Die Erneuerungstheorie (engl. renewal theory) ist ein Spezialgebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie und befasst sich mit Prozessen, die sich nach jedem Erreichen des Ausgangszustandes wieder so verhalten wie beim Start des Experiments.

Motivation Bearbeiten

Ein motivierendes Beispiel ist die regelmäßige Erneuerung der für den Betrieb einer Leuchte verwendeten Glühlampe, die nach jedem Ausfall zu ersetzen ist. Die Lebensdauer einer Glühlampe wird durch eine Zufallsvariable beschrieben, deren Verteilung für alle in Frage kommenden Glühlampen gleich ist, also eine bekannte, charakteristische Eigenschaft darstellt. Ferner wird angenommen, dass diese Lebensdauern voneinander unabhängig sind. Es ist nun von Interesse, wie häufig die Glühlampe durchschnittlich auszuwechseln ist; das heißt, man fragt, wie viele Erneuerungen bis zu einer vorgegebenen Betriebszeit vorzunehmen sind.

Sehr ähnliche Aufgabenstellungen erhält man für allgemeinere Wartungsarbeiten oder für Bedienzeiten von Kunden, die nach einer vorgegebenen Verteilung an einer Abfertigungsstelle erscheinen und dort eine Warteschlange bilden. Hier liefert die Erneuerungstheorie Hinweise für optimale Wartungsintervalle oder optimale Personalvorhaltung an Servicestellen. Versteht man das Eintreten eines Wartungsfalls als Schadensfall, so wird sofort verständlich, dass die Erneuerungstheorie auch in der Versicherungsmathematik von Bedeutung ist.

Definition Bearbeiten

 
Bei jeder Erneuerungszeit   springt   um mindestens eine Einheit.

Ein Erneuerungsprozess wird durch eine Folge   von unabhängigen, identisch verteilten nicht-negativen Zufallsgrößen mit   gegeben, wobei   die Wahrscheinlichkeit auf dem zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeitsraum sei.

 

heißt  -te Erneuerungszeit, wobei zusätzlich   die konstante Funktion 0 sei. Die Folge   heißt Erneuerungsfolge, ein Intervall   heißt Erneuerungszyklus und hat definitionsgemäß die Länge  , die man daher auch Zykluszeit nennt. Schließlich setzt man für  

 ,

die Anzahl aller  , für die die  -te Erneuerungszeit den Zeitpunkt   noch nicht überschritten hat. Der so definierte stochastische Prozess   heißt der Erneuerungsprozess.

Bemerkungen Bearbeiten

Interpretation der Definition Bearbeiten

Diese Definitionen werden anhand obigen Glühlampenbeispiels sofort verständlich.   modelliert die Betriebsdauer der  -ten Glühlampe,   ist die durch   Glühlampen hintereinander erbrachte Gesamtleuchtdauer,   schließlich ist die Anzahl der bis zum Zeitpunkt   erforderlichen Glühlampenwechsel. Die Bedingung   stellt sicher, dass eine neu eingesetzte Glühlampe nicht mit Sicherheit sofort wieder ausfällt; nur dann ist die zeitliche Betrachtung regelmäßiger Erneuerungen sinnvoll. Ähnliche Interpretationen für Wartungsarbeiten, Serviceleistungen oder Schadensfälle sind naheliegend.

Verzögerter Erneuerungsprozess Bearbeiten

Eine häufig verwendete Variante ist der sogenannte verzögerte Erneuerungsprozess, bei dem die Verteilung von   von der gemeinsamen Verteilung der übrigen  , abweichen darf. Dies wird erforderlich, wenn man die Ausgangssituation nicht kennt und daher über   eine andere Annahme treffen muss, oder wenn, etwa im Falle von Wartungsarbeiten, die Originalbauteile andere sind als die regelmäßig auszutauschenden Ersatzteile. Der eigentliche Erneuerungsprozess beginnt also erst nach  , was die Bezeichnung als verzögerten Erneuerungsprozess erklärt.

Auszahlungsprozess Bearbeiten

In der Regel sind mit dem Eintreten einer jeden Erneuerungszeit Auszahlungen, die im Kostenfall auch negativ sein können, verbunden. Daher betrachtet man zu den in obiger Definition gegebenen Daten noch eine Folge   unabhängiger und identisch verteilter Zufallsvariablen, die für die Auszahlungen zum n-ten Erneuerungszeitpunkt   stehen. Die Gesamtauszahlung bis zum Zeitpunkt   ist dann

 .

Der stochastische Prozess   heißt der zum Erneuerungsprozess gehörige Auszahlungsprozess.

In vielen Anwendungen geht es darum, die mit diesem Auszahlungsprozess verknüpften Daten zu optimieren. In einer hier nicht näher betrachteten Variante kann   durch eine sich während des  -ten Erneuerungszyklus entwickelnde Funktion ersetzt werden, so dass obiges   die während des Zyklus kumulierte Auszahlung ist. Dadurch können die zu den Erneuerungszeiten auftretenden Sprünge vermieden werden.

Grundlagen Bearbeiten

Es liege ein wie oben beschriebener Erneuerungsprozess vor,   sei die Verteilungsfunktion der Zykluszeiten  . Die durchschnittliche Zykluszeit   ist positiv, da sonst   fast sicher 0 wäre, was der Voraussetzung   widerspräche. Für den Erwartungswert des Erneuerungsprozesses gilt

 ,

wobei   die n-fache Faltung mit sich sei. Man nennt   in naheliegender Weise die Mittelwertsfunktion des Erneuerungsprozesses. Unter Verwendung der Bedingung   kann man zeigen, dass   endlich und daher   fast überall endlich ist. Daraus ergibt sich weiter das für einen sinnvollen Erneuerungsprozess erwartete Grenzwertverhalten

  fast sicher für  
  fast sicher für  .

Über das Wachstum von   kann man eine viel genauere Aussage treffen:

  fast sicher für  .

Diese Aussage gilt auch unter dem Erwartungswert, das heißt

  fast sicher für  ,

was auch als einfaches Erneuerungstheorem bekannt ist. Dies bestätigt die Intuition, dass die langfristig erwartete Anzahl der Erneuerungen pro Zeit mit dem Kehrwert der zu erwartenden Dauer zwischen zwei Erneuerungen übereinstimmt. Entsprechende Resultate hat man für den zugehörigen Auszahlungsprozess:

  fast sicher für  ,

das heißt im langfristigen Mittel ist die Auszahlung pro Zeit gleich der mittleren Auszahlung eines Erneuerungszyklus geteilt durch die mittlere Zykluslänge.

Der Poissonprozess als Erneuerungsprozess Bearbeiten

Der einfachste Fall liegt vor, wenn die   exponentialverteilt mit einem Parameter   sind. Dann ist   ein Poissonprozess zum Parameter  , d. h.   ist Poisson-verteilt zum Parameter  . In diesem Fall ist daher   und das Erneuerungstheorem wird trivial, denn für die mittlere Zykluszeit gilt  , da dies der Erwartungswert einer Exponentialverteilung ist.

Anwendung Bearbeiten

Zur Veranschaulichung der oben eingeführten Begriffe betrachten wir folgende Strategie für das Auswechseln von Glühlampen, deren zufällige Lebensdauern durch unabhängige und identisch verteilte Zufallsvariable   mit Verteilungsfunktion   gegeben seien. Wir wechseln spätestens nach einer noch zu bestimmenden Zeit  , was zu Kosten in Höhe von   führt, und nur dann früher, wenn die Glühlampe tatsächlich ausfällt, was neben   zusätzliche Kosten in Höhe von   verursacht. Der Erneuerungszyklus hat daher die zufällige Länge

 .

Zum  -ten Erneuerungszeitpunkt hat man dann Kosten   mit Erwartungswert

 .

Die durchschnittliche Zykluszeit ist

 .

Langfristig entstehen daher Kosten pro Zeit in Höhe von

 .

Zur Bestimmung des optimalen Wechselintervalls   bei bekannten Kosten   und   sowie bekannter Verteilungsfunktion   muss man die Minimalstelle dieses Ausdrucks in Abhängigkeit von   bestimmen. Das ist besonders einfach, wenn   eine stetige Dichte hat, denn dann sind   und das Integral als Funktion der oberen Grenze differenzierbar, das heißt, es können die Optimierungsmethoden der Analysis verwendet werden.

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • Ming Liao: Applied Stochastic Processes, CRC Press 2013, ISBN 1-4665-8933-7, Kapitel 3: Renewal Processes