Ismail Haniyya

palästinensischer Politiker
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Ismail Haniyya, oft Ismail Haniyeh oder Ismail Hanija[1] (arabisch إسماعيل هنية Isma’il Haniya, DMG Ismāʿīl Haniyya oder إسماعيل عبد السلام أحمد هنية, DMG Ismāʿīl ʿAbd as-Salām Aḥmad Haniyya [oder Hanīya]; * 1962 oder 1963[2] im Flüchtlingslager asch-Schati bei Gaza-Stadt im Gazastreifen; † 31. Juli 2024 in Teheran, Iran), war von März 2006 bis Juni 2007 Ministerpräsident der Palästinensischen Autonomiegebiete. Ab 2017 war er Chef der palästinensischen islamistischen Terrororganisation Hamas und wurde am 1. August 2021 vom Schura-Rat für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. Vor seinem Tod zählte er zu den fünf wichtigsten politischen Führern der Hamas. Seit 2019 hielt er sich in der Türkei und in Katar auf. Er wurde am 31. Juli 2024 bei einem Angriff auf seine Residenz in Teheran getötet.

Ismail Haniyya (2022)

Leben

 
Ismail Haniyya bei einem Arbeitstreffen mit Numan Kurtulmuş, Parteivorsitzender der türkischen Halkın Sesi Partisi, 2012

Seine Eltern mussten während des Palästinakriegs 1948 in das Flüchtlingslager asch-Schati bei Gaza-Stadt fliehen, wo er aufwuchs und bis zu seiner Ausreise 2018 lebte. Haniyya besuchte eine Schule der Vereinten Nationen in Gaza und studierte bis 1987 an der Islamischen Universität Gaza arabische Literatur. Dort kam er in Kontakt mit radikalen Unabhängigkeitsbewegungen. 1987 und 1988 wurde er jeweils wegen der Teilnahme an der ersten Intifada zu kürzeren Haftstrafen verurteilt. 1989 wurde Haniyya schließlich zu drei Jahren Haft verurteilt und 1992 zusammen mit anderen führenden Hamas-Mitgliedern wie Abd al-Aziz ar-Rantisi und Mahmud az-Zahar in den Südlibanon deportiert.

Nach seiner Rückkehr 1993 wurde er zum Dekan der Philosophischen Fakultät der Islamischen Universität ernannt. 1997 wurde er Bürochef von Scheich Ahmad Yasin, dem geistigen Führer der Hamas, und Verbindungsmann der Hamas zur palästinensischen Autonomiebehörde. Im März 2004 überlebte er die Tötung Yasins durch die israelische Armee. Nachdem im folgenden Monat auch Yasins Nachfolger ar-Rantisi liquidiert wurde, beschloss die Hamas, den Namen ihres neuen Führers in Gaza geheim zu halten. Palästinensische Quellen sprechen aber davon, dass Haniyya zusammen mit az-Zahar und Sayyid as-Sayyam eine Dreierspitze bildete. Bei den Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten 2006 war er Spitzenkandidat der Hamasliste. Haniyya war bestrebt, die Hamas in die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) einzubinden. Er bemühte sich um eine Koalitionsregierung mit der Fatah-Bewegung von Palästinenserpräsident Abbas. Am Abend des 21. Februar 2006 wurde Haniyya von Präsident Abbas auf Vorschlag der Hamas zum neuen Ministerpräsidenten der Palästinensergebiete ernannt. Nach ungesicherten Berichten soll Haniyya von Abbas ein Schreiben erhalten haben, in dem die neue hamasgeführte Regierung aufgefordert wird, sämtliche mit Israel getroffenen Friedensverträge und Absprachen einzuhalten. Daraufhin erklärte Haniyya seine grundsätzliche Bereitschaft zur Anerkennung Israels für den Fall, dass Israel sich auf die Grenzen von 1967 zurückzöge. Außerdem sollte das Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge festgeschrieben werden. Nach heftigen Protesten innerhalb der Hamas relativierte Haniyya seine Äußerungen und sprach anstatt von einer Friedenslösung nur noch von einem dauerhaften Waffenstillstand. Am 29. März 2006 wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt und stellte seine Regierung vor.

Um den internationalen Boykott der Hamas-Regierung und das damit verbundene Finanzembargo des Westens zu beenden, verhandelten Hamas und Fatah seit dem Herbst 2006 über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Haniyya erklärte daraufhin seine Bereitschaft zum Rücktritt, falls durch diesen eine Aufhebung der Sanktionen erreicht werden könnte. Als sein Nachfolger war Muhammad Schabir im Gespräch. Haniyya blieb jedoch bis zum 15. Juni 2007 im Amt. An diesem Tag wurde er von Präsident Mahmud Abbas entlassen, weil dieser in Ministerpräsident Haniyya den Hauptschuldigen für den Bürgerkrieg zwischen der Hamas und der Fatah sah. Abbas ernannte den bisherigen Finanzminister Salam Fayyad zum Ministerpräsidenten einer Notstands-Regierung. Im August 2009 äußerte sich Haniyya kompromisslos hinsichtlich der Anerkennung Israels: „Hamas will never recognize the Zionist entity […] and [will] continue the resistance until liberating the land and the holy sites“ („Hamas wird das zionistische Gebilde niemals anerkennen […] und [wird] den Widerstand fortsetzen, um das Land und die Heiligen Stätten zu befreien“).[3] Dagegen erklärte er im Dezember 2010 im Namen der Hamas, dass seine Organisation einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 akzeptieren würde. Zudem würde sie ein Referendum über ein Friedensabkommen respektieren, sofern die Mehrheit aller Palästinenser dafür stimme.[4]

Anfang Mai 2011 unterschrieb Haniyya gemeinsam mit Mahmud Abbas (Fatah) zur Überraschung vieler ein Versöhnungsabkommen, das eineinhalb Jahre zuvor die ägyptische Führung in Auftrag der Arabischen Liga aufgesetzt hatte. Vor allem die Hamas hatte sich gegen eine Unterzeichnung gewehrt. Beide Fraktionen planten vor der Parlamentswahl 2012 eine gemeinsame Übergangsregierung zu bilden. Palästinensische Politikexperten führten diesen Schritt auf die arabischen Aufstände seit Beginn des Jahres 2011 zurück.[5] Die enge Kooperation von Ismail Haniyya mit Recep Tayyip Erdoğan wurde erstmals 2012 in den Medien thematisiert.[6][7][8][9] Als Anfang November 2013 die Hamas die Waffenruhe aufkündigte und Raketen auf israelischem Territorium einschlugen, wurde von Zachi Ha-Negbi, dem Vorsitzenden des Außen- und Verteidigungsausschusses der Knesset, Haniyyas „Eliminierung“ angedroht: Falls die Hamas wieder Selbstmordattentate in Israel begehe, sei der Regierungschef vogelfrei.[10]

Im Mai 2017 wählte die Schura Haniyya, bisher Stellvertreter des Hamas-Politbüro-Vorsitzenden Chalid Maschal, zum neuen Vorsitzenden ihres politischen Büros. Im Dezember 2017 rief Haniyya als Reaktion auf die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch US-Präsident Donald Trump zu einer dritten Intifada auf.[11] Im Januar 2018 setzten die Vereinigten Staaten Haniyya auf ihre Liste globaler Terroristen.[12] Seit 2019 hielt er sich in der Türkei und in Katar auf und steuerte von dort aus die politischen Aktivitäten der Hamas.[13][14]

Im Mai 2024 beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, einen Haftbefehl gegen Haniyya und warf ihm aufgrund des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 unter anderem „Ausrottung“ sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Hätte das Gericht dem Antrag entsprochen, so wäre Katar zur Auslieferung Haniyyas verpflichtet gewesen.[15][16] Am 26. März reiste er nach Teheran und bedankte sich bei der iranischen Regierung für deren Unterstützung.[17]

Tod

Am 31. Juli 2024 starb Haniyya zusammen mit einem seiner Leibwächter bei einem Angriff auf sein Haus in Teheran.[18][19] Das Gebäude, in dem er wohnte, wurde um 2 Uhr nachts von einem Marschflugkörper getroffen.[20] Die Terrororganisation Hamas und das Korps der Iranischen Revolutionsgarde teilten mit, dass Haniyya durch einen israelischen Luftangriff getötet worden sei. Haniyya hatte in Teheran an der Vereidigungszeremonie des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian teilgenommen und sich nicht nur mit Peseschkian, sondern auch mit dem geistlichen Oberhaupt des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, getroffen.[21][22][23]

Zahlreiche Länder, vor allem arabische Staaten, aber auch die Volksrepublik China, die Türkei und Russland verurteilten die Tötung. Laut dem Außenminister der USA Antony Blinken waren die USA weder in die Tötung von Ismail Haniyya verwickelt, noch hatten sie vorab davon Kenntnis gehabt. Ali Chamenei kündigte Vergeltung gegen Israel an.[24]

Ehe und Familie

Haniyya war verheiratet und hatte dreizehn Kinder.[25] Haniyyas Schwestern Kholidia, Laila und Sabah sind israelische Staatsbürgerinnen und leben in der Beduinenstadt Tel Scheva im Süden Israels.[26] Einige der Kinder der drei Schwestern haben in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften gedient.[26] Anfang 2012 gestatteten die israelischen Behörden Haniyyas Schwester, Suhila Abd el-Salam Ahmed Haniyeh, und ihrem schwer kranken Ehemann, zu einer dringenden Herzbehandlung zu reisen, die in Krankenhäusern in Gaza nicht durchgeführt werden konnte.[27] Nach erfolgreicher Behandlung im Rabin Medical Center in Petah Tikva, Israel, kehrte das Paar nach Gaza zurück.[27]

Im Oktober 2023, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Beginn des Kriegs in Israel und Gaza, wurden 14 Mitglieder seiner Familie bei einem israelischen Luftangriff auf das Haus seiner Familie in Gaza-Stadt getötet, darunter ein Bruder und ein Neffe.[28] Im November 2023 wurde Berichten zufolge eine Enkelin bei einem israelischen Luftangriff in Gaza-Stadt getötet.[29] Später im selben Monat wurde sein ältester Enkel bei einem israelischen Angriff getötet.[30] Im März 2024 nahm die israelische Polizei in Tel Scheva eine seiner Schwestern wegen des Vorwurfs fest, „Kontakt mit Hamas-Aktivisten unterhalten zu haben“. In einer Polizeimitteilung hieß es, sie identifiziere sich mit einer Terrororganisation und werde der Hetze und Unterstützung von Terroranschlägen in Israel beschuldigt.[31] Im April 2024 wurden drei seiner Söhne und drei Enkelkinder durch einen israelischen Luftangriff getötet.[32][33]

Literatur

  • Martin Doerry & Christoph Schult: Wir wollen Ruhe und Stabilität. In: Der Spiegel. Nr. 24, 2006 (online – Interview mit Ismail Haniyeh).
  • Ismail Hanija in: Internationales Biographisches Archiv 37/2012 vom 11. September 2012, im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)
Commons: Ismail Haniyeh – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Verfassungsschutzbericht 2022. In: Bundesministerium des Innern und für Heimat. 2022, S. 221, abgerufen am 20. Mai 2024 (ISSN: 0177-0357; Artikelnummer: BMI23007).
  2. Ralf Balke: Hamas-Chef in Teheran getötet: Wer war Ismail Haniyeh? Die wichtigsten Fragen und Antworten. In: Jüdische Allgemeine. 31. Juli 2024, abgerufen am 31. Juli 2024.
  3. Saed Bannoura: „Haniyya: 'Hamas will never recognize the Zionist entity'“. In: imemc.org. 14. August 2009, archiviert vom Original am 18. August 2009; abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  4. Inge Günther: Sanfte Töne aus dem Gazastreifen. In: Frankfurter Rundschau. 24. Januar 2019, abgerufen am 20. Mai 2024.
  5. Clemens Verenkotte: Das Ende von "vier schwarzen Jahren". In: tagesschau.de. 4. Mai 2011, archiviert vom Original am 7. Mai 2011; abgerufen am 20. Mai 2024.
  6. Christoph Sydow: Warum Erdogan die Hamas hofiert. In: Der Spiegel. 4. Januar 2012, abgerufen am 20. Mai 2024.
  7. Susanne Knaul: Hamas sucht ein neues Zuhause. In: Die Tageszeitung. 5. Februar 2012, abgerufen am 20. Mai 2024.
  8. Hans-Christian Rößler: Schmerzhafte Häutungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 21. Februar 2012, abgerufen am 20. Mai 2024.
  9. Kersten Knipp: Katar, die Hamas und der neue Nahe Osten. In: Deutsche Welle. 24. Oktober 2012, abgerufen am 20. Mai 2024.
  10. Israel droht Hanija mit Ermordung. In: Focus Online. 12. November 2013, abgerufen am 20. Mai 2024.
  11. Hamas ruft zu „neuer Intifada“ auf. In: Deutsche Welle. 7. Dezember 2017, abgerufen am 20. Mai 2024.
  12. Pierre Heumann: Trump erklärt Hamas-Chef zum globalen Terroristen. In: Handelsblatt. 1. Februar 2018, abgerufen am 20. Mai 2024.
  13. Gazastreifen: Hamas bestätigt ihren Chef Hanija im Amt. In: RedaktionsNetzwerk Deutschland. 2. August 2021, abgerufen am 20. Mai 2024.
  14. Nidal Al-Mughrabi: Haniyeh re-elected as chief of Palestinian Islamist group Hamas. In: Reuters. 1. August 2021, abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  15. tagesschau.de: Strafgerichtshof: Haftbefehle gegen Netanyahu und Hamas-Chef beantragt. 20. Mai 2024, abgerufen am 28. Mai 2024.
  16. Statement of ICC Prosecutor Karim A.A. Khan KC: Applications for arrest warrants in the situation in the State of Palestine. International Criminal Court, 20. Mai 2024, abgerufen am 20. Mai 2024.
  17. Ismail Haniyeh. In: Counter Extremism Project. Abgerufen am 28. Oktober 2023 (englisch).
  18. Hamas meldet Tod von Politbürochef Ismail Hanija in Teheran. In: faz.net. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Juli 2024, abgerufen am 31. Juli 2024.
  19. Hamas, IRGC claim Israel eliminated leader Ismail Haniyeh in airstrike on Tehran home. 31. Juli 2024, abgerufen am 31. Juli 2024 (englisch).
  20. Hamas meldet Tötung ihres Anführers Hanija in Teheran. In: tagesschau.de. 31. Juli 2024, abgerufen am 31. Juli 2024.
  21. Emma Graham-Harrison, Quique Kierszenbaum: Hamas leader Ismail Haniyeh killed in raid on Iran residence, says Palestinian group. In: The Guardian. 31. Juli 2024, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 31. Juli 2024]).
  22. Isabelle Daniel, Reuters, AFP, AP: Palästinensische Terrororganisation: Hamas meldet Tod ihres Politchefs Ismail Hanija. In: Die Zeit. 31. Juli 2024, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 31. Juli 2024]).
  23. Iran und Hamas melden gezielte Tötung von politischem Anführer Ismail Haniyyeh in Teheran. In: Der Spiegel. 31. Juli 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 31. Juli 2024]).
  24. USA verneinen Beteiligung an Tötung von Hamas-Anführer Haniyyeh. In: spiegel.de. 31. Juli 2024, abgerufen am 31. Juli 2024.
  25. Doron Peskin: Hamas got rich as Gaza was plunged into poverty. In: Ynetnews. 15. Juli 2014, abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  26. a b Tim Butcher: Hamas leader's three sisters live secretly in Israel as full citizens. In: The Daily Telegraph. 2. Juni 2006, archiviert vom Original am 4. Juli 2016; abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  27. a b Hamas PM’s brother-in-law treated in Israeli hospital. In: al-Arabiya. 8. August 2012, abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  28. Gianluca Pacchiani: Israel strikes Gaza home of Hamas political leader-in-exile, killing 14. In: The Times of Israel. 17. Oktober 2023, abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  29. Granddaughter of Hamas chief Haniyeh reportedly killed in Gaza. In: The Times of Israel. 10. November 2023, abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  30. Einav Halabi: Palestinian media: Ismail Haniyeh’s grandson killed in IDF attack in Gaza. In: Ynetnews. 21. November 2023, abgerufen am 20. Mai 2024 (englisch).
  31. Warum die Schwester des Hamas-Chefs in Israel lebt – und nun festgenommen werden musste. In: Jüdische Allgemeine. 1. April 2024, abgerufen am 20. Mai 2024.
  32. Ismail Haniyyeh: Söhne von Hamas-Chef im Gazastreifen durch Luftangriff getötet. In: Der Spiegel. 11. April 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 12. April 2024]).
  33. Richard C. Schneider: (S+) Israel: Der tödliche Angriff auf die Söhne von Hamas-Chef Ismail Haniyyeh könnte die Verhandlungen ausbremsen. In: Der Spiegel. 11. April 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 12. April 2024]).