Mitri Raheb

palästinensischer Gründer und Direktor des Internationalen Begegnungszentrums in Betlehem

Mitri Raheb (* 26. Juni 1962 in Bethlehem; auch: Mitri Rahib; arabisch متري الراهب, DMG Mitrī ar-Rāhib) ist ein lutherischer Pastor und arabischer Christ, Gründer des Internationalen Begegnungszentrums in Bethlehem und Pastor an der dortigen Weihnachtskirche. Raheb vertritt seit 1990 eine als palästinensische Befreiungstheologie bezeichnete Position, die auf umfassende Befreiung der Palästinensergebiete von Israels militärischer Besetzung und Kontrolle zielt. Kritiker werfen ihm Einseitigkeit, unangemessene Vergleiche und die Diffamierung Israels vor.

Mitri Raheb

Familie und Ausbildung Bearbeiten

Rahebs Vorfahren waren dem Patriarchat von Jerusalem zugehörige griechisch-orthodoxe Christen. Sein Großvater väterlicherseits war Mitglied einer griechisch-orthodoxen Bruderschaft in Bethlehem. Durch Einflüsse des arabischen Nationalismus, den das Jerusalemer Patriarchat nicht unterstützte, und des evangelikalen Bethlehem Bible College trat Raheb jedoch schon als Jugendlicher in die evangelisch-lutherische Kirche seiner Region über.[1]

Als Raheb 13 Jahre alt war, starb sein Vater. Bis zu seinem Schulabschluss führte der Sohn neben der Schule den väterlichen Buchladen weiter.[2] Bis 1984 studierte er evangelische Theologie am Missionsseminar Hermannsburg, danach promovierte er an der Philipps-Universität Marburg zum Doktor der Theologie.[3] Er und seine Ehefrau Najwa Khoury haben zwei Töchter.[4]

Tätigkeiten Bearbeiten

Von 1987 bis 2017 arbeitete Raheb als Pastor an der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem.[4] 1995 gründete er das Internationale Begegnungszentrum in Bethlehem (International Center of Bethlehem – ICB, arabisch: Dar an-Nadwa ad-Dawwliyya, „Haus der Begegnung weltweit“).[3] Im ersten Gottesdienst nach dem Ende der 39-tägigen israelischen Belagerung der Geburtskirche in Betlehem im April bis Mai 2002, in der sich rund 200 Kämpfer der PLO verschanzt hatten, verkündete Raheb: „Der Krieg kann uns nicht unsere Vision rauben, in Frieden mit unseren Nachbarn zusammenzuleben“.[5] 1998 gründete Raheb die Dar al-Kalima-Schule, 2003 das Dar al-Kalima Health & Wellness Center, 2004 das Il’illiyeh Restaurant und der al-Kuz Coffee shop, in 2010 schließlich das Dar al-Kalima University College of Arts and Culture.[6]

Positionen Bearbeiten

Raheb gehört zu den Autoren des Kairos-Palästina-Dokuments von 2009.[7] Er verteidigte es als Aufruf zu einem gewaltfreien Widerstand gegen die „israelische Besatzung“, besonders durch christliche Kirchen.[8]

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 und dem Beginn des Krieges in Israel und Gaza 2023 mahnte Raheb eine Verständigung an und vertrat die Ansicht, dass für Israel „Sicherheit nicht durch Waffen allein kommt, sondern nur durch eine friedliche Lösung mit den Palästinensern“.[9] Er verwies auch auf zivile Opfer im Gazastreifen und bezeichnete die Lage dort als an „Genozid“ grenzend.[10]

Preise Bearbeiten

2003 erhielt Raheb den Wittenberg-Preis des Luther Institute in Washington, D.C. 2006 erhielt er den Preis der Holy Land Christian Ecumenical Foundation und den Muhammad-Nafi-Tschelebi-Preis. 2008 erhielt er den Aachener Friedenspreis für sein Engagement für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Palästinensern.[11] 2011 verlieh der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog ihm den Deutschen Medienpreis. Der schwedische Olof Palme Minnesfond verlieh Raheb und dem israelischen Journalisten Gideon Levy 2015 den Olof Palme Preis für ihren „mutigen und unermüdlichen Kampf gegen Besatzung und Gewalt, und für einen zukünftigen Mittleren Osten, der durch friedliches Zusammenleben und Gleichheit für alle gekennzeichnet ist“.[12]

Kritik Bearbeiten

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft kritisierte besonders die Vergabe des Deutschen Medienpreises an Raheb.[13] Sein Kairos-Palästina-Dokument vergleiche Israel auf ahistorische Weise und in diffamierender Absicht mit dem Apartheidregime in Südafrika. Mit Aussagen wie denen, die „israelische Besatzung palästinensischen Landes“ sei „eine Sünde gegen Gott“, bediene er „jahrhundertealte judenfeindliche Stereotypen“.[14] Der Theologe Albrecht Lohrbächer warf Raheb Gewaltverherrlichung vor.[15]

Mitri Raheb bringe die Situation der Palästinenser immer wieder mit der Kreuzigung Jesu in Verbindung, schrieb Tilman Tarach in einem taz-Artikel über christlichen Antisemitismus. Zum antisemitischen Massaker beim Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 schrieb Raheb, die Palästinenser würden „neue Formen des kreativen Widerstands“ zeigen.[16] Die deutschen Theologen Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann schrieben in einem offenen Brief an die EKD, Raheb propagiere die „‚Entjudung‘ Jesu“.[17] Im Deutschlandfunk Kultur sagte die Journalistin Kirsten Dietrich: „Raheb vertritt im Nahostkonflikt vehement die Seite der Palästinenser. Er schreckt vor Begriffen wie „Staatsterrorismus“ nicht zurück und hat Israel auch schon mit dem südafrikanischen Apartheidsstaat verglichen – und ist dafür zu Recht kritisiert worden.“ Er sei aber auch eine „wichtige Stimme“ der Christen unter den Palästinensern.[18]

Der rheinische Landespfarrer für den christlich-jüdischen Dialog, Volker Haarmann, und der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, warfen Raheb 2012 Einseitigkeit vor, der Apartheids-Vergleich sei „unangemessen“ und Rahebs Kairos-Palästina-Papier verurteile Israel einseitig als Aggressor und Besatzer. Der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bezeichnete die palästinensische Befreiungstheologie Rahebs als geradezu antisemitisch. In seinen Predigten würde er behaupten, Jesus sei Palästinenser gewesen.[19]

In einem Gastbeitrag für die Welt schrieb der Politiker Volker Beck (Grüne), das Kairos-Palästina-Dokument verbinde „BDS mit traditionellen Elementen christlich-antijudaistischer Enterbungstheologie“, es sei „theologisch wie politisch inakzeptabel“. Die Theologie weise „merkwürdige Anklänge zur Theologie der Deutschen Christen“ auf.[20]

Schriften Bearbeiten

  • Das reformatorische Erbe unter den Palästinensern: zur Entstehung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien. Gütersloh 1990, ISBN 3-579-00127-2.
  • Bethlehem 2000: Past and Present. Palmyra, Heidelberg 1998, ISBN 3-930378-21-3.
    • Deutsche Ausgabe: Bethlehem 2000: Eine Stadt zwischen den Zeiten. Palmyra, Heidelberg 1998, ISBN 3-930378-18-3.
  • Ich bin Christ und Palästinenser. Israel, seine Nachbarn und die Bibel. 2. Auflage. Gütersloher Verlags-Haus, Gütersloh 1995, ISBN 3-579-01307-6. (Gütersloher Taschenbücher 1307)
    • englisch: I am a Palestinian Christian.
  • Christ und Palästinenser. AphorismA-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-86575-150-4. (Kleine Schriftenreihe des Kulturvereins AphorismA, Bd. 18)
  • Bethlehem hinter Mauern. Geschichten der Hoffnung aus einer belagerten Stadt. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, ISBN 3-579-06853-9.
    • englisch: Bethlehem Besieged
  • Verwurzelt im Heiligen Land. Einführung in das palästinensische Christentum. (Hrsg.) Knecht, Metzingen 1995, ISBN 3-7820-0729-8.
  • Christ-Sein in der arabischen Welt. 25 Jahre Dienst in Bethlehem, gesammelte Aufsätze und Reden eines kontextuellen Theologen aus Palästina (Mit einem Vorw. von Khouloud Daibes und einem Nachw. von Manfred Kock), AphorismA, Berlin 2013, ISBN 978-3-86575-043-3.
  • Glaube unter imperialer Macht. Eine palästinensische Theologie der Hoffnung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014 ISBN 978-3-579-08511-1 (dt. Fassung von Faith in the Face of Empire)

Weblinks Bearbeiten

Commons: Mitri Raheb – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Samuel J. Kuruvilla: Radical Christianity in Palestine and Israel: Liberation and Theology in the Middle East. Bloomsbury Publishing, London 2013, ISBN 0-85773-667-1, S. 238f.
  2. S. 160
  3. a b Constance A. Hammond: Shalom/Salaam/Peace: A Liberation Theology of Hope. Taylor & Francis, London 2014, ISBN 1-317-49055-X, S. 158
  4. a b Short Bio. mitriraheb.org
  5. Aachener Friedenspreis an Nahost-Initiativen verliehen. EKD-News, 1. September 2008
  6. Initiatives. mitriraheb.org
  7. Josef Estermann: Südwind: Kontextuelle nicht-abendländische Theologien im globalen Süden. LIT Verlag, Münster 2017, ISBN 3-643-80253-6, S. 141
  8. Bob Simon: Christians in the Holy Land on “60 Minutes”. CBS, 22. April 2012 (Interview-Transkript)
  9. Jürgen Prause: Bethlehem: Pfarrer kritisiert Israel. meine-kirchenzeitung.de vom 19. Oktober 2023, abgerufen am 23. November 2023.
  10. Bethlehemer Pfarrer: Deutschland soll sich für Frieden einsetzen. ekd.de vom 17. Oktober 2023, abgerufen am 23. November 2023.
  11. Brockhaus Enzyklopädie, Jahrbuch 2008, F.A. Brockhaus, Wiesbaden 2008, S. 63
  12. 2015 – Gideon Levy and Mitri Raheb. Olof Palme Minnesfond, Januar 2016
  13. DIG: Raheb ist kein Friedensstifter. Pressemitteilung vom 17. Februar 2012; Malcolm F. Lowe: The Raheb-Herzog Affair. jcrelations, 4. Mai 2012
  14. Thomas Klatt: Pfarrer Mitri Raheb erhält Deutschen Medienpreis. Deutschlandfunk, 23. März 2012
  15. Gerechter Zorn: Deutscher Medienpreis für Mitri Raheb? B.Z., 21. Februar 2012
  16. Tilman Tarach: Geschichte des Antisemitismus: 2000 Jahre Judenhass. In: Die Tageszeitung: taz. 23. Dezember 2023, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 4. Januar 2024]).
  17. Offener Brief an SEK und EKD. Audiatur.ch, 4. Juni 2013
  18. Theologe Mitri Raheb - Streitbarer Anwalt der palästinensischen Sache. In: deutschlandfunkkultur.de. Abgerufen am 4. Januar 2024.
  19. Pfarrer Mitri Raheb erhält Deutschen Medienpreis. In: deutschlandfunk.de. Abgerufen am 4. Januar 2024.
  20. Volker Beck: Christlicher Boykott: Keine Bescherung für Israel? In: Die Welt. 25. Dezember 2020, abgerufen am 4. Januar 2024.