Schüchternheit

Ängstlichkeit in sozialen Beziehungen
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Schamfamilie[1] Verlegenheit
Befangenheit
Schüchternheit
Peinlichkeit
Kränkung
Schmach
Minderwertigkeitsgefühl

Unter Schüchternheit (hochsprachlich auch Scheu, veraltend Scheue) versteht man die Ängstlichkeit eines Menschen beim Anknüpfen zwischenmenschlicher Beziehungen.

Ein schüchternes Kind

Bei Scham, Verlegenheit, Lampenfieber, Love-shyness und Sexualangst treten ähnliche Verhaltensweisen auf, dabei sind diese auf spezielle Situationen begrenzt (Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung). Schüchternheit bezeichnet dagegen die allgemeine Neigung eines Menschen, auf die Begegnung mit nicht vertrauten Personen mit Verunsicherung oder Furcht zu reagieren.[2] Schüchternheit ist jedoch – soweit sie kein Leiden erzeugt (Soziale Phobie) – keine psychische Störung, sondern ein Ausdruck des Temperaments eines Menschen.

Bei Säuglingen ist regelmäßig eine Entwicklungsphase mit vorübergehender Schüchternheit zu beobachten. Sie wird als Fremdeln bezeichnet und kommt zwischen dem 4. und 8. Lebensmonat vor.

Beschreibung

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Viele Menschen lassen bereits in der frühen Kindheit eine Disposition zur Ängstlichkeit erkennen. Diese kann zwar durchaus durch Erziehung beeinflusst werden, ist nach aktuellem Forschungsstand aber angeboren. Die Ursachen sind vermutlich neurochemischer Natur. Betroffene Kinder haben eine übererregbare Amygdala und reagieren infolgedessen bereits auf minimale Auslöser mit Furcht und Geschrei. Unbekannte, neue Situationen wirken ebenso beängstigend wie die Begegnung mit unvertrauten Menschen. Da der Furchtmechanismus in beiden Fällen derselbe ist und die Betroffenen auch im Laufe ihrer weiteren Entwicklung sowohl zur Schüchternheit als auch zur Ängstlichkeit neigen, behandelt die forschungsorientierte Psychologie „Schüchternheit“ nicht als isoliertes Symptombild, sondern als Ausdrucksform von Ängstlichkeit.[3] Sie kann sich durch soziale Misserfolge und Ablehnung verstärken oder durch positive Erlebnisse abschwächen.[4]

Begriffsabgrenzung

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Schüchternheit und Introversion

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Schüchterne und ängstliche Menschen sind häufig introvertierte Persönlichkeiten. Extravertierte schöpfen ihre Kraft aus dem Umgang mit anderen Menschen, Introvertierte schöpfen aus sich selbst.[5] Es gibt allerdings auch schüchterne Extravertierte. Diese haben ihre Kindheitsscheu überwunden und gelernt, sich erfolgreich unter Menschen zu bewegen. Trotz ihrer Sozialkontakte fühlen sie sich aber häufig isoliert und einsam.[6][7] Die Psychologen Mark Snyder und Daniel Goleman sprechen im selben Zusammenhang von „sozialen Chamäleons“, die ihre hochentwickelten sozialen Fähigkeiten nicht in Balance mit den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen zu halten vermögen.[8] Umgekehrt gibt es auch nicht-schüchterne Introvertierte. Diese fühlen sich unter Menschen zwar wohl und kommen gut mit ihnen zurecht, ermüden in Gesellschaft aber schnell und müssen sich dann zurückziehen, um ihre Energie wiederherzustellen.[9]

Soziologische Erklärungen

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Jenseits aller Temperamentsunterschiede können auch Empathie und kulturelle Faktoren wie Taktgefühl und Höflichkeit einen Menschen daran hindern, offensiv Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen.

Aus soziologischer Perspektive versteht Susie Scott von der University of Sussex Schüchternheit als gesellschaftliches Phänomen: Die Schüchternen spielen eine von der Gesellschaft vorgefertigte soziale Rolle, als seien sie Schauspieler in ihrem eigenen Leben, sie nutzen das Rollenmuster der shy performativity.[10]

Psychische Störungen

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Oft ist der Übergang zwischen einer „ganz normalen“ Schüchternheit und einer sozialen Phobie schwer zu bestimmen. Bei letzterer besteht massiver Leidensdruck. Viele Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind schüchtern, haben allerdings Phasen von Grandiosität, in denen sie – ohne entsprechende Leistungen zu erbringen, und oft im Stillen – überzeugt sind, anderen haushoch überlegen zu sein.

Leicht zu verwechseln ist die alltägliche Schüchternheit mit Symptombildern, bei denen nicht Furcht der Aufnahme sozialer Beziehungen im Wege steht, sondern ein Mangel an sozialer Kompetenz. Dies ist zum Beispiel bei Störungen im Autismusspektrum der Fall. So haben viele Menschen mit Asperger-Syndrom zwar einen lebhaften Wunsch nach Freundschaft, sind jedoch nicht in der Lage, nonverbale und parasprachliche Signale anderer Menschen intuitiv zu erkennen und zu verstehen. Im englischen Sprachraum wird dieses Phänomen als dyssemia bezeichnet.[11] Infolgedessen kommunizieren sie ungeschickt und werden dadurch leicht zu Außenseitern.

Schüchternheit in Literatur und Film

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Schüchternheit erscheint vielfach als Thema in der Literatur und im Film. Eine der berühmtesten Schüchternen der Literaturgeschichte ist die namenlose Ich-Erzählerin in Daphne du Mauriers Roman Rebecca (1938), deren Introvertiertheit extrem herausgefordert wird, als sie den Eigentümer eines berühmten englischen Herrensitzes heiratet und sich fortan mit seiner charismatischen verstorbenen ersten Ehefrau vergleichen lassen muss. 1974 veröffentlichte Pascal Lainé seinen Roman La dentellière über das Mädchen Pomme, das daran zerbricht, dass ihre Umgebung ihre natürliche Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit nicht anzuerkennen vermag und glaubt korrigieren zu müssen. Ein weiteres markantes Porträt einer schüchternen jungen Frau hat Jean-Pierre Jeunet in seinem 2001 uraufgeführten Spielfilm Die fabelhafte Welt der Amélie geliefert, dessen Titelheldin ihre übersprudelnde Fantasie zu nutzen vermag, um soziale Beziehungen aufzubauen und am Ende auch die Liebe zu finden, nach der sie sich bis dahin gegeblich gesehnt hat.

Daneben kennt die Literatur viele männliche Schüchterne, wie Ljewin, die zweite Hauptfigur in Lew Tolstois Anna Karenina (1877/78), der in seinem Sozialverhalten ungeschickt ist und in kein Schema passt. Bereits 1813 hatte Jane Austen ihr Meisterwerk Stolz und Vorurteil veröffentlicht, dessen Handlung zu einem großen Teil von dem Missverständnis getragen wird, dass sich daraus ergibt, dass die weibliche Hauptfigur Elizabeth ihren Verehrer Darcy, der tatsächlich nur sehr schüchtern ist, irrtümlich für hochmütig hält. Mit Bilbo Beutlin schuf J. R. R. Tolkien 1954/55 einen Antihelden, der beweist, dass auch ein Introvertierter zu Abenteuern bereit und tapfer sein kann – selbst wenn sein einziges Ziel darin besteht, in die Geborgenheit seines Zuhauses zurückkehren zu dürfen. Ein kulturgeschichtlich bedeutendes Beispiel für einen schüchternen männlichen Filmhelden ist der von Charles Aznavour dargestellte Musiker Charlie Kohler in François Truffauts Film Schießen Sie auf den Pianisten (1960).

Literatur

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  • Margarete Eisner: Über Schüchternheit – Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte. V&R Unipress, Göttingen 2012, ISBN 978-3-89971-882-9.
  • Schüchternheit. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. S. Hirzel, Leipzig 1854–1960, Bd. 15, Spalten 182–183.
  • Elke A. Pilz: Schüchternheit. In: Josef Rattner: Menschenkenntnis durch Charakterkunde. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1998, ISBN 3-8289-1802-6, S. 262–281.
  • Doris Schüler: Schüchterne Kinder stärken. Wie sie Ängste überwinden, ihre Gaben entdecken und die Persönlichkeit entfalten. Amondis, Seeheim-Jugenheim 2011, ISBN 978-3-943036-00-8.
  • Harald Schultz-Hencke: Der gehemmte Mensch – Entwurf eines Lehrbuches der Neo-Psychoanalyse. 1940. (6. Auflage, Thieme, Stuttgart 1989, ISBN 3-13-401806-3)
  • Florian Werner: Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft. Nagel & Kimche, München 2012, ISBN 978-3-312-00544-4.
  • Philip Zimbardo: Nicht so schüchtern! So helfen Sie sich aus Ihrer Verlegenheit. 8. Auflage. Mvg, München [u. a.] 1994, ISBN 3-478-02500-1.
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Commons: Schüchternheit – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Schüchternheit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Jens León Tiedemann: Die intersubjektive Natur der Scham. Dissertation. Berlin 2007, S. 10–13 (Online [abgerufen am 11. September 2019]).
  2. Bernardo Carducci Shyness: The New SolutionPsychology Today, 2000.
  3. Jerome Kagan: Galen’s Prophecy: Temperament in Human Nature. Westview Press, 1997, ISBN 0-8133-3355-5; Daniel Goleman: Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ. 1. Auflage. Bantam, New York 1995, ISBN 0-553-09503-X, S. 221–223.
  4. Jens B. Asendorpf, Franz J. Neyer: Psychologie der Persönlichkeit. Springer, 1990, S. 323.
  5. Erika B. Hilliard: Living Fully With Shyness and Social Anxiety: Comprehensive Guide to Gaining Social Confidence. New York: Marlowe & Company, 2005, ISBN 1-56924-397-2, S. 10 (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)
  6. Philip Zimbardo: Lehrbuch der Psychologie. Dritte, neubearbeitete Auflage. Berlin, Heidelberg, ISBN 978-3-662-08326-0, S. 324 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. Philip G. Zimbardo: Shyness: What It Is – What to Do About It. Addison-Wesley, London 1977, ISBN 0-201-55018-0, S. 32 f.
  8. Mark Snyder: Impression Management: The Self in Social Interaction. In: L. S. Wrightsman, K. Deaux (Hrsg.): Social Psychologie in the ‘80s. Brooks/Cole, Monterey 1981; ‘Social chameleon’ map pay emotional price. In: The New York Times. 12. März 1985; Daniel Goleman: Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ. 1. Auflage. Bantam, New York 1995, ISBN 0-553-09503-X, S. 119 f.
  9. Erika B. Hilliard: Living Fully With Shyness and Social Anxiety: Comprehensive Guide to Gaining Social Confidence. Marlowe & Company, New York 2005, ISBN 1-56924-397-2, S. 10 (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA).
  10. Susie Scott: Transitions and transcendence of the self: stage fright and the paradox of shy performativity. In: Sociology, 51 (2017) 4, S. 715–731. ISSN 0038-0385.
  11. Marshall Duke, Stephen Nowicki: Helping The Child Who Doesn't Fit In. Peachtree Publisher, Atlanta 1992; vgl. en:Dyssemia