Ziegenproblem (Geometrie)

Problem der Unterhaltungsmathematik

Das Ziegenproblem – auch Die grasende Ziege genannt[1] – ist ein seit dem 18. Jahrhundert bekanntes Problem der Unterhaltungsmathematik. Die erste Veröffentlichung erfolgte 1748 in dem in England einmal jährlich erscheinenden The Ladies Diary: or, the Woman’s Almanack.

Ziegenproblem (Geometrie)
Ziegenproblem (Geometrie)

Problemstellung Bearbeiten

Wie groß muss bei der gezeigten Abbildung   sein, damit die rote Fläche die Hälfte der Kreisfläche ist? Konkrete Motivation: Am Punkt   sei eine Ziege (oder ein anderes Tier) angebunden. Wie lang muss die Leine sein, damit das Tier auf genau der Hälfte der Kreisfläche grasen kann?

Lösung mit Berechnung der Linsenfläche Bearbeiten

Die von der Ziege erreichbare Fläche hat die Form einer asymmetrischen Linse (siehe Berechnungsskizze), die von zwei Kreisbögen begrenzt wird.[2]

Um den Flächeninhalt   der durch die zwei Kreisbögen begrenzten Fläche zu bestimmen, kann man diese in zwei Kreissegmente zerlegen, wobei die Trennungslinie   in den beiden Schnittpunkten   und   der Kreisbögen endet. Mit   wird der Radius des Kreises, der die Wiese darstellt, und mit   derjenige des Kreises, dessen Mittelpunkt   auf dem Kreisrand des anderen liegt, und mit   wird der Abstand zwischen den zwei Kreismittelpunkten   und   bezeichnet.

Höhen d1 und d2 der rechtwinkligen Dreiecke MDP bzw. DMQ Bearbeiten

 
Berechnungsskizze Die grasende Ziege

Gegeben:   sowie  

Nach dem Satz des Pythagoras gilt:

 

  von   in   eingesetzt ergibt

 

ausmultipliziert und umgeordnet ergibt

 

daraus   ergibt

 [3]

wegen   wird   entsprechend ergänzt

 

wegen   ergibt sich schließlich

 [3]

Radius r Bearbeiten

Mittels zweimaliger Anwendung der Formel für den Flächeninhalt eines Kreissegments mit   als Abstand des Kreismittelpunktes   bzw.   bis zur Kreissehne  

 [4]

und den darin eingesetzten Termen   von   und   von   erhält man nach entsprechender Umformulierung die Formel für den Flächeninhalt der asymmetrischen Linse:[3]

 

Für   und halber Kreisfläche vereinfacht sich dies zu

 [2]

Diese Gleichung kann nur numerisch gelöst werden und ergibt   (Folge A133731 in OEIS).

Lösung mit Integration Bearbeiten

Aus der Integration über die rechte Hälfte der Linsenfläche mit

 

ergibt sich die ebenfalls transzendente Gleichung

 

mit der gleichen Lösung.

Geometrische Näherungslösung Bearbeiten

 
Die grasende Ziege,
mit Approximation der halben Wiesenfläche (grün).
  die Länge der Leine

Zwei sich schneidende Kreise und deren Schnittpunkt liefern den gesuchten Radius, der die kreisförmige Wiesenfläche nahezu halbiert.

Konstruktion Bearbeiten

Es beginnt mit dem Einheitskreis um Punkt   und dem Einzeichnen von zwei zueinander senkrecht stehenden Radien; dabei ergeben sich die Schnittpunkte   und   Es folgt der Kreisbogen   um   mit Radius   Er schneidet den Kreis in   und bringt damit den gesuchten Radius   als Strecke   Der abschließende Kreisbogen um Punkt   mit Radius   ab   schneidet den Kreis in   und liefert nahezu eine Halbierung der Kreisfläche.

Nachrechnung Bearbeiten

 
Berechnungsskizze

Aus der nebenstehenden Berechnungsskizze bzw. aus der obigen Konstruktionsbeschreibung ist zu entnehmen:

  •   ist der Einheitskreis mit der Gleichung
 
  •   ist ein Teil des Kreises   mit dem Radius   und der Gleichung
 
  • Punkt   ist der Schnittpunkt des Kreises   mit dem Kreis   Die Abstände des Punktes   in einem kartesischen Koordinatensystem sind:   und  

Die Strecke   erhält man durch Subtraktion der beiden Kreisgleichungen:[5]

 

Die Strecke   erhält man durch Einsetzen des x-Wertes in die Kreisgleichung des Kreises  

 

Somit ist die Strecke  

Für die Hypotenuse   des rechtwinkligen Dreiecks   gilt nach dem Satz des Pythagoras:

 

Absoluter Fehler der konstruierten Länge   der Leine; darin entspricht Radius   dem numerisch gelösten   (s. oben):

  [LE]

Für den relativen Fehler des konstruierten Radius   gilt:

 

mit den eingesetzten Werten ergibt sich

 

Den Radius   eingesetzt in die vereinfachte Formel der Linsenfläche für den Einheitskreis (mit  ), oben in Lösung mit Berechnung der Linsenfläche beschrieben, ergibt näherungsweise die konstruierte halbe, im Bild grüne, Wiesenfläche

  [FE].

Flächeninhalt der halben Wiese (halber Einheitskreis)

  [FE]

Absoluter Fehler der approximierten halben Wiesenfläche

  [FE]

Relativer Fehler der approximierten halben Wiesenfläche (Formel siehe oben bei  )

 

Verdeutlichung der Approximation Bearbeiten

Hätte z. B. die kreisförmige Wiese einen Radius gleich   dann wäre die Leine um ca.   zu lang und die Ziege könnte – angebunden am Punkt   an eine Leine mit der Länge   – außer der für sie vorgesehenen Hälfte der Wiesenfläche (rund  ), noch zusätzlich   abgrasen, das wären etwa   weniger als ein DIN-A4-Blatt.

Geschlossene Lösung Bearbeiten

Mit Methoden der komplexen Geometrie fand Ingo Ullisch im Jahr 2020 folgende geschlossene Lösung[6][7][8]

 

Erweiterungen Bearbeiten

Die Ziege im Weltall Bearbeiten

 
Der dreidimensionale Fall mit Einheitskugel oben und Ziegenkugel unten

Im dreidimensionalen Fall befindet sich Punkt   auf der Oberfläche einer Einheitskugel, und die Fragestellung ist, wie groß der Radius   der zweiten Kugel sein muss, damit der Schnittkörper genau die Hälfte des Volumens der Einheitskugel hat.

Der vom Tier erreichbare Teil der Einheitskugel hat die Form einer dreidimensionalen Linse mit unterschiedlich gewölbten Seiten, die von den beiden Kugelkalotten begrenzt wird.

Das Volumen   einer Linse bei zwei Kugeln mit Radien   und Mittelpunktabstand   ist:

 

was sich bei   und halbem Kugelvolumen vereinfacht zu

 

woraus als Lösung folgt  

Es kann gezeigt werden, dass sich   bei weiter zunehmender Dimensionalität dem Wert   annähert.

Die Ziege am Silo Bearbeiten

 
Das Ziegenproblem mit Silo für Seillängen von  ,  ,  ,   und   (grün)
 
Die Ziege außerhalb des Kreises

Im zweidimensionalen Fall kann auch die Frage nach der Größe der erreichbaren Fläche außerhalb des roten Kreises gestellt werden. Das entspricht der Situation, dass das Tier an einem Silo festgebunden ist.

In diesem Fall besteht die Fläche aus einem Halbkreis (hellblau) mit Radius   und zwei Flächen, die durch den roten Kreis und die Kreisevolvente begrenzt sind (dunkelblau). Aus der Sektorformel von Leibniz folgt der Inhalt einer der dunkelblauen Flächen. Die gesamte erreichbare Fläche (hell- und dunkelblau) beträgt dann

 

unter der Bedingung, dass   (andernfalls überschneiden sich die beiden dunkelblauen Flächen auf der Rückseite des Silos).

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Heinrich Hemme: Die Hölle der Zahlen. 92 mathematische Rätsel mit ausführlichen Lösungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-40841-4, S. 32 und 102 f.
  2. a b Eric Weisstein: Goat Problem. WolframMathworld, abgerufen am 17. November 2019.
  3. a b c Eric Weisstein: Circle-Circle Intersection. WolframMathworld, abgerufen am 17. November 2019.
  4. Eric Weisstein: Circular Segment. WolframMathworld, abgerufen am 17. November 2019.
  5. Schnitt und Schnittwinkel zweier Kreise. (PDF) Nichtlineare analytische Geometrie. In: Dimensionen – Mathematik 7. Verlag E. Dorner, Wien, 2016, S. 1, abgerufen am 19. November 2020.
  6. Ingo Ullisch: A Closed-Form Solution to the Geometric Goat Problem. In: The Mathematical Intelligencer. 18. Februar 2020, ISSN 0343-6993, doi:10.1007/s00283-020-09966-0 (englisch).
  7. Steve Nadis: A After Centuries, a Seemingly Simple Math Problem Gets an Exact Solution. Quanta Magazin, 9. Dezember 2020, abgerufen am 23. Februar 2022.
  8. Ingo Ullisch: Correction to: A Closed-Form Solution to the Geometric Goat Problem. Abgerufen am 3. März 2024.