Gerichtsherrenstand im Thurgau

Vereinigung von weltlichen und geistlichen Inhabern niederer Vogteien in der Landgrafschaft Thurgau

Der Gerichtsherrenstand war eine geordnete Vereinigung von weltlichen und geistlichen Inhabern niederer Gerichtsherrschaften (Vogteien) in der Landgrafschaft Thurgau und bildete spätestens seit dem 16. Jahrhundert eine Körperschaft, die sich im alljährlichen Gerichtsherrentag als eine Art Landstandschaft institutionalisierte und bis zum Ende des Ancien Régime 1798 die herrschaftlichen Interessen und Rechte einerseits gegenüber dem eidgenössischen Landvogt im Thurgau und anderseits gegenüber der Landschaft (Gemeinden, Quartiere) zu wahren suchte.

Gerichtsherrschaften der Landgrafschaft Thurgau um 1750

Entstehung und Ausbildung Bearbeiten

Die Eidgenossen (Zürich, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus) eroberten 1460 die Landgrafschaft Thurgau, erwarben 1499 zusammen mit Bern, Freiburg und Solothurn das thurgauische Landgericht und beanspruchten damit die Konzentration aller Herrschaftsrechte in ihrer Gemeinen Herrschaft im Thurgau. Dies war ein wichtiges Moment für die Konstituierung des Gerichtsherrenstandes, da die weltlichen und geistlichen Gerichtsherren ihre bisherigen Rechte, alten Freiheiten und Privilegien verteidigten und sich in corpore zur Wehr setzten. Folglich grenzten die Gerichtsherren als Inhaber der niederen Gerichtsbarkeit und die Eidgenossen als Landesherren im Gerichtsherrenvertrag ihre rechtlichen Befugnisse voneinander ab. Während der Abt von St. Gallen in den Verträgen von 1501/1512 und der Bischof von Konstanz mit dem Vertrag von 1509 sich gewisse hochheitliche Sonderrechte gegenüber den Eidgenossen vorbehielten, mussten die übrigen Vogteiinhaber die Unterstellung ihrer Herrschaft unter die eidgenössische Blutgerichts-, Militär- und Landeshoheit im Gerichtsherrenvertrag vom 20. Juli 1509 anerkennen. Diese Herrschaftsverträge bildeten die Grundlage für die gerichtsherrlichen Rechte. Eine durchgreifende Änderung hat diese Ordnung bis 1798 nicht mehr erfahren.

Der Gerichtsherrentag Bearbeiten

Seit 1581 traf sich der Gerichtsherrenstand alljährlich zu den sogenannten Gerichtsherrentagen (bis 1542 in Frauenfeld und 1544–1798 in Weinfelden im Gasthaus zum Trauben). Im 16./17. Jahrhundert wurden mit Ausschüssen, einer gemeinsamen Kasse, einem siebenköpfigen Vorstand, einzelnen Funktionären (Landeshauptmann, Landesleutnant, Landesfähnrich und Gerichtsherrensekretär) und Deputationen das korporative Wesen des Gerichtsherrenstands verfassungsmässig gefestigt. Der Gerichtsherrentag hatte vor allem den Zweck, die Privilegien und Freiheiten des Standes gegenüber dem eidgenössischen Landvogt und den thurgauischen Untertanen zu bewahren. Daneben gehörte der Strassenbau und die Organisation der Grenzbewachung (ab 1620 in Zusammenarbeit mit den thurgauischen Militär-Quartieren) zu den Aufgaben des Gerichtsherrenstandes.

 
Allgemeiner Gerichtsherrenvertrag vom 20. Juli 1509

In zahlreichen Eingaben (Memoriale, Beschwerden usw.) an Landvogt und eidgenössische Tagsatzung suchte der Gerichtsherrenstand Einfluss zu gewinnen. Hatte er bei der Tagsatzung keinen Erfolg, sandte der Gerichtsherrenstand Deputationen zu den regierenden Ständen zum Erwerb von Ortstimmen, um damit den Tagsatzungsentscheid rückgängig zu machen. So gelang es dem Gerichtsherrenstand 1626 die beschlossene Einführung eines thurgauischen Landrates zu hintertreiben. Mit der Quartierorganisation führte er jahrzehntelange Auseinandersetzungen über die Höhe der Steuern, die der Gerichtsherrenstand an die Grenzbewachung zu leisten hatte. Ein erster Vergleich 1643 brachte immer wieder Schriftwechsel und Rechtshändel. Erst das Mandat vom 4. Dezember 1691 von Landvogt Johann Ulrich Püntener von Braunberg mit einem neuen Vergleich brachte einige Beruhigung. Nach diesem hatte der Gerichtsherrenstand die Quartiere mit ein Viertel der Auslagen für die militärische Grenzbewachung zu entlasten.

Der Gerichtsherrenstand erscheint vom 16. Jahrhundert bis 1798 nicht als einheitliche und von gleichen Interessen getragene Korporation, da zwischen den weltlichen und geistlichen Gerichtsherren sowie zwischen den Konfessionen Spannungen auftraten. Auch die Steuern (Anlagen) boten Anlass zu ständigen Streitigkeiten. Seit etwa 1620 gab es in der Landgrafschaft Thurgau mit dem Gerichtsherrenstand, der Quartierorganisation und dem eidgenössischen Landvogt drei massgebliche Körperschaften, die bald miteinander, bald gegeneinander in unterschiedlichen Gruppierungen arbeiteten. Auch die personellen Überschneidungen zeigen die abhängige und eigentümliche Position des Gerichtsherrenstandes auf. So war der Obervogt von Weinfelden als Angehöriger des Standes Zürich ein Vertreter der Landeshoheit; er gehörte aber ebenso dem Gerichtsherrenstand an und besass als Quartierhauptmann des Quartiers Weinfelden eine leitende Position in der thurgauischen Quartierorganisation.

Der Untergang Bearbeiten

Der Gerichtsherrenstand hatte seit dem 17. Jahrhundert, nicht zuletzt mit dem Verlust der militärischen Funktion an die Quartierorganisation, seine Bedeutung auf Kosten der Landschaft allmählich verloren. Zwar konnte er seine Privilegien und Rechte gegenüber dem eidgenössischen Landvogt in Frauenfeld wie auch der Landschaft behaupten, doch die beharrende und konservative Haltung des Gerichtsherrenstands im Herrschaftsgefüge der Landgrafschaft Thurgau bewirkte auch dessen zunehmende Erstarrung. Nach 1798 erstand der Gerichtsherrenstand in der Zeit der Reaktion während des Zweiten Koalitionskriegs von Juni bis September 1799 für kurze Zeit wieder. 1804 wurde er endgültig liquidiert.

Das wertvolle Gerichtsherrenstandsarchiv – es galt lange als vermisst – verblieb 1804 beim letzten Landeshauptmann Karl Franz Ignaz von Würz à Rudenz, Obervogt zu Arbon, vererbte sich über seine Nachkommen und kam schliesslich in den Besitz der Familie von Streng. Seit 1999 befindet sich dieses als Dauerleihgabe im Staatsarchiv Thurgau.

Die Rangordnung am Gerichtsherrentag Bearbeiten

 
Karte der Gerichtsherrschaften in der Landvogtei Thurgau in der Mitte des 18. Jh.

(Ende des 18. Jahrhunderts)

Geistliche Bank Bearbeiten

  1. Kloster Reichenau
  2. Fürstabtei St. Gallen
  3. Bistum Konstanz (Domkapitel und Dompropstei)
  4. Kloster Einsiedeln
  5. Kloster Kreuzlingen
  6. Kloster Fischingen
  7. Kloster Muri
  8. Kloster St. Urban
  9. Kloster Rheinau
  10. Kloster Münsterlingen
  11. Johanniter-Kommende Tobel
  12. Kloster Tänikon
  13. Kloster Feldbach
  14. Stift St. Stephan in Konstanz
  15. Stift St. Johann in Konstanz
  16. Stift St. Pelagius in Bischofszell
  17. Obermarchtal
  18. Kloster Zwiefalten

Weltliche Bank Bearbeiten

  1. Zürich
  2. Stadt Konstanz
  3. Stadt St. Gallen
  4. Herrschaft Emmishofen
  5. Hard und Rellingscher Freisitz
  6. Salenstein und Hubberg
  7. Stadt Stein am Rhein
  8. Herrschaft Griesenberg
  9. Herrschaft Berg
  10. Herrschaft Wellenberg und Hüttlingen
  11. Herrschaft Pfyn
  12. Blidegg
  13. Unter- und Oberneunforn
  14. Herrschaft Altenklingen
  15. Gündelhart
  16. Heidelberg
  17. Herrschaft Kefikon
  18. Herrschaft Steinegg
  19. Dettighofen und Schweikhof
  20. Öttlishausen
  21. Zihlschlacht
  22. Thurberg
  23. Herrschaft Oberaach
  24. Hefenhofen und Moos
  25. Stadt Bischofszell
  26. Herrschaft Wittenwil
  27. Freisitz Mammertshofen
  28. Freisitz Arenenberg
  29. Freisitz Bachtobel
  30. Freisitz Wolfsberg
  31. Herrschaft Hauptwil
  32. Mauren (Häberligericht)
  33. Freisitz Neugüttingen
  34. Stadt Steckborn

Funktionäre des Gerichtsherrenstands Bearbeiten

(18. Jahrhundert)

Landeshauptleute Bearbeiten

Landesleutnants Bearbeiten

Landesfähnriche Bearbeiten

Gerichtsherrensekretäre Bearbeiten

Gerichtsherrenstandsarchiv Bearbeiten

  • StATG 0'7 (Staatsarchiv des Kantons Thurgau, Sign. 0'7) Gerichtsherrenstand
  • StATG 0'70'0–29 1504–1804 Urkunden und Akten (erschlossen bis Stufe Dokument)
  • StATG 0'71'0       1707–1759 Generalpatente (erschlossen bis Stufe Dokument)

Literatur Bearbeiten

  • Bruno Giger: Gerichtsherren, Gerichtsherrschaften, Gerichtsherrenstand im Thurgau vom Ausgang des Spätmittelalters bis in die frühe Neuzeit (= Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte. Bd. 130). Historischer Verein des Kantons Thurgau, Frauenfeld 1993, ISBN 3-9520596-0-9, S. 5–216 (Zugleich: Zürich, Universität, Dissertation, 1993).
  • Hermann Lei: Der thurgauische Gerichtsherrenstand im 18. Jahrhundert. Ein Beispiel korporativer Freiheit in einer gemeinen Herrschaft der alten Eidgenossenschaft (= Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte. Bd. 99, 1963, ZDB-ID 505614-7). S. 3–177.
  • André Salathé: Besuch im Museum des Spätmittelalters. Zur Rückkehr des kleinen, aber gewichtigen Archivs des Thurgauischen Gerichtsherrenstandes in den Kanton. In: Thurgauer Zeitung, 3. September 1999.
  • André Salathé: Beständeübersicht. Staatsarchiv des Kantons Thurgau (= Findmittel. Nr. 1). Staatsarchiv des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2005, S. 25, S. 28.

Siehe auch Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten