A. Motard & Co.

ehemaliger Hersteller von Stearinkerzen und anderen chemischen Produkten in Berlin

A. Motard & Co. war ein Berliner Unternehmen, das bis 1979 Stearinkerzen und andere chemische Produkte herstellte. Gegründet wurde es um 1839 von dem Franzosen Adolphe Motard, der es 1882 an seinen Sohn Charles Eugène vererbte. Nachdem dieser eine Umsiedlung und Erweiterung der Produktionsstätte vorgenommen hatte, beschäftigte A. Motard & Co. über 400 Personen. 1923 erfolgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, 1937 die Übernahme durch einen Chemiekonzern und die Weiterführung als Scheidemandel-Motard-Werke AG. 1979 erwarb die spätere Gelita die Mehrheit der Anteile und stellte die Stearinkerzenproduktion 1980 ein.

Werbeplakat für Motard Kerzen (um 1910)

Vorgeschichte

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Der Arzt und Hygieniker Adolphe Motard (1804–1882) hatte 1831 zusammen mit dem befreundeten Mediziner Adolphe de Milly in Paris in der Nähe der Place de l’Étoile eine kleine Kerzenfabrik gegründet. Ihr Ziel war es, die Entwicklung der Stearinkerze voranzutreiben und damit die Vorteile der traditionellen Kerzenrohstoffe zu vereinen: die niedrigen Kosten von Talg und das tropffreie Verbrennen von Bienenwachs. Das auf zehn Jahre befristete Patent vom 10. Dezember 1831 auf die Verseifung mit Kalk lief auf beider Namen.[1] Für ihre bougie de l’Étoile erhielten sie 1833 von der Gesellschaft zur Förderung der nationalen Industrie (Société d’Encouragement pour l’industrie nationale) eine Silbermedaille.[2] Die alleinige Erwähnung de Millys bei der Industrieausstellung von 1834[3] deutet darauf hin, dass Motard das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hatte. Einige Jahre später übersiedelte er nach Berlin, wo die Stearinkerzenproduktion noch in den Kinderschuhen steckte.

Standort Hallesches Tor

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Honigbiene als Motard Bildmarke

Die Angaben zum Gründungsjahr variieren zwischen 1838 und 1841. Da Motard in den Berliner Adressbüchern erstmals 1839 geführt wird, ist dies womöglich das Jahr der Gründung seiner „künstl. Wachslicht-Fabrik“ A. Motard & Co. mit Adresse Brüderstraße 15. Seinen Wohnsitz und seine Fabrik richtete er in der neuen Straße Vor dem Halleschen Thore, d. h. außerhalb der Berliner Zoll- und Akzisemauer und in direkter Nachbarschaft der Friedhöfe vor dem Halleschen Tor im heutigen Stadtteil Kreuzberg ein. Das Adressbuch von 1841 verzeichnet Dr. med. Motard als Eigentümer der Fabrik, das Haus in der Brüderstraße als Firmenadresse und Handlung. Diese Trennung blieb bis ca. 1864 bestehen, wenngleich ein zweifacher Umzug innerhalb der Brüderstraße (Nr. 25 ab 1843/1844 und Nr. 11 ab 1852/1853) und 1852 eine Umbenennung der Straße am Halleschen Tor in Hellweg erfolgte.[4]

Die ersten fünfzehn Jahre erwiesen sich als schwierig. Ab 1844 konnte sich das Unternehmen zwar mit einer auf der Allgemeinen Deutschen Gewerbe-Ausstellung errungenen Silbernen Preismedaille[5] schmücken, zu einem nennenswerten Erfolg führten jedoch erst die Einführung des Destillationsverfahrens im Jahr 1853 und die Verwertung diverser Nebenprodukte.[6][7] 1879 sorgten „gegen 200“ Beschäftigte für eine Tagesproduktion von 150.000 Kerzen.[8]

Die Berliner Adressbücher lassen den Schluss zu, dass er sich Adolphe Motard von etwa 1859 bis 1863 in Frankreich aufhielt, wo er 1860 ein hygienemedizinisches Werk veröffentlichte. Wieder in Berlin, stieg Motards Sohn Charles Eugène (1840–ca. 1925) ins Geschäft mit ein. Im Rahmen einer kommunalen Straßenumbildung lautete die Adresse des Unternehmens ab Oktober 1868 Gitschinerstraße 15.[9] Nach einem Fabrikbrand im Dezember 1873 wurde Motard zu einer Entschädigungszahlung von ca. 9.800 Talern verpflichtet[10] und ihm „wegen der Feuergefährlichkeit und Belästigung der Bewohner“ die Erlaubnis zum Wiederaufbau verwehrt.[11] Eine Verlagerung der Fabrikationsstätte kam anscheinend zunächst einmal nicht in Betracht.

Standort Sternfeld

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Paulstern und Sternfeld bei Spandau (1901)
 

Nach dem Tod des wieder in die Heimat zurückgekehrten Fabrikbesitzers am 8. Februar 1882 bahnten sich Veränderungen an. Das Immobilieneigentum ging an den Sohn über, die Inhaberschaft der Fabrik teilte dieser sich mit seiner in Frankreich lebenden Mutter Marie-Florence Motard.[12] Da sich seine Erweiterungspläne am Standort Gitschinerstraße nicht verwirklichen ließen, richtete der Unternehmer 1888 und 1891 Fabrikationsstätten in zwei stillgelegten Sägewerken, zuerst in Paulstern, dann in Sternfeld bei Spandau ein. Die von Berlin ausreichend entfernte Lage an Spree und Fauler Spree war optimal: Die starke Geruchsentwicklung bei der Verarbeitung des Eingeweidefetts würde die Stadtbevölkerung nicht mehr stören und der Fluss konnte zugleich als Abwasserkanal und Transportweg genutzt werden – ein eigens dafür angeschaffter Dampfer verband die Fabriken viele Jahre mit einer kleinen Ladestelle der Lehrter Eisenbahn auf der südlichen Spreeseite. Außerdem existierten auf dem Grundstück noch die 1872/1873 für das Betriebspersonal errichteten langgestreckten, drei- und viergeschossigen Ziegelrohbauten, die sogenannten „Familienhäuser“.[13][14]

Im ersten Straßenverzeichnis des Verwaltungsbezirks Spandau sind die Wohnungsinhaber von 28 Wohneinheiten in den Familienhäusern Sternfelder Straße aufgeführt. Dazu zählen neben dem Verwalter beispielsweise zwei Prokuristen, drei Kutscher, ein Aufseher, mehrere Arbeiter und Arbeiterinnen sowie Handwerker und Dienstleister. Der Eigentümer und mittlerweile Rentier E. Motard wohnte wie sein Sohn Alfred, der Fabrikant Oettel, der Gärtner und der Werkmeister im Motard’schen Haus.[15]

Das Besitztum Sternfeld umfasste etwa 200 Morgen, d. h. etwa 50 Hektar. Die Fertigung wurde aufgeteilt: Eine Fabrikationsstätte diente der Herstellung des Kerzenrohstoffs Stearinsäure und der Nebenprodukte wie Olein, Glycerin und Pechgummi, in der anderen fand die Verarbeitung zu Kerzen statt.[7] Zum Zeitpunkt der Gewerbe-Ausstellung 1896 beschäftigte A. Motard & Co. ca. 400 Personen, darunter 250 Frauen. Der Maschinenpark bestand aus 15 Dampfkesseln, 17 Dampfmaschinen, 110 Elektromotoren und 4 Dynamomaschinen.[6] Der Motardsche Besitz erstreckte sich um 1900 beidseits der Sternfelder Straße sowie zwischen dem heutigen Großen Spreering (Berlin-Haselhorst), der Nonnendammallee, dem Rohrdamm und der Faulen Spree. Er umfasste auch einige große Obstplantagen und zwei neu errichtete Villen, die den späteren Motard-Direktoren als Wohnsitz dienten. Ab 1905 verkaufte Motard Anteile seines Grundbesitzes an die Siemens & Halske AG, die Charlottenburger Wasserwerke und später Osram – bis schließlich nur noch ein 20.000 m² großes Anwesen an der Nonnendammallee 32–36 übrig blieb. Die durch das Gelände führende Straße erhielt 1907 den Namen Motardstraße.[14] Der Gleisanschluss an die Siemens-Güterbahn wurde 1917 errichtet.[16]

Zur Führungsriege gehörte einige Jahre lang auch ein Dirigent: Paul Zabel ist in den Adressbüchern von 1887 bis 1891 als dritter Inhaber aufgeführt. Der Spezial-Katalog zur Berliner Gewerbeausstellung 1896 nennt mit Eugène Alfred Motard (1867–1935), dem Sohn von Charles Eugène, einen neuen Mitinhaber.[17] In den Adressbüchern taucht dieser allerdings nur 1897 als solcher auf, ansonsten als Kaufmann, ab 1916 als Privatier oder Rentier. Ab 1898/1899 fungierte Georg Oettel als Vertreter der Stearinwerke; 1918 und 1919 ist er überdies als Teilhaber verzeichnet. 1924 trägt der Eintrag A. Motard & Co. erstmals den Zusatz „Aktiengesellschaft“.[18]

Aktiengesellschaft und GmbH

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Motard’s Baumkerzen
Stearinkerzen der A. Motard & Co. AG (1923–1937)

1923 gründete die Aktiengesellschaft für chemische Produkte, vorm. H. Scheidemandel zusammen mit den Fabrikbesitzern Georg Oettel und Serge Freiherr von Ompteda, dem Chemiker Wilhelm Connstein und dem Prokuristen Friedrich Pflugfelder die A. Motard & Co. AG, zwecks „Erwerb und Fortführung des bisher von der Komm.-Ges. A. Motard & Co., Spandau-Sternfeld, betriebenen Unternehmens zur Herstellung u. Verarbeitung von Ölen, Olein, Fetten, sowie den daraus zu gewinnenden Produkten, von Chemikalien aller Art, der Handel mit den vorerwähnten Gegenständen u. die Beteiligung an Unternehmungen des gleichen oder eines ähnlichen Geschäftszweiges.“ Das Kapital betrug 50 Millionen Mark in Aktien zu 1000 Mark.[19]

1937 übernahm der Konzern das Unternehmen und führte beide Firmennamen zu Scheidemandel-Motard-Werke AG zusammen. 1970 stellte die Unternehmensführung einen Antrag auf erneute Namensänderung. Zu häufig hatte der Namensbestandteil „Motard“ als „Motorrad“ kursiert. Mit Bewilligung des Antrags firmierte man fortan als Scheidemandel AG. 1979 erwarb die Deutsche Gelatine-Fabriken Stoess & Co. GmbH aus Baden die Aktienmehrheit und nutzte die Werke 16 Jahre lang zur Herstellung ihrer Gelatine. Die Stearinkerzenproduktion jedoch erwies sich als unrentabel und wurde 1980 eingestellt.[14][20][21][22]

Den Zweiten Weltkrieg hatten die Werksanlagen „verhältnismäßig gut überstanden“. Der erneute Betrieb erforderte jedoch zunächst den Wiederaufbau der weitgehend demontierten Fabrik. Dank der Bemühungen der Berliner Werksgemeinschaft stand 1954 „die Firma A. Motard & Co. […] wieder in Westberlin an der Spitze der fettverarbeitenden Betriebe“.[23] Die Bauten aus dem 19. Jahrhundert ließ das Unternehmen Mitte der 1950er-Jahre abbrechen. Danach siedelten sich auf dem Gelände kleine Dienstleister an.[14] Die verbliebene Sternfelder Straße ist heute eine Zufahrt der Gartenkolonie Spreewiesen.

Zum Zeitpunkt der Beteiligung der DGF Stoess & Co. GmbH an der Scheidemandel AG (1973) gehörte eine Hammonia-Motard GmbH zu deren Beteiligungen. Die Gesellschaft produzierte und vertrieb „Haushaltsartikel aller Art, insbesondere Kerzen“.[21] Den Einträgen in den jeweiligen Adress- und Fernsprechbüchern zufolge muss das Unternehmen 1976 oder 1977 von Hamburg nach Berlin umgezogen sein. Der Firmensitz war bis zur Schließung der Kerzenfabrik 1980 in der Nonnendammallee 32. Laut den Gelben Seiten existierte von 1981/82 bis 1984/85 noch eine „Motard Hammonia Stearinkerzen, Zweigniederlassung Berlin, Fürstenbrunner Weg 20“. Danach ist das Unternehmen auch dort verschwunden.[24]

Literatur

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  • Officieller Haupt-Katalog der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. Illustrirte Pracht-Ausgabe. Aussteller Nr. 1864. Rudolf Mosse, Berlin 1896, S. 101.
  • Officieller Spezial-Katalog der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. Aussteller Nr. 1864. S. 33 f. Digitalisat
  • Paul Kirchfeld: Von der chemischen Industrie in der Mark. In: Der Bär. Jg. 25. Nr. 10, 11. März 1899, S. 151–154. Digitalisat
  • Karl H. P. Bienek: Straßen in Siemensstadt. Ihre Herkunft, Bedeutung, Geschichte und Bauwerke (= Siemensstädter Lexikon. Band 1). 2., neubearb. und erw. Auflage. ERS-Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-928577-07-7.
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Einzelnachweise

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  1. Gustav Hefter: Technologie der Fette und Öle. Manuldruck 1921. Band 3. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 1910, S. 516. (Google-Vorschau)
  2. Rapport sur les bougies stéariques dite de l’Étoile; par M. Payen. In: Bulletin de la Société d’Encouragement pour l’Industrie Nationale. 32e année. N. 343-354. Imprimerie de Madame Huzard, Paris 1833, S. 156 f. (französisch). Digitalisat Abbildung
  3. M. Demilly (Adolphe). Bougie de l’étoile. In: Exposition de 1834 (Hrsg.): Notice des produits de l’industrie française […]. N. 112. Éverat, Paris 1834, S. 38 f. (französisch). Digitalisat
  4. Gudrun Valerius: Die Kerzenfabrik Motard (1839–1980). 2024, S. 3;.
  5. Ilja Mieck: Preussische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1965, S. 244. (Google-Vorschau)
  6. a b Officieller Spezial-Katalog der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. S. 34.
  7. a b Paul Kirchfeld: Von der chemischen Industrie in der Mark. In: Der Bär. Jg. 25. S. 152 f.
  8. Die chemische Industrie auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung. In: Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands (Hrsg.): Die chemische Industrie. Monatsschrift. 2. Jahrgang. Julius Springer, Berlin 1879, S. 280–284, hier S. 283. (Google-Vorschau)
  9. Gudrun Valerius: Die Kerzenfabrik Motard (1839–1980). 2024, S. 4;.
  10. Einsatz Nr. 86 am 20. Dezember 1873 In: Communal-Blatt der Haupt- und Residenz-Stadt Berlin von 1875. Brandentschädigungen vom 1. Oktober 1873 bis 30. September 1874, S. 3
  11. Verhandlung vom 12. Januar 1874 In: Communal-Blatt der Haupt- und Residenz-Stadt Berlin von 1874, S. 57
  12. Berliner Adressbuch 1883
  13. Arne Hengsbach: Havel und Spree – Spandaus Lebensadern. Eine wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung. In: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte. Band 12, 1961, S. 37–71, hier S. 48 und 60.
  14. a b c d Karl H. P. Bienek: Die Siemensstadt: Adolphe und Charles Eugene Motard (Memento vom 5. Oktober 2013 im Internet Archive)
  15. Berliner Adressbuch 1922
  16. Hans-Jürgen Kämpf: Die Straßenbahn in Spandau und um Spandau herum. Hrsg.: Heimatkundliche Vereinigung Spandau 1954 e. V. Berlin 2008, ISBN 978-3-938648-05-6, S. 109.
  17. Officieller Spezial-Katalog der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. S. 33.
  18. Gudrun Valerius: Die Kerzenfabrik Motard (1839–1980). 2024, S. 7;.
  19. Handbuch der Deutschen Aktien-Gesellschaften. Ausgabe 1923/1924. Band 1. Verlag für Börsen- und Finanzliteratur, Berlin und Leipzig 1924, S. 2729.
  20. Tania Estler-Ziegler: Motard, nicht Motorrad – die Scheidemandel-Motard-Werke AG. 2017, abgerufen am 20. Juni 2024.
  21. a b Sven Tode: Die Gelita-Story. 125 Jahre DGF Stoess AG. Verlag Hansischer Merkur, Hamburg 2003, ISBN 3-922857-25-6, S. 214 f.
  22. Gudrun Valerius: Die Kerzenfabrik Motard (1839–1980). 2024, S. 8 f;.
  23. Die fetterzeugende und fettverarbeitende Industrie einschließlich ihrer Lieferwerke im niederdeutschen Raum und in Berlin. In: Fette, Seifen, Anstrichmittel. 56. Jahrgang. 1954, S. 862–886, hier S. 882.
  24. Gudrun Valerius: Die Kerzenfabrik Motard (1839–1980). 2024, S. 10;.

Koordinaten: 52° 31′ 50,8″ N, 13° 15′ 25″ O