Die kleine Meerjungfrau (Märchen)

Kunstmärchen von Hans Christian Andersen (1837)

Die kleine Meerjungfrau (dänisch Den lille Havfrue) ist ein Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen von 1837. Es basiert auf der Sage der Undine.

Erste Illustration von Vilhelm Pedersen (1849)
Illustration von Bertall (1856)
Illustration von Anne Anderson (1920er Jahre)

Die kleine Meerjungfrau ist die jüngste und anmutigste der sechs Töchter des Meerkönigs. Sie hat, wie alle Meermenschen, keine Füße, sondern einen Fischschwanz. Sie besitzt als einzige die Marmorstatue eines Jünglings, welche im Meer versunken ist. Durch Erzählungen von der Oberfläche („Die Blumen duften und die Fische [= Vögel] singen wunderbar“) weckt ihre Großmutter weiter die Sehnsucht nach der Menschenwelt. Mit fünfzehn Jahren dürfen die Töchter nachts hinauf und am Strand liegen – die älteren Schwestern erzählen ihr Wunderdinge von der lärmenden beleuchteten Stadt, den Vögeln, dem Sonnenuntergang, Kindern und Eisbergen. Als sie endlich selbst das Alter erreicht, steigt sie empor und beobachtet die Matrosen auf einem Schiff – am besten gefällt ihr aber der Prinz mit den dunklen Augen, der gerade seinen sechzehnten Geburtstag feiert. Als das Schiff wegen eines Sturms sinkt, erinnert sich die Meerjungfrau, dass Menschen nur tot auf den Meeresgrund gelangen können, und bringt den Prinzen an den Strand.

Sie beobachtet, wie ein Mädchen ihn findet, und ist traurig, dass sie sich anlächeln – der Prinz weiß schließlich nicht, wer ihn gerettet hat. Die Meerjungfrau findet heraus, wo das Schloss steht, und besucht die Gegend immer wieder. Sie erfährt, dass die Meermenschen im Gegensatz zu den normalen Menschen keine Seele besitzen, die nach ihrem Tod in die Luft aufsteigt – die einzige Möglichkeit, eine solche zu erlangen, ist, von einem Menschen geliebt zu werden. So begibt sie sich zur Meerhexe, die sie bisher stets fürchtete, und lässt sich einen Trunk brauen, der ihr Beine wachsen lässt statt ihres Fischschwanzes. Die Verwandlung ist jedoch unumkehrbar – sie wird nie wieder zu ihrem Vater und ihren Schwestern zurückkehren können. Falls sich der Prinz nicht in sie verliebt, bekommt sie keine unsterbliche Seele und wird zu Schaum auf dem Meere werden. Außerdem muss sie ihre Stimme hergeben. Stumm trifft sie also den Prinzen und wird von ihm in sein Schloss geführt.

Dort bleibt sie bei ihm, aber der Prinz liebt nur das unbekannte Mädchen, das er am Strand sah und für seine Retterin hält. Später stellt sich heraus, dass dieses Mädchen die Prinzessin des Nachbarkönigreichs ist, und der Prinz heiratet sie. Da der erste Sonnenstrahl nach seiner Hochzeitsnacht der kleinen Meerjungfrau den Tod bringen soll, geben ihre Schwestern ihr den Rat, den Prinzen zu töten: Das würde sie wieder in ein Meerwesen verwandeln und sie retten. Sie bringt es aber nicht fertig, springt ins Wasser und löst sich in Schaum auf. Dabei stirbt sie jedoch nicht, sondern verwandelt sich in einen Luftgeist. Damit hat sie die Möglichkeit, durch gute Handlungen eine unsterbliche Seele zu erlangen und so an dem „ewigen Glück der Menschen“ teilzuhaben.

Interpretation

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Meerjungfrauen tauchen als Naturgeister und mythische Wasserwesen auch in vielen Volksmärchen auf, insbesondere in den keltischen Märchen, die auch Andersen gekannt hat. Wie in dem Märchen von der kleinen Meerjungfrau sind die weiblichen Wasserwesen auch in den Volksmärchen häufig mit der unglücklichen Liebe zwischen Menschen und den verführerisch-schönen Bewohnerinnen des Meeres, der Seen und Flüsse verbunden. Meerjungfrauen sind von unvergleichlicher Schönheit, haben magische Kräfte und sind unsterblich, es sei denn, sie lassen sich auf eine Verbindung zu einem Menschen ein, die aber, wie in diesem Märchen, (fast) nie dauerhaft gelingt.[1][2]

Brigitte Engel versteht das Märchen vor dem Hintergrund der Tiefenpsychologie C. G. Jungs als eine Erzählung, in der es um die Individuation gehe. Sie thematisiere die Bedeutung von Opfer, Wandlung und Wiedergeburt zur Selbstverwirklichung. Der Entwicklungsgang verlaufe dabei über die Stufen des Wassers, der Erde, der Luft bis hin ins Jenseits als das höchste Ziel des Selbst.[3]

Ebenfalls aus psychoanalytischer Sicht interpretiert Eugen Drewermann das Märchen als ein Missglücken der gegenseitigen Erlösung in der Liebe.[4]

Nach Werner Spies tauche der Leser bei der kleinen Meerjungfrau mit den Leiden, die das Mädchen um der Menschwerdung willen auf sich nimmt, in ein beklemmendes Geschehen ein. Der Leser wehre sich gegen die Irrealität und werde doch von den glaubhaft geschilderten Bildern der Unterwasserwelt eingenommen. Die Nixe hebe die Gesetze der Welt auf, um den fernen Prinzen vor dem Ertrinken zu retten und weil man dem Kind von der unsterblichen Seele der Menschen erzählt habe. Schließlich löse sich alles in Schaum auf, doch anstelle von Tod und Vergessen werde ein unausrottbarer Schmerz für den Rest des Lebens installiert.[5]

Schon früh wurde das Märchen autobiografisch mit der vermuteten unglücklichen Homosexualität Andersens in Verbindung gebracht. Auch mehrere Literaturwissenschaftler haben sich dieser Sichtweise angenommen. Als heimlicher Geliebter Andersens wird Edvard Collins angenommen, vor dessen Hochzeit er geflohen war, als er das Märchen verfasst hatte. Setzt man dies voraus, so kann man folgende Interpretation wagen: Sowohl im Märchen als auch in der Realität war es unmöglich, dem Traumprinzen die Liebe zu gestehen. Im Märchen, weil die Stimme genommen wurde, in der Realität wegen der Tabuisierung der Homosexualität. Sowohl im Märchen als auch in der Realität vermählte sich der Angebetete mit jemand Anderem. Laut Hans Mayer handele das Märchen damit von einer Liebe, die nicht erwidert werden kann, weil sie sich nicht zu erkennen geben kann. Die ungestandene und unerwiderte Liebe erscheint aber gerade deshalb gerecht vor Gott, weshalb die Protagonistin ewiges Heil erlangt.[6] Auch in Heinrich Deterings Buch über die literarische Produktivität des Verbotenen dient Andersens Kleine Seejungfrau als eine von mehreren Fallstudien, wie Autoren das Tabu der eigenen Homosexualität literarisch umsetzen.[7]

Rezeptionen

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Literatur

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Oscar Wilde wurde durch Die kleine Meerjungfrau von Andersen zu seinem Nixenmärchen inspiriert: Der Fischer und seine Seele in der Sammlung Ein Granatapfelhaus (A House of Pomegranates) von Wilde 1891 veröffentlicht. Neben Oscar Wilde gibt es auch noch bemerkenswerte literarische Weiterführungen von Andersens Die kleine Meerjungfrau: Gerhart Hauptmann: Die versunkene Glocke, Gerhart Hauptmann: Das Meerwunder, Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Die Sirene, um nur einige zu nennen. Alexander Sergejewitsch Puschkin verfasste nach slawischen Sagenmotiven von Nixen eine Rusalka, die leider Fragment blieb. Der russische Komponist Alexander Dargomyschski verfasste auf der Basis von Puschkins Werk eine gleichnamige Oper, die 1856 in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde. Zwischen dieser Rusalka und Andersens kleiner Meerjungfrau gibt es auch Mischformen: Ein Beispiel ist das Seemädchenbild in Antonín Dvořáks Oper Rusalka nach dem Libretto von Jaroslav Kvapil.

  • Eugen d’Albert: Seejungfräulein. Op. 15 (1897)
  • Antonín Dvořák: Rusalka. Op. 114 (1900)
  • Alexander von Zemlinsky: Die Seejungfrau. Fantasie für Orchester (1902/03; UA Wien 1905)
  • Germaine Tailleferre: La Petite Siréne. Oper in drei Akten nach der Librettofassung des Andersen-Stoffs von Philippe Soupault von 1957
  • Lera Auerbach: The Little Mermaid. Ballett von 2004/2007
  • Lior Navok: Die kleine Meerjungfrau für Erzähler und Kammerensemble / Orchester 2006
  • EXO (südkoreanische boy-group): Thematisieren in ihrem song Baby don’t cry aus ihrem Album XOXO (2013) das dänische Märchen der kleinen Meerjungfrau.
  • Corvus Corax: Havfru im Album Sverker (2011)
  • Akos Hoffmann: Die kleine Meerjungfrau. Musikmärchen nach dem Text von Hans Christian Andersen.
  • FoLLoW (japanische Band): Der Song Ningyohime (人魚姫) aus dem Album Yougenkyou – West – Vol. 3 – Survive as an Innovator (2016) ist von der kleinen Meerjungfrau inspiriert.
  • Bijan Azadian: Die kleine Meerjungfrau. Varieté-Musical (UA: 2017 Wintergarten Varieté Berlin)
  • Jherek Bischoff, Andersens Erzählungen. Schauspieloper (UA: Theater Basel 27. September 2019)

Bildende Kunst

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Die Skulptur der Kleinen Meerjungfrau im Hafen von Kopenhagen
 
Paul Gauguin: Undine (1889)

Verfilmungen

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Es gibt viele filmische Bearbeitungen dieses Stoffes, zum Beispiel:

Hörspiele

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Vergleiche

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  • 14. Jahrhundert: Sage vom Stauffenberger. Elbin, die in einen menschlichen Mann verliebt ist.[11] Der Ritter Stauffenberg wächst mit der Elbin auf, bis sie seine Geliebte wird. Sie stellt die Bedingung, dass er nie heiraten darf. Er verschmäht sogar die Nichte des Königs, gerät aber dann in gesellschaftlichen Druck. Drei Tage nach der Hochzeit stirbt er.
  • 19. Jahrhundert: Friedrich de la Motte Fouqué schrieb die Erzählung Undine. Auch in dieser Erzählung heiratet eine Wasserfrau einen Menschen, nämlich den Ritter Huldbrand. Sie erzählt mit bunten und rührenden Worten über ihre Wasserwelt und warnt Huldbrand, dass ihre Leute ihn töten würden, wenn er ihr untreu würde. Obwohl das geschieht, versucht sie, ihn zu schützen, aber vergeblich.
  • 20. Jahrhundert: Peter Huchel schrieb ein Naturgedicht über Undine, das in der Diktion an Friedrich de la Motte Fouqué erinnert.
  • 20. Jahrhundert Undine geht von Ingeborg Bachmann schildert moderne Eheprobleme anhand der Undine, die symbolisch für die Frau schlechthin steht. Der Mann erscheint in vielerlei Gestalten.

Literatur

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Siehe auch

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Commons: Die kleine Meerjungfrau – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Den lille Havfrue – Quellen und Volltexte (dänisch)
  1. Petzoldt, Leander: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. Beck-Verlag, München 2015. ISBN 978-3-406-66928-6.
  2. Sabine Lutkat (Hrsg.): Feen-Märchen zum Erzählen und Vorlesen. Königsfurt-Urania-Verlag, Kurmmwisch bei Kiel, 2007. ISBN 978-3-89875-191-9.
  3. Brigitte Engel: Wandlungssymbolik in Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 1988/10, S. 374–378. ISSN 0032-7034.
  4. Eugen Drewermann: Und gäbe dir eine Seele … Hans Christian Andersens Kleine Meerjungfrau tiefenpsychologisch gedeutet. Herder-Verlag, Freiburg/Basel/Wien 1997.
  5. Werner Spies: Ophelia-Zustand: „Die kleine Meerjungfrau“. Frankfurter Allgemeine vom 12. Dezember 2005. Abgerufen am 12. September 2020.
  6. Hans Mayer: Außenseiter. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 226 f.
  7. Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Wallstein, Göttingen 1994, S. 175–232.
  8. Edvard Munch: Das Seemädchen@1@2Vorlage:Toter Link/northstargallery.com (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im November 2024. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  9. Illustration zu „Die Kleine Seejungfrau“ von Heinrich Lefler und Joseph Urban. spiritoftheages.com, abgerufen am 31. Oktober 2010 (englisch, Referenzseite).
  10. Ein Bild aus den Meerjungfrauillustrationen von Wülfing@1@2Vorlage:Toter Link/www.artpassions.net (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im November 2024. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  11. Die Staufenberg-Sage, abgerufen am 18. April 2014