörfer Launessieta und Ruduprastt zusammengelegt. 1557 wurde der Ort Jutzschentta, Jutzwethen bzw. Jutzschwethen genannt. Der Ortsname kann aus dem Namen des dunkel aussehenden ersten Zinsers „Jotze“ bzw. „Joduz“ entstanden sein, wahrscheinlicher ist jedoch die Beschreibung des hier vorzufindenden Humusbodens, die sogenannte Schwarzerde, worauf auch der Name Judlaukis (prußisch für Schwarzacker) deutet. Bereits 1590 schrieb er sich Jutschen. In verschiedenen Urkunden wurde der Ort auch mit Judlaukis, Jüducze, bzw. Jodszen bezeichnet. Ab 1615 wird er in Urkunden mit „Juzchen“ bezeichnet und seit 1620 etablierte sich die Schreibweise „Judtschen“. Vom 17. bis 19. Jahrhundert finden sich in den verschiedenen Urkunden überwiegend die Schreibvarianten „Judtschen“, „Judschen“ und „Jutschen“.

1709 bis 1711 wütete die aus Polen gekommene Pestseuche in Ostpreußen und forderte zahlreiche Todesopfer. Weite Landstriche verödeten, besonders in „Preußisch-Litauen“, darunter das Dorf Judtschen. Der preußische König initiierte und unterstützte die Einwanderung von Protestanten aus West-Mitteleuropa. Besonders zahlreich kamen ab 1711 reformierte Siedler aus der französischsprachigen Schweiz, auch nach Judtschen. Die Gemeinde blühte auf. 1713 erwirkte der „Kolonistenvater“ Burggraf Alexander von Dohna den Entscheid zur Berufung eines französischen Predigers (David Clarenc) und zum Bau einer französisch-reformierten Kirche. Diese wurde 1727 eingeweiht, 1734 konnte auch ein neues Pfarrhaus bezogen werden. Anfang des 19. Jahrhunderts hörte der Gebrauch der französischen Sprache, auch in den Predigten auf.

In Judtschen lebte von 1747 bis 1750 der junge Immanuel Kant als „Studiosus philosophiae“ beim Pastor Daniel Ernst Andersch (* 1701 in Lissa, † 1771 in Judtschen) und beim Schulmeister Johann Jacob Challet (* um 1686 in Moudon, Kanton Waadt, † 1771 in Judtschen) als Hauslehrer für deren Söhne. Kant war auch Taufpate für zwei Kinder aus Judtschen. Nachdem das Gebäude lange Zeit baufällig geblieben war, wurde es renoviert und wird seit 2018 als Kant-Museum genutzt.[2]

1810 baute man ein neues „Predigerhaus“. 1848 wurde der Kirchturm erneuert, 1851 das Kirchenschiff einer „bedeutenden Reparatur“ unterzogen. 1865 begann der Bau eines neuen Pfarrhauses, auf den Fundamenten der Vorgängerbauten.

1860 erhielt der Ort einen Bahnhof an der Ostbahn zwischen Königsberg und Eydtkuhnen, mit einer Bogenbrücke über die Angerapp. Er war von großer wirtschaftlicher Bedeutung für das landwirtschaftlich geprägte Judtschen und seine Umgebung.

Im August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, wurde auch Judtschen von russischen Truppen besetzt. Mutwillig legten diese Feuer in der Kirche, sie brannte aus. 1925 konnte die wiederaufgebaute Kirche eingeweiht werden; der bis zur Zerstörung 50 Meter hohe, sehr schlanke Turm wurde durch einen gedrungenen abgelöst. Die Gemeinde errichtete ihren gefallenen und vermissten Soldaten ein Kriegerdenkmal im Stil der Zeit vor dem Pfarrhaus, mit darauf sich erhebendem, preußischem Adler. Im Dorf entstanden neue Häuser im Rahmen des Wiederaufbau-Programms für Ostpreußen.

Aus politisch-ideologischen Gründen erhielt Judtschen am 16. Juli 1938 den Namen „Kanthausen“. 1939 hatte der Ort 374 Einwohner.

Im Oktober 1944 stieß die Rote Armee bereits vorübergehend in die Region vor (Nemmersdorf), sie wurde von der Wehrmacht wieder zurückgeworfen. Die Bewohner von Kanthausen wurden am 21. Oktober mit der Reichsbahn Richtung Westen evakuiert. Im Januar 1945 kam mit der Besetzung durch sowjetische Truppen das Ende des deutschen Dorfs Judtschen / Kanthausen. Es wurde mit zugezogenen Siedlern aus der Sowjetunion besiedelt, hauptsächlich Russen.

1947 erhielt der Ort die russische Bezeichnung Wessjolowka und wurde gleichzeitig dem Dorfsowjet Krasnopoljanski selski Sowet im Rajon Tschernjachowsk zugeordnet.[3] Von 2008 bis 2015 gehörte Wessjolowka zur Landgemeinde Swobodnenskoje selskoje posselenije und seither zum Stadtkreis Tschernjachowsk.

Von der Ortschaft sind nur noch etwa dreißig Prozent der Gebäude aus der deutschen Zeit erhalten. Sie macht einen überwiegend verödeten und ruinösen Eindruck (2013).

Amtsbezirk Judtschen/Kanthausen (1874–1945) Bearbeiten

Zwischen 1874 und 1945 war Judtschen resp. Kanthausen Amtsdorf und damit namensgebend für einen Amtsbezirk im Kreis Gumbinnen im Regierungsbezirk Gumbinnen der preußischen Provinz Ostpreußen. Anfangs gehörten 16, zum Schluss nur noch 13 Gemeinden dazu[4]:

Deutscher Name Name (1938–1946) Russischer Name Deutscher Name Name (1938–1946) Russischer Name
Girnehlen Mühlenruh Pospelowo Lolidimmen Lolen Krasnoje
Groß Mixeln Bolschakowo Plimballen Mertinshagen Krasnoje
Groß Wersmeningken Großstangenwald Sarja Purwienen Altweiler (Ostpr.) Stepnoje
Groß Wischtecken Ullrichsdorf (Ostpr.) Schuwalowo Rosenfelde Nowo Schuwalowo
Judtschen Kanthausen Wessjolowka Schilleningken Kaimelskrug Cholmy
Klein Wersmeningken Kleinstangenwald Stannen Obertannen
Klein Wischtecken Ulrichshof (Ostpr.) Olschanskoje Stobricken Krammsdorf Kostino
Lampseden Lampshagen Karawaljewo Wingeningken Vierhufen

Bereits vor 1908 wurde die Landgemeinde Stannen in die Landgemeinde Stobricken eingemeindet, 1928 folgte der Gutsbezirk Girnehlen. Im gleichen Jahr kam der Gutsbezirk Klein Wischtecken zur Landgemeinde Groß Wischtecken. Bei den übrigen Landgemeinden änderte sich bis 1945 nichts.

Prussische Wehrburg Bearbeiten

Gut einen Kilometer südlich des Ortes, auf dem Schlossberg, befindet sich der Ringwall einer prussischen Wehrburg. Er war in den 1930er Jahren noch gut erhalten.[5]

Sendemast Wessjolowka Bearbeiten

1965 wurde in Wessjolowka ein Sendemast für die Verbreitung von UKW-Hörfunk- und Fernsehprogrammen errichtet.

Kirche Bearbeiten

 
Kirche in Judtschen nach Wiederaufbau 1925, Skizze nach alter Postkarte

1713 entstand in Judtschen durch Siedler eine französisch-reformierte Gemeinde mit (seit 1714) eigenem Geistlichen. Am 27. April 1727 wurde die neu erbaute Kirche eingeweiht, ein rechteckiger Ziegelbau mit Holzturm, der jedoch in der Folgezeit zahlreichen Veränderungen unterlag. Im Innern stand vor der die Ostwand bedeckenden Kanzelwand ein schlichter, reformierter Tradition entsprechender Altartisch.

Nachdem die Kirche am 24. August 1914 vollständig ausgebrannt war, baute man sie bis 1925 wieder auf. Bis 1945 war die Kirche Judtschen in den Reformierten Kirchenkreis der Kirchenprovinz Ostpreußen der Kirche der Altpreußischen Union eingegliedert.

Nach 1945 wurde das Gotteshaus landwirtschaftlich genutzt und später als Steinbruch für Schweinestall- und Straßenbau. 1985 wurden die letzten Reste abgetragen. Heute liegt Wessjolowka im Einzugsbereich der neu entstandenen evangelisch-lutherischen Gemeinde der Salzburger Kirche in Gussew (Gumbinnen) in der Propstei Kaliningrad[6] der Evangelisch-lutherischen Kirche Europäisches Russland.

Literatur Bearbeiten

  • Rudolf Grenz (Herausgeber): Gumbinnen. Stadt und Kreis Gumbinnen. Eine ostpreußische Dokumentation. Zusammengestellt und erarbeitet im Auftrag der Kreisgemeinschaft Gumbinnen. Marburg/Lahn: 1971
  • Herbert Stücklies und Dietrich Goldbeck: Gumbinnen Stadt und Land. Bilddokumentation eines ostpreußischen Landkreises 1900–1982. Im Auftrag der Kreisgemeinschaft Gumbinnen aus der Bildersammlung des Kreisarchivs Gumbinnen ausgewählt, zusammengestellt und erläutert. Band I und II. Bielefeld: 1985
  • Bruno Moritz: Geschichte der reformierten Gemeinde Gumbinnen. Festschrift zum 200-jährigen Bestehen der Kirche 1739–1939. Sonderdruck aus dem „Evangelischen Volksblatt für die Ostmark“ 1939
  • Peter Wörster: Kant und Judtschen. In: 25 Jahre Patenschaft Bielefeld – Gumbinnen 1954–1979. Festschrift, herausgegeben von der Kreisgemeinschaft Gumbinnen. Beiträge zur kulturellen Entwicklung des östlichen Ostpreußen. o. O. (Bielefeld): o. J. (1979)
  • Ernst Machholz, Zur Geschichte der evangel. Kirchengemeinden Judtschen, der evangel. Kirchengemeinde Goeritten und der eingegangenen französisch-reformierten Kirchengemeinde Gumbinnen, in: Zeitschrift der Altertumsgesellschaft Insterburg, Heft 10, 1907, S. 28–38.
  • Bernhard Haagen, Burggraf Alexander zu Dohna und die Schweizerkirche in Litauen. Zum zweihundertjährigen Gedächtnis der Entstehung der reformierten Gemeinden zu Judtschen und Gumbinnen 1713–1913, Berlin 1913.
  • Fritz Schütz, Ein Beitrag zur Heimatgeschichte – Die kirchliche Versorgung der Schweizerkolonie, in: Preußisch-Litauische Zeitung, Nr. 45, 120. Jg., Gumbinnen Sonntag, den 22. Februar 1931.
  • Bernhard Haagen, Auf den Spuren Kants in Judtschen, in: Altpr. Monatsschrift 1911, S. 382–411 u. 528–556.
  • Dierk Loyal: Zur Geschichte der vor 300 Jahren gegründeten Französisch-Reformierten Gemeinde Judtschen (Kanthausen) in Ostpreußen. In: Hugenotten, 75. Jg., Nr. 4/2012, S. 143–176

Weblinks Bearbeiten

Commons: Wessjolowka – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Таблица 1.10 «Численность населения городских округов, муниципальных районов, муниципальных округов, городских и сельских поселений, городских населенных пунктов, сельских населенных пунктов» Программы итогов Всероссийской переписи населения 2020 года, утвержденной приказом Росстата от 28 декабря 2021г. № 963, с данными о численности постоянного населения каждого населенного пункта Калининградской области. (Tabelle 1.10 „Bevölkerungsanzahl der Stadtkreise, munizipalen Rajons, Munizipalkreise, städtischen und ländlichen Siedlungen [insgesamt], städtischen Orte, ländlichen Orte“ der Ergebnisse der Allrussischen Volkszählung von 2020 [vollzogen am 1. Oktober 2021], genehmigt durch die Verordnung von Rosstat vom 28. Dezember 2021, Nr. 963, mit Angaben zur Zahl der Wohnbevölkerung jedes Ortes der Oblast Kaliningrad.)
  2. «Музей И.Канта. Дом пастора» в поселке Веселовка откроется для посетителей 21 апреля 2019 года. / Новости. Abgerufen am 17. Juni 2020.
  3. Durch den Указ Президиума Верховного Совета РСФСР от 17 ноября 1947 г. «О переименовании населённых пунктов Калининградской области» (Verordnung des Präsidiums des Obersten Rats der RSFSR "Über die Umbenennung der Orte der Oblast Kaliningrad" vom 17. November 1947)
  4. Rolf Jehke, Amtsbezirk Judtschen/Kanthausen
  5. Verzeichnis vor- und frühgeschichtlicher Wehranlagen im westlichen Nadrauen, von Hans Crome und W. Grunert, in Zeitschrift der Altertumsgesellschaft Insterburg, Heft 20, 1935, Seite 1–11, S. 5 (PDF-Datei)
  6. Evangelisch-lutherische Propstei Kaliningrad (Memento des Originals vom 29. August 2011 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.propstei-kaliningrad.info