Hagenbecks Völkerschau der „Feuerländer“ 1881/82

Völkerschau einer Gruppe von elf Kawesqar

Hagenbecks Völkerschau der „Feuerländer“ 1881/82 (auch: „Die Wilden von den Feuerlandsinseln“) war eine Völkerschau (im heutigen Sprachgebrauch auch Menschenzoo) einer Gruppe von elf Kawesqar, die im Sommer 1881 nach Europa verschleppt und ab Ende August zuerst in Paris und anschließend in Berlin, Stuttgart, München, Nürnberg und Zürich zur Schau gestellt wurde. Veranstalter der Schau war Carl Hagenbeck (1844–1913) aus Hamburg, der seit 1875 mit seinen „Völkerausstellungen“ für Aufmerksamkeit sorgte und hunderttausende zahlende Besucher anlockte.

Menschenzoo der „Feuerländer“ im Jardin d’Acclimatation in Paris, Foto von 1881

Die „Feuerländer“ galten im rassistischen Denken des 19. Jahrhunderts als „Urmenschen“ auf der untersten Stufe der „Rassenhierarchie“. Sie wurden als „Wilde“ und „Kannibalen“ stigmatisiert und deshalb besonders abschätzig beschrieben und behandelt.

In Zürich verstarben – verursacht durch die Strapazen der Tournee und Krankheiten – fünf Mitglieder der Gruppe, weshalb die Schau im März 1882 vorzeitig beendet wurde.

Verschleppung nach Europa Bearbeiten

Die Kawesqar waren westlich der Hauptinsel Feuerland beheimatete Wassernomaden. Sie wurden im Zuge der Invasion und Besiedlung des südlichen Chiles seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts fast vollständig ausgerottet. Charles Darwin hatte sie in den 1830er Jahren als „die erbärmlichsten und elendsten Geschöpfe, die ich je irgendwo gesehen habe“ und als „Kannibalen“ bezeichnet.[1]

Carl Hagenbeck versprach sich von der Zurschaustellung der „Urmenschen“ von der Südspitze Südamerikas große Aufmerksamkeit und hohe Besucherzahlen. Unterstützt wurde er dabei vom Anatomen und Anthropologen Rudolf Virchow.[2] Weil die Impresarios der Menschenzoos den Eindruck vermeiden wollten, die Menschen würden gegen ihren Willen zur Schau gestellt, ließ Hagenbeck in der Presse verlauten, Kapitän G. Schweers des Dampfschiffs Theben habe die Gruppe in Südamerika in Seenot gerettet und nach Hamburg gebracht. Tatsächlich hatte Hagenbeck aber seinen Agenten Johan Adrian Jacobsen beauftragt, die Kawesqar in Feuerland zu verschleppen und an Schweers zu übergeben. Hagenbeck handelte außerdem mit dem chilenischen Konsul aus, die Gruppe als Gegenleistung für die „Rettungsfahrt“ ein Jahr in Europa ausstellen zu dürfen.[2] Da niemand die Sprache der Kawesqar übersetzen konnte, hielt er es für ausreichend, dass die Verschleppten ihr Einverständnis durch Zeichensprache gaben, was bereits zeitgenössisch in der Öffentlichkeit als offensichtlicher Entzug der Freiheitsrechte kritisiert wurde.[3]

Die Gruppe der Kawesqar bestand aus vier Frauen, vier Männern und drei Kindern im Alter zwischen drei und vier Jahren. Sie führten keine eigenen, sondern die Namen, die sich Kapitän Schweers auf der Schiffsreise für sie ausgedacht hatte: „Herr und Frau Capitano“, „Henrico“, „Grete“, „Liese“, „Antonio“, „Pedro“ und „Trine“. Zwei der Kinder wurden „Frosch“ und „Dickkopf“ genannt, der Name des dritten Kindes, das in Paris verstarb, ist nicht bekannt. Die verwandtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Gruppe werden in den Quellen ungenau und widersprüchlich angegeben.[4]

Verlauf der Völkerschau Bearbeiten

Paris Bearbeiten

Erste Station der siebenmonatigen Tournee war in Paris der Jardin d’Acclimatation. Die Kawesqar wurden in einem umzäunten Gehege vor einer kargen Kulisse mit einer einfachen Hütte zur Schau gestellt und mit primitiver Kleidung versehen.[5] Die Zahl der Zuschauer zwischen Ende August und Mitte Oktober gab Hagenbeck mit einer halben Million an.[6]

Berlin Bearbeiten

Ende Oktober fuhren die „Feuerländer“ im Güterwaggon nach Berlin[6], um dort im Straußenhaus des Zoologischen Gartens zur Schau gestellt zu werden. Aufgrund des großen Besucherandrangs sind Ausschreitungen überliefert: „Als jedoch um 5 1/2 Uhr sich die Feuerländer in die inneren Gemächer ihres Erdgelasses zurückzogen, nahm der Tumult bedenkliche Dimensionen an. ‚Feuerländer raus!‘, brüllte ein tausendstimmiger Chorus, Bänke und Stühle wurden zerbrochen und erst mit Hülfe requirierter Schutzleute gelang es, die Ruhe wiederherzustellen“.[7]

Der Anatom und Anthropologe Rudolf Virchow nahm in Berlin Untersuchungen an den Kawesqar vor und stellte sie am 14. November 1881 der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte im Saal des Zoologischen Gartens als eine „Rasse“ auf der „untersten Stufe“ sowie als mögliche „Kannibalen“ vor.[8] Während der Versammlung äußerte er den Satz: „Leider fehlt es gar sehr an Feuerland-Schädeln“.[9]

München Bearbeiten

Nach zehntägigem Aufenthalt in Stuttgart kam die Schau Ende Dezember nach München, wo die Kawesqar in einer Schaubude in der Zweibrückenstraße ausgestellt wurden. Sie wurden auch hier bei einer Sitzung der dortigen Akademie der Wissenschaften im Liebig-Hörsaal auf das Podium gestellt, während verschiedene Experten Vorträge hielten. Der Zoologe Friedrich Ratzel ließ sich über die karge Landschaft Patagoniens aus: „Durch solche Zustände wird dann wohl der Kannibalismus erklärlich“.[10] Der an der Erforschung weiblicher Geschlechtsorgane interessierte Anatom Theodor von Bischoff berichtete über die Untersuchung der Frauen: „trat mir in überraschender Weise die Schamhaftigkeit der Individuen und insbesondere der weiblichen, sehr hinderlich entgegen.[11]

Zürich Bearbeiten

Von München reiste die Gruppe weiter nach Nürnberg und kam am 17. Februar 1882 nach Zürich. Der Leiter des privat betriebenen Plattentheaters hatte eine Arena für die Völkerschau aufgebaut, in der „die Fremden sich niederlassen, vor aller Augen ein möglichst natürliches Leben führen“ sollten. Außerdem wollte er „‚die Wilden‘ ab und zu durch die Zuschauerreihen bugsieren, so dass alle im Saal sie von vorn und hinten betrachten und auch berühren könnten“.[12]

Doch die Gruppe der Kawesqar war von den vorherigen Stationen der Tournee von Krankheiten gezeichnet und entkräftet. „Grete“ starb auf dem Weg nach Zürich, und „Henrico“ wurde mit starkem Fieber ins Krankenhaus gebracht. Trotz des Todesfalls wurden die anderen, auch „Gretes“ Kind „Dickkopf“, unverzüglich nach ihrer Ankunft auf die Bühne geschickt. Bei den Gruppenmitgliedern wurden sowohl Tuberkulose, Masern, Lungenentzündungen als auch Syphilis diagnostiziert. „Henrico“ starb am 28. Februar, „Liese“ am 11. März und „Frau Capitano“ und ihr Mann einen Tag später.[13] Die vier Leichen wurden in der Zürcher Anatomie von verschiedenen Professoren seziert. Die präparierten Geschlechtsorgane von „Liese“ wurden zu Professor Theodor von Bischoff nach München verschickt.[14]

Rückreise der Überlebenden Bearbeiten

Nach den Todesfällen brach Hagenbeck die Schau ab und ließ die fünf Überlebenden am 23. März nach Antwerpen bringen, die von dort ihre Rückreise antreten sollten. „Antonio“ starb während der Überfahrt, „Trine“ war bei der Ankunft schwerkrank. Nur „Pedro“ und die beiden Kinder kehrten „leidlich gesund“ in ihre Heimat zurück.[15]

Erst im Januar 1881 waren bei Hagenbecks Völkerschau der „Eskimos“ alle acht Inuit an Pocken gestorben. Nach den erneuten Todesfällen in Zürich schrieb er an Jacobsen: „Es sind mir […] innerhalb dieser letzten 3 Wochen 5 von meinen guten armen Feuerländern gestorben. […] Sie wissen, daß ich ein Menschenfreund bin […] und habe ich jetzt auch noch hin und wieder nicht allzu erfreuliches in den Zeitungen darüber zu lesen so daß ich mir fest vorgenommen habe nie mehr Menschen-Ausstellungen zu arrangieren“.[15] Tatsächlich setzte er die Völkerschauen nur für wenige Monate aus.

Presseberichterstattung Bearbeiten

Den „Feuerländern“ wurde in der Presse große Aufmerksamkeit zuteil. In vielen Artikeln wurden sie als „Kannibalen“ beschrieben, so etwa während ihres Aufenthaltes in Stuttgart: „Die Feuerländer im Allgemeinen stehen auf der allerniedersten Kulturstufe und sind − sagen wir es gleich − von Haus aus und unbestritten Menschenfresser, Darwin sagt: durchaus Teufeln ähnlich.[16]

Häufig wurden ihre Essgewohnheiten thematisiert: „Lisa bediente sich sogar bei der Mahlzeit eines Messers, um das Fleisch von den Knochen zu lösen. Ihr Diner und Souper nehmen sie um 12 und um 5 Uhr, rohe Fleischstücke werden mit einer schwungvollen Handbewegung auf das Kohlenfeuer geworfen, etwas angebraten und dann, halb blutig, halb verbrannt, verzehrt. […] Ob der Eine oder die Andre von ihnen auch schon wirkliches, veritables Menschenfleisch zu sich genommen?“[17]

Schließlich zeigte sich die Schweizer Presse anteilslos über die Todesfälle: „Die armen Feuerländer sind alle krank geworden. Zwei oder drei sind gestorben. Der Unternehmer ist verpflichtet, die Leute wieder in die Heimat zurückzubringen, vielleicht enthebt ihn der Tod der Übrigen von dieser Pflicht“.[18]

Kritik an der Zurschaustellung der Kawesqar gab es selten, wie etwa in diesem Kommentar der Zeitung Der Weinländer vom 4. März 1882: „Die armen Feuerländer! Einer stirbt nach dem andern! Schon liegt die Frau des Einen unter der Erde, der Zweite ist krank, und ein Dritter liegt an Schwindsucht darnieder, alle Kinder sind krank. Und das heißt man Ausstellung! […] Am Traurigsten ist, dass die Gebildeten und die Presse für solchen Menschenhandel noch Reklame machen, ja gefühllos zusehen, wie an Unmündigen – denn das sind diese Wilden – eine langsame, aber sichere Tortur vollzogen wird“.[18]

Rezeption Bearbeiten

Forschungsstand Bearbeiten

Die Völkerschau der „Feuerländer“ hat zuerst Gabriele Eissenberger 1993 in ihrer Magisterarbeit umfassend dargestellt[19], die 1996 unter dem Titel Entführt, verspottet und gestorben – Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos veröffentlicht wurde. Rea Brändle und Anne Dreesbach haben einige Ergänzungen beigetragen.

Rückführung der Skelette Bearbeiten

Auf Betreiben chilenischer Forschender wurden 2010 die Skelette der fünf in Zürich verstorbenen Kawesqar, die im dortigen Anthropologischen Institut lagerten, nach Chile überführt.[20] Die Särge wurden im Januar 2010 in der Heimat der Kawesqar an einem geheim gehaltenen Ort bestattet.[21]

Ausstellung Bearbeiten

2023 gab es in Zürich eine Zusammenarbeit der gemeinnützigen Organisation Fundación Pueblo Kawésqar mit dem Völkerkundemuseum der Universität Zürich.[22] Eine Delegation der Kawesqar konzipierte eine eigene Ausstellung und nahm dabei auch Bezug auf die Völkerschau von 1882.

Dokumentarfilm Bearbeiten

  • Human Zoo. 93 min. Regie: Hans Mülchi, Schweiz 2011.
  • „Die Wilden“ in den Menschenzoos. 92 min. Regie: Bruno Victor-Pujebet, Pascal Blanchard, Frankreich 2017.

Literatur Bearbeiten

  • Rea Brändle: Wildfremd, hautnah. Völkerschauen und ihre Schauplätze in Zürich 1880–1960. Rotpunktverlag, Zürich 1995, ISBN 3-85869-120-8.
  • Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37732-2.
  • Gabriele Eissenberger: Entführt, verspottet und gestorben – Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos. Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-88939-185-0.

Weblinks Bearbeiten

Commons: Völkerschau – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Feuerländer in Berlin – Quellen und Volltexte

Online-Beiträge Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Eissenberger, 1996, S. 35 f.
  2. a b Eissenberger, 1996, S. 145–149.
  3. Eissenberger, 1996, S. 172 f.
  4. Eissenberger, 1996, S. 145.
  5. Dreesbach, 2005, S. 162.
  6. a b Eissenberger, 1996, S. 149.
  7. Eissenberger, 1996, S. 153.
  8. Eissenberger, 1996, S. 155 ff.
  9. Eissenberger, 1996, S. 185.
  10. Dreesbach, 2005, S. 297.
  11. Eissenberger, 1996, S. 160.
  12. Brändle, 1995, S. 7 f.
  13. Eissenberger, 1996, S. 166 f.
  14. Eissenberger, 1996, S. 164.
  15. a b Eissenberger, 1996, S. 170.
  16. Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg, 3. Dezember 1882.
  17. Dreesbach, 2005, S. 161.
  18. a b Brändle, 1995, S. 19 f.
  19. Gabriele Eissenberger: „Leider fehlt es gar sehr an Feuerland-Schädeln“. Lateinamerikanische Völkerschauen in Deutschland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Magisterarbeit, Berlin 1993.
  20. Renner, 2010.
  21. Burghardt, 2010.
  22. Scherrer, 2023.