Nitazene sind eine chemisch definierte Stoffgruppe, die sich von der Stammverbindung Nitazen ableitet. Die Nitazene wurden in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre von der Schweizer Ciba AG als schmerzstillende Wirkstoffe entwickelt. Von Bedeutung sind sie als zentralnervös wirksame, selektive μ-Opioidrezeptor-Agonisten. Die hohe Potenz von Fentanyl (im Menschen) wird von wenigen Nitazenen erreicht, von Etonitazen und Isotonitazen übertroffen. Aufgrund eines ungünstigen Wirkungs-Nebenwirkungsverhältnisses wurden Nitazene nie in den Arzneischatz der Human- oder Veterinärmedizin aufgenommen. Seit dem Jahr 2019 haben hochwirksame Nitazene als neue synthetische Opioide am nordamerikanischen und europäischen Rauschmittelmarkt Verbreitung gefunden und sind als solche eine prägende Komponente der Post-Fentanylderivat-Ära der Opioidkrise in den Vereinigten Staaten. Überdosierungen von Nitazen-Opioiden führten zu mehreren hundert dokumentierten Todesfällen. Die Stoffgruppe wurde im Jahr 2021 in das deutsche Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz aufgenommen. Ein Bezug zur Stoffgruppe der Azene existiert abseits der Namensähnlichkeit nicht.

Geschichte

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Mitte der 1950er Jahre entdeckte die pharmazeutische Forschungsabteilung der Ciba AG die mäßig analgetische Wirkung von 1-(β-Diethylamino-ethyl)-2-benzyl-benzimidazol (Desnitazen).[1] Durch systematische Derivatisierung dieses Grundkörpers im Rahmen der Untersuchung von Struktur-Wirkungsbeziehungen fand man eine Wirkungsverstärkung durch Nitrierung der 5-Stellung. 4‘-Methoxylierte und ethoxylierte Verbindungen erzielten im Heizplattentest Potenzen, die bis dahin unerreicht waren.[2] Das so entdeckte Etonitazen ist das bis heute potenteste bekannte Nitazen-Opioid. Der morphinartige Wirkmechanismus erhellte aus der Antagonisierbarkeit der Analgesie mit Allylnormorphin. Zwei Nitazene (Etonitazen und Clonitazen) wurden an 363 Patienten humanklinisch untersucht und die Ergebnisse 1958 veröffentlicht.[3] Dabei wurde Clonitazen als nebenwirkungsarm beschrieben. Über Anstrengungen, dieses günstige Ergebnis zu reproduzieren und Clonitazen als Arzneistoff zu lancieren, wurde nichts bekannt. Ansonsten fielen die Nitazene durch eine geringe therapeutische Breite auf, die der Vermarktbarkeit als Arzneistoff entgegensteht. Etonitazen und Clonitazen wurden im Jahr 1961 dem deutschen Opiumgesetz unterstellt.[4] Der März 2019 markiert den Beginn der Verbreitung von Nitazen-Opioiden in der Drogenszene. Isotonitazen war der erster Vertreter der Stoffgruppe, der im Darknet zum Kauf angeboten und bei Todesfällen in der Schweiz und in Kanada forensisch nachgewiesen wurde.

Struktur

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Allgemeine chemische Struktur von Nitazenen
Blau: Nitrogruppe
Rot: Diethylaminoethylgruppe
Grün: Benzylgruppe

Nitazene sind Benzimidazole, die am Stickstoff der 1-Position mit einer Diethylaminoethylgruppe substituiert sind, in der 2-Position mit einer Benzylgruppe und in der 5-Position mit einer Nitrogruppe.[5] In 6-Stellung nitrierte Verbindungen sind schwächer, die 4- oder 7-Stellungsisomere nicht analgetisch wirksam. Analgetisch wirksame Nitazene sind darüber hinaus oft in para-Stellung der Benzylgruppe substituiert, seltener in meta-Stellung. Am Methylenbindeglied wird stereospezifisch eine Methyl- oder eine Amidogruppe vom Zielrezeptor toleriert.[6][7] Gelegentlich werden in medizinisch-toxikologischen Fachveröffentlichungen informell auch solche Stoffe den Nitazenen zugerechnet, die nicht den Definitionmaßstab erfüllen.[Anm. 1] Nitazene haben keine strukturelle Verwandtschaft mit anderen bekannten Opioiden.

Pharmakologie

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Metabolisierung

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Die Metabolisierung der Nitazene ist speziesabhängig. Im Menschen sind die Hauptabbauwege die N-Deethylierung und, in Fällen von 4'-Ethern, die O-Dealkylierung. Die 4'-Hydroxyverbindungen werden aufgrund höherer Hydrophilie schneller über den Harn eliminiert und sind überwiegend im Urin nachweisbar.[8] In die N-Deethylierung dürften CYP3A4 bzw. CYP2C8 einbezogen sein.[9] Die Reduktion der Nitrogruppe erfolgt extrahepatisch, wahrscheinlich über Bakterien der Darmflora. Konjugate werden als diverse O-Glucuronide ausgeschieden. Das N3-Oxid ist im Menschen ein Nebenmetabolit. Als forensische Biomarker dienen im Urin die 4'-Hydroxyverbindungen, im Blut die N-Deethylverbindungen.[8]

Rechtslage

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Die Nitazene fallen in Deutschland seit 2021 unter das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG).[5][10] Einige einzelne Vertreter sind betäubungsmittelrechtlich geregelt (Anlage I [nicht verkehrsfähig] oder Anlage II [verkehrs- aber nicht verschreibungsfähig]).[11]

Literatur

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Anmerkungen

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  1. Beispiel: Nitazepyne werden gelegentlich als Pyrrolidinonitazene fehlbezeichnet. Sie gehören zu den Benzimidazolderivaten, nicht zu den Nitazenen.

Einzelnachweise

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  1. Hunger A, Kebrle J, Rossi A, Hoffmann K: Synthese basisch substituierter, analgetisch wirksamer Benzimidazol-Derivate. In: Experientia. 13. Jahrgang, Nr. 10, 1957, S. 400–1, doi:10.1007/BF02161116, PMID 13473817.
  2. Gross F, Turrian H: Über Benzimidazolderivate mit starker analgetischer Wirkung. In: Experientia. 13. Jahrgang, Nr. 10, 1957, S. 401–3, doi:10.1007/BF02161117, PMID 13473818.
  3. Bromig G: Über neue starkwirkende Analgetika und ihre klinische Erprobung. In: Klin Wochenschr. 36. Jahrgang, Nr. 20, Oktober 1958, S. 960–3, doi:10.1007/BF01486702, PMID 13612082.
  4. Bundesgesetzblatt Oktober 1961
  5. a b Eintrag zu Nitazen. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 29. Juni 2024.
  6. Hunger A, Kebrle J, Rossi A, Hoffmann K: Benzimidazol-Derivate und verwandte Heterocyclen III. Synthese von 1-Aminoalkyl-2-nenzyl-nitro-benzimidazolen. In: Helvetica Chimica Acta. 43. Jahrgang, Nr. 4, 1960, S. 1032-46, doi:10.1002/hlca.19600430412.
  7. Hunger A, Kebrle J, Rossi A, Hoffmann K: Benzimidazol-Derivate und verwandte Heterocyclen VI. Synthese von Phenyl-[1-aminoalkyl-benzimidazolyl-(2)]-essigsäure-estern und -amiden. In: Helvetica Chimica Acta. 43. Jahrgang, Nr. 6, 1960, S. 1727-33, doi:10.1002/hlca.19600430634.
  8. a b Taoussi O, Berardinelli D, Zaami S, Tavoletta F, Basile G, Kronstrand R, Auwärter V, Busardò FP, Carlier J: Human metabolism of four synthetic benzimidazole opioids: isotonitazene, metonitazene, etodesnitazene, and metodesnitazene. In: Arch Toxicol. 98. Jahrgang, Nr. 7, 2024, S. 2101–2116, doi:10.1007/s00204-024-03735-0, PMID 38582802, PMC 11169013 (freier Volltext).
  9. Kanamori T, Okada Y, Segawa H, Yamamuro T, Kuwayama K, Tsujikawa K, Iwata YT: Metabolism of highly potent synthetic opioid nitazene analogs: N-ethyl-N-(1-glucuronyloxyethyl) metabolite formation and degradation to N-desethyl metabolites during enzymatic hydrolysis. In: Drug Test Anal. 2024, doi:10.1002/dta.3705, PMID 38679851.
  10. Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz. Anlage Nr. 7. Bundesministerium der Justiz, abgerufen am 29. Juni 2024.
  11. BtMG - nichtamtliches Inhaltsverzeichnis. In: gesetze-im-internet.de. Abgerufen am 3. Juli 2024.