Mevlüde Genç

türkisch-deutsche Betroffene des Brandanschlags von Solingen, Friedensbotschafterin

Mevlüde Genç (geboren am 5. Februar 1943 in Amasya, Türkei; gestorben am 30. Oktober 2022 in Solingen) war eine deutsche Friedensbotschafterin für gesellschaftliche Versöhnung und ziviles Engagement, für das sie zahlreiche Preise erhielt. Beim Mordanschlag von Solingen 1993 verlor sie zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte.

Der Hülyaplatz in Frankfurt-Bockenheim zur Erinnerung an eine Enkelin von Mevlüde Genç. Die Statue stellt in Anlehnung an den Hammering Man einen Menschen dar, der ein Hakenkreuz zerschlägt (Foto: 2004).

Biografie Bearbeiten

Mevlüde Genç verließ 1973 mit 30 Jahren ihren Herkunftsort Mercimek in der türkischen Provinz Amasya.[1][2][3] Ihr Mann Durmuş Genç kam 1970 nach Deutschland, war dort Akkordarbeiter und lebte in einem Wohnheim. Drei Jahre später folgte ihm Mevlüde Genç, vier ihrer Kinder blieben zunächst in der Türkei, in Solingen bekamen sie drei weitere Kinder.[4]

In der Nacht zum 29. Mai 1993 wurden zwei Töchter, eine Nichte und zwei Enkelinnen von Genç durch einen Brandanschlag auf das Haus der Familie in Solingen von Neonazis ermordet. 17 weiteren Menschen wurden zum Teil bleibende Verletzungen zugefügt; darunter Gençs 15-jähriger Sohn, der schwer verletzt und traumatisiert überlebte, nachdem 36 Prozent seiner Haut verbrannt und seine Knochen, durch einen panischen Sprung aus dem Fenster, um den Flammen zu entgehen, gebrochen waren.[5] Der Brand im Haus an der Unteren Wernerstraße 81 war laut Polizeibericht um 1:38 Uhr ausgebrochen. Mevlüde Genç, damals 50-jährig, konnte sich, nachdem sie erfolglos versucht hatte, das Feuer mit Wassereimern zu bekämpfen, durch einen Sprung aus einem Fenster des brennenden Hauses retten. Die Hilferufe ihrer noch im Haus befindlichen Verwandten hörend alarmierte sie unverzüglich einen Nachbarn. Fünf Minuten später traf die Feuerwehr ein.[6]

Im anschließenden Gerichtsprozess, der 127 Verhandlungstage dauerte und vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf verhandelt wurde, sagte Mevlüde Genç, das Oberhaupt der Familie, am 41. Prozesstag als Zeugin aus:

„Obwohl ich fünf Kinder und mein Zuhause verloren habe, bezeuge ich trotzdem Zuneigung. Wir sind alle Brüder. Das lässt sich auch durch Verbrennen und Kaputtmachen nicht verhindern.“[5]

„Ich lebe in Deutschland, also will ich Deutsche sein“, begründete Genç ihren Schritt, nach der rechtsextremistisch motivierten Tat 1995 die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.[7]

Mevlüde Genç starb am 30. Oktober 2022[8] im Alter von 79 Jahren. Sie ist in Mercimek u. a. neben ihren in Solingen ermordeten Verwandten begraben.[9]

Zu den vielen Würdigern von Gençs Lebensleistung zählen der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der zu ihren Ehren eine Rede hielt, in der er sie als „Symbol für den Kampf gegen antitürkischen und antimuslimischen Hass in Europa“ bezeichnete, und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, der sie ein „großes Vorbild der Versöhnung“ nannte. Cem Özdemir zeigte sich auf Twitter „tieftraurig“ über den Tod seines „große[n] Vorbild[s]“ und der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach betonte, die Stadt Solingen werde ihr Vermächtnis bewahren.[10][11]

Ehrungen und Auszeichnungen Bearbeiten

 
Straßenschild des im Mai 2023 benannten Mevlüde-Genç-Platzes in Solingen

In den Jahren nach dem rechtsextremen Mordanschlag auf ihre Familie rief sie immer wieder zur Versöhnung auf und erhielt für ihr zivilgesellschaftliches Engagement zahlreiche Auszeichnungen.

Für ihre Bemühungen um eine gesellschaftliche Versöhnung nach dem Anschlag, dem laut taz eine Hetzkampagne der CDU-geführten Bundesregierung gegen Einwanderer und Geflüchtete im Anschluss an den sogenannten „Asylkompromiss“ vorhergegangen war, wurde ihr 1996 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.[12][5]

Im Rahmen der Deutsch-Türkischen Kulturwochen der Friedrich-Ebert-Stiftung 2003 mit dem Freundschaftspreis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es:

„… trotz allem die Treue gehalten und kämpft seither gegen Rassismus. Sie gründete u. a. einen Kindergarten und unterstützt vor allem das Bewusstsein, das bereits bei kleinen Kindern von Anfang an geschult werden sollte – nämlich dass Rassismus in Deutschland keine Chance haben darf. Für dieses Engagement und den Mut, trotz allem weiterzumachen, aufzustehen und etwas zu tun, verleiht die DTF seinen diesjährigen Preis in der Kategorie ‚Solidarität‘ an Mevlüde Genç.“[13]

Ein Rundfunkinterview des WDR mit Genç, Kraft zur Versöhnung: Ein Besuch bei Mevlüde Genc, von Sefa İnci Suvak erhielt 1995 den Civis-Medienpreis.

Im Februar 2012 wurde Genç vom nordrhein-westfälischen Landtag auf Vorschlag der Landtagsfraktion der CDU als Wahlfrau in die 15. Bundesversammlung gewählt,[14] an der sie am 18. März 2012 teilnahm.[15]

2015 wurde sie mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.[16]

Am 28. Mai 2023 wurde ein Platz in der Nähe des Rathauses von Solingen nach ihr benannt. Der Platz trug bisher den Namen Mercimek-Platz, benannt nach dem Herkunftsdorf der Familie.[17]

Mevlüde-Genç-Medaille Bearbeiten

Die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat am 18. Dezember 2018 für besondere Verdienste um Toleranz, Versöhnung zwischen den Kulturen und um das friedliche Miteinander der Religionen die Mevlüde-Genç-Medaille gestiftet. Die Auszeichnung wird jährlich rund um den Jahrestag des Brandanschlags durch den Ministerpräsidenten an Einzelpersonen oder Gruppen verliehen und ist mit 10.000 Euro dotiert. Der Preis und damit das Preisgeld können geteilt werden. Neben der Medaille in einer Schatulle und dem Preisgeld erhalten die Preisträger eine Urkunde.[18][19]

Sonstiges Bearbeiten

Gençs Medienpräsenz führte zu Neid und Missgunst in Teilen der Solinger Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wurden unter anderem Gerüchte gestreut, der Brandanschlag von Solingen habe die Familie, deren Wohnort heute geheim gehalten werden muss, reich gemacht, bis hin zum Verdacht, die Überlebenden könnten das Feuer selbst gelegt haben.[20][21][22]

Das Hörfunkinterview Kraft zur Versöhnung. Ein Besuch bei Mevlüde Genc, das Sefa İnci Suvak für den WDR führte, wurde 1995 mit dem Civis-Medienpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet.[2]

In Bezug auf die Ermittlungen um die rechtsextreme Mordserie des NSU an Migranten bekundete Genç ihr Vertrauen gegenüber dem deutschen Staat.[23]

In Oldenburg wurde der Mevlüde-Genç-Weg als Ergebnis eines Kooperationsprojektes des Fördervereins internationales Fluchtmuseum e.V., der AG „Schule ohne Rassismus-Schule mit Courage“ der IGS Kreyenbrück (beide Oldenburg) und der Stadt Oldenburg eingeweiht. Ein Schaukasten gibt nähere Auskünfte zum Anschlag in Solingen.[24]

Literatur (Auswahl) Bearbeiten

  • Birgül Demirtas, Adelheid Schmitz, Derya Gür-Seker und Çagri Kahveci (Hrsg.): Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag – Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung (= Edition Politik. Band 142). transcript, 2023, ISBN 978-3-8394-6497-7, doi:10.1515/9783839464977.
  • Manuel Gogos: Das Trauma von Solingen. In: Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n). transcript Verlag 2021, ISBN 978-3-8394-5423-7.
  • Metin Gür, Alaverdi Turhan: Die Solingen-Akte. Patmos, Düsseldorf 1996, ISBN 978-3-491-72352-8.

Verweise Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Armin Laschet: Laschet: "Mevlüde Genç ist die beeindruckendste Frau, die ich je kennengelernt habe", Westdeutsche Zeitung, 25. Mai 2018
  2. a b Friedensbotschafterin Mevlüde Genç ist tot. In: Zeit Online. 30. Oktober 2022, abgerufen am 31. Mai 2023.
  3. Mevlüde Genç. In: 50 Yil 50 İnsan 50 Jahre 50 Menschen. Präsidium für Auslandstürken und verwandte Völker (YTB), Kemal Yurtnaç im Namen des YTB, Juni 2012, S. 141–143, abgerufen am 3. Februar 2021 (deutsch, türkisch).
  4. Manuel Gogos: Das Trauma von Solingen. In: Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD - Ein Verein schreibt Geschichte(n). S. 73
  5. a b c Lale Artun: Nachruf auf Mevlüde Genç: Die Großzügige. In: taz. 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022.
  6. Stefan Willeke: Mord aus der Mitte. In: Die Zeit. 21. Mai 2008, S. 22 (zeit.de).
  7. »Vorbild der Versöhnung« Mevlüde Genç fast 30 Jahre nach Brandanschlag in Solingen gestorben, Spiegel.de vom 30. Oktober 2022
  8. Friedensbotschafterin Mevlüde Genç gestorben - Trauer und Anerkennung. In: WDR. 30. Oktober 2022, abgerufen am 16. Oktober 2023.
  9. Mirza Odabaşı: Hört uns zu! Der Anschlag von Solingen. Dokumentarfilm. WDR, abgerufen am 25. Mai 2023. (Minute 12:40–12:55).
  10. Mevlüde Genç in türkischer Heimat bestattet: Erdogan: Symbol für Kampf gegen antitürkischen und antimuslimischen Hass. AFP, 2. November 2022, abgerufen am 25. Mai 2023.
  11. Mevlüde Genç fast 30 Jahre nach Brandanschlag in Solingen gestorben: Wüst und weitere Politiker würdigen Genç als "Vorbild der Versöhnung". AFP, 30. Oktober 2022, abgerufen am 25. Mai 2023.
  12. Erwin Koch: Drei Jahre nach Solingen: „Ich bin tot und lebe noch.“ Gespräch mit Mevlüde Genç. In: Die Zeit, Nr. 23/1996
  13. Deutsch-Türkische Kulturwochen – Verleihung der Freundschaftspreise 2003. (Memento vom 28. September 2007 im Internet Archive) bayernforum.de, Presseinformation 14/2003, 12. Mai 2003
  14. Landtag bestimmt Vertreter zur Wahl des Präsidenten. In: Westfälischer Anzeiger. 28. Februar 2012, abgerufen am 19. März 2012.
  15. Gordon Repinski: Wahl des Bundespräsidenten – Frau Genc und Herr Gauck. In: die tageszeitung. 18. März 2012, abgerufen am 19. März 2012.
  16. NRW ehrt Mevlüde Genç: Außergewöhnliche Haltung und menschliche Größe. In: MiGAZIN, 17. April 2015.
  17. https://www1.wdr.de/nachrichten/brandanschlag-solingen-mevluede-genc-platz-100.html
  18. Recht NRW, abgerufen am 18. Januar 2019.
  19. Friedensbotschafterin Mevlüde Genç ist tot. In: www.n-tv.de. 30. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022.
  20. Pascal Beucker: Solingen ist meine Heimat. In: die tageszeitung. 29. Mai 2003, abgerufen am 19. März 2012.
  21. Ingo Blankenburg: Zehn Tage. Roman. 2004, S. 26, tiscali.de (Memento vom 25. August 2007 im Internet Archive)
  22. Stefan Willeke: Mord aus der Mitte. In: Die Zeit, Nr. 22/2008
  23. Ayten Hedia: "Ich vertraue unserem Staat", Süddeutsche.de, 3. Mai 2013.
  24. Ein Zeichen gegen Hass und Rassismus setzen. In: www.nwzonline.de. Nordwest-Zeitung Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 17. Juli 2021, abgerufen am 15. November 2021.