Unter der Potenzgeraden (Potenzlinie, Chordale) zweier Kreise versteht man den geometrischen Ort (die Menge) aller Punkte, deren Potenz in Bezug auf die beiden Kreise übereinstimmt. Sind die Kreise durch ihre Mittelpunkte und sowie ihre Radien und gegeben, so sind die Potenzen eines Punktes bezgl. der beiden Kreise

Ein Punkt liegt auf der Potenzgerade, wenn seine Tangentialdistanzen (lila) zu beiden Kreisen gleich sind: .
Liegen kollinear, so ist der Mittelpunkt von .

Ein Punkt gehört zur Potenzgerade , wenn

gilt.

Die Potenzgerade ist nur definiert, wenn die gegebenen Kreise nicht konzentrisch sind, also keinen übereinstimmenden Mittelpunkt haben. Sind beide Radien gleich oder sogar 0, so ist die Potenzgerade die Mittelsenkrechte der Punkte .

Potenzgeraden spielen bei Kreisbüscheln eine wichtige Rolle: Ein Kreisbüschel ist eine Schar von Kreisen mit einer gemeinsamen Potenzgerade.[1]

Bezeichnungen:
J. Steiner nannte die Potenzgerade Linie der gleichen Potenzen.[2]
J.V. Poncelet verwandte chorde ideale.[3]
J. Plücker führte die Bezeichnung Chordale ein.[4]
M. Chasles bezeichnet sie als axe radical, was auch im Englischen (radical axis) üblich ist.[5]
O. Hesse nennt die Potenzgerade gemeinschaftliche Sekante, auch in dem Fall, dass die beiden Kreise keine (reellen) Punkte gemeinsam haben.[6]

Eigenschaften Bearbeiten

Geometrische Form und Lage Bearbeiten

Im Folgenden sind   die Ortsvektoren der Punkte  . Die definierende Gleichung der Potenzgerade lässt sich damit schreiben:

 
 
Zur Berechnung von  

Aus der rechten Gleichung erkennt man

  • Die als Potenzgerade definierte Punktmenge ist tatsächlich eine Gerade und steht senkrecht auf der Verbindungsgerade der Mittelpunkte. (  ist eine Normale der Potenzgerade!)

Dividiert man die Gleichung durch  , erhält man die Hessesche Normalenform. Einsetzen der Mittelpunkte liefert die Abstände der Potenzgerade zu den Mittelpunkten:

 .
Dabei ist  .

(Bei Verwendung der äquivalenten linken Gleichung in der Form   wird die Berechnung von   besonders einfach.)

Schneiden sich die beiden Kreise, so geht die Potenzgerade durch die gemeinsamen Punkte. Falls sie sich nur berühren ist die gemeinsame Tangente die Potenzgerade.

 

Spezielle Lagen Bearbeiten

  • Für zwei sich schneidende Kreise (Fall 3) geht die Potenzgerade durch die beiden Schnittpunkte. Falls sich die beiden Kreise berühren (Fall 2 und Fall 4), stimmt die Potenzgerade mit der gemeinsamen Tangente überein.

Orthogonalkreise Bearbeiten

 
Die Berührpunkte der Tangenten durch   liegen auf dem Orthogonalkreis (grün)
  • Für die Punkte der Potenzgeraden, die außerhalb der gegebenen Kreise liegen, sind die Tangentenabschnitte an beide Kreise gleich lang (siehe den Artikel über Potenz). Sind   die Berührpunkte der Tangenten durch   an die beiden Kreise, so liegen   auf einem die Kreise   senkrecht schneidenden Kreis  .
  • Die Potenzgerade zweier Kreise ist die Menge der Mittelpunkte aller Kreise, welche die gegebenen Kreise rechtwinklig schneiden.

System orthogonaler Kreise Bearbeiten

Die im vorigen Abschnitt enthaltene Möglichkeit zu zwei Kreisen ein System von Kreisen zu konstruieren, die die gegebenen Kreise orthogonal schneiden, lässt sich zu einer Konstruktion von zwei Systemen von Kreisen, die sich orthogonal schneiden[7][8], ausbauen:

Es seien   zwei getrennt liegende Kreise (wie im vorigen Abschnitt),   deren Mittelpunkte und Radien und   deren Potenzgerade. Es werden nun diejenigen Kreise gesucht, deren Mittelpunkte auf der Gerade   liegen und deren Potenzgerade zusammen mit   auch   ist. Es sei   ein solcher Kreis, dessen Mittelpunkt von   den Abstand   und den Radius   hat. Nach dem Resultat des vorigen Abschnitts ist dann

 , wobei   fest sind.

Mit   lässt sich diese Gleichung umformen zu:

 .
 
System orthogonaler Kreise: Konstruktion

Gibt man den Radius   vor, ergibt sich aus dieser Gleichung der Abstand   des neuen Mittelpunktes von der (festen) Potenzgerade. In der Abbildung sind die neuen Kreise lila. Die grünen Kreise (siehe Abbildung) mit Mittelpunkte auf der Potenzgerade schneiden   senkrecht und damit auch alle neuen Kreise (lila). Wenn man die (rote) Potenzgerade als y-Achse und   als x-Achse wählt, haben die beiden Kreisscharen die folgenden Gleichungen:

lila:  
grün:  

(  ist der Mittelpunkt eines grünen Kreises.)

Eigenschaften:
a) Die grünen Kreise schneiden sich alle auf der x-Achse in den beiden Punkten  , den Polen des orthogonalen Kreissystems, d. h. die x-Achse ist die Potenzgerade der grünen Kreise.
b) Die lila Kreise haben keine (reellen) Punkte gemeinsam. Fasst man aber die reelle Ebene als Teil der komplexen Ebene auf, so schneiden sich die lila Kreise auf der y-Achse (gemeinsame Potenzgerade) in den beiden Punkten  .

 
Orthogonale Kreisbüschel: parabolisch

Sonderfälle:
a) Im Fall   berühren sich sowohl die grünen als auch die lila Kreise im Nullpunkt. Sie bilden zwei sich orthogonal schneidende parabolische Kreisbüschel (siehe unten).
b) Lässt man   auf den Punkt   schrumpfen, d. h.  , so vereinfachen sich die Gleichungen und es ist  .

 
Kreisbüschel: Typen

Zusammenfassung:
a) Für jede reelle Zahl   gilt für die Kreisschar

 
Je zwei Kreise   haben die y-Achse als Potenzgerade.
Für   schneiden sich   in den Punkten  .
Für   haben   keinen Punkt gemeinsam.
Für   berühren sich   in dem Punkt  .

b) Für jede reelle Zahl   bilden die beiden Kreisscharen

 
 
ein System orthogonaler Kreise. D.h.:   schneiden sich für alle   orthogonal.
Für   sind   die Pole.
Für   sind   die Pole.
Für   ist   und das System ist parabolisch.

c) Die Gleichungen in b) lassen sich zur koordinatenfreien Formulierung verwenden:

 
Orthogonale Kreisbüschel: Vorgabe der Pole
Sind die beiden Punkte   gegeben,   ihr Mittelpunkt und   ihre Mittelsenkrechte, so beschreiben die beiden Gleichungen
 
 
mit   auf  , aber nicht zwischen  , und   auf  
das durch   eindeutig bestimmte orthogonale System von Kreisen.   sind die Pole des Systems.
Für   muss man zusätzlich die beiden Potenzgeraden, die Achsen des Systems,   vorgeben. Es ergibt sich das parabolische System:
 
mit   auf   und   auf  .

Konstruktion mit Zirkel und Lineal:

 
Orthogonales Kreissystem: Konstruktion mit Zirkel und Lineal

Ein orthogonales Kreissystem ist durch die Vorgabe seiner Pole   eindeutig bestimmt:

  1. Die Achsen (Potenzgeraden) sind die Gerade   und die Mittelsenkrechte   der Pole.
  2. Die Kreise (im Bild grün) durch   haben ihre Mittelpunkte auf  . Zu einem Punkt   ist der Radius  .
  3. Um einen Kreis der zweiten Schar (im Bild blau) mit Mittelpunkt   auf   zu zeichnen, bestimmt man mit dem Satz des Pythagoras den Radius aus   wie in dem Bild gezeigt.

Falls   ist, müssen die Achsen vorgegeben werden. Das System ist dann parabolisch und leicht zu zeichnen.

Kreisbüschel Bearbeiten

Definition und Eigenschaften:

Sind   zwei Kreise und   ihre Potenzfunktionen, so ist für jedes  

  •  

die Gleichung eines Kreises   (siehe unten). Diese Schar von Kreisen nennt man das von   erzeugte Kreisbüschel.

Die Potenzfunktion von   ist

 .

Man rechnet leicht nach, dass gilt:

  •   haben dieselbe Potenzgerade wie  .

(H): Schneiden sich   in zwei Punkten  , so gehen auch alle Kreise   durch   und die Gerade   ist ihre gemeinsame Potenzgerade. Ein solches Kreisbüschel heißt elliptisch.
(P): Berühren sich   in  , so berühren sich alle   und die gemeinsame Tangente ist die Potenzgerade. Das Kreisbüschel heißt parabolisch.
(E): Haben   keinen Punkt gemeinsam, so auch alle Kreise   und das Büschel heißt hyperbolisch.

Konkret:

Führt man so Koordinaten ein, dass

 
 ,

so ist die y-Achse ihre Potenzgerade (siehe oben).

Falls   ist, haben   die beiden Punkte

 

gemeinsam und das Kreisbüschel ist elliptisch.

Falls   ist, haben   den Punkt

 

gemeinsam und das Büschel ist parabolisch.

Falls   ist, haben   keinen Punkt gemeinsam und das Büschel ist hyperbolisch.

Die Berechnung der Potenzfunktion   liefert die Gleichung des Kreises:

 

Quadratische Ergänzung und die Substitution   (x-Koordinate des Mittelpunktes) führt auf die Mittelpunktsform

 .

Alternative Formen:
1) In der definierenden Gleichung des Kreisbüschels müssen nicht die Potenzfunktionen selbst stehen. Es können auch jeweils Vielfache davon verwendet werden.
2) Die Gleichung eines der beiden Kreise kann man auch durch die Gleichung der gewünschten Potenzgerade ersetzen. Die Potenzgerade kann man also als einen Kreis mit unendlich großem Radius ansehen. Z.B.:

 
 ,

beschreibt alle Kreise, die mit dem ersten Kreis die Gerade   als Potenzgerade besitzen.
3) Um beide Kreise in der Definitionsgleichung formal gleich zu behandeln, verwendet man auch gelegentlich die symmetrisierte Form

 ,

wobei   nicht gleichzeitig Null sein dürfen. Der Nachteil dieser Form: Sie ist bezgl.   nicht eindeutig.

Anwendung:
a) Kreisspiegelungen und Möbiustransformationen sind kreistreue und winkeltreue Abbildungen der Ebene. Orthogonale Kreisbüschel spielen deshalb bei Untersuchungen dieser Abbildungen eine besondere Rolle.[9][10]
b) In der Elektrodynamik treten Kreisbüschel als Feldlinien auf. Sie werden dort, wie im Englischen (coaxal circles), auch koaxiale Kreise genannt.[11]

Radikal dreier Kreise, Konstruktion der Potenzgerade Bearbeiten

 
Potenzgeraden zu 3 Kreisen
Der grüne Kreis schneidet die drei Kreise senkrecht.
  • Sind drei Kreise gegeben, unter denen keine zwei konzentrisch sind, so existieren drei Potenzgeraden (jeweils eine zu zwei Kreisen). Falls die Mittelpunkte der gegebenen Kreise nicht auf einer Geraden liegen, schneiden sich die Potenzgeraden in einem Punkt (engl. radical center), und zwar im Mittelpunkt des Kreises, der die gegebenen Kreise rechtwinklig schneidet (engl. radical circle). Zum Nachweis: die Potenzgerade   enthält alle Punkte, die vom i-ten und k-ten Kreis denselben tangentialen Abstand haben. Der Schnittpunkt   von   und   muss also zu allen drei Kreisen denselben tangentialen Abstand besitzen und damit auch auf   liegen.
Diese Eigenschaft gibt die Möglichkeit die Potenzgerade von zwei sich nicht schneidenden Kreisen   zeichnerisch zu bestimmen: Man zeichne einen dritten Kreis  , der die gegebenen Kreise schneidet. Damit lassen sich die Potenzgeraden   zeichnen. Ihr Schnittpunkt   liegt auf  , die als Lotgerade von   auf die Gerade   gezeichnet werden kann.

Weitere Konstruktion:

 
Potenzgerade: Konstruktion mit Äquipotenzkreise  .
Es ist  .

Die Punkte, die bezgl. eines Kreises   die gleiche Potenz besitzen, liegen auf einem zu   konzentrischen Kreis. Diese Eigenschaft lässt sich zu einer weiteren Methode zur Konstruktion der Potenzgerade zweier Kreise verwenden:

Sind zwei sich nicht schneidende Kreise   gegeben, so lassen sich, wie in der Zeichnung gezeigt, zu jedem Kreis   ein weiterer Kreis   zeichnen, mit der Eigenschaft: Die Punkte der Kreise   haben bezüglich der Kreise   die gleiche Potenz. Formal:  . Ist die Potenz groß genug gewählt, schneiden sich   und liefern zwei Punkte der gesuchten Potenzgerade der Kreise  .

Falls die Radien der beiden Kreise Null sind, ist die Potenzgerade die Mittelsenkrechte von   und die Konstruktion ist die für Mittelsenkrechte übliche.

Literatur Bearbeiten

  1. G. Aumann: Kreisgeometrie, S. 45
  2. Jakob Steiner: Einige geometrische Betrachtungen. In: Journal für die reine und angewandte Mathematik, Band 1, 1826, S. 165
  3. Ph. Fischer: Lehrbuch der analytische Geometrie, Darmstadt 1851, Verlag Ernst Kern, p. 67
  4. H. Schwarz: Die Elemente der analytischen Geometrie der Ebene, Verlag H. W. Schmidt, Halle, 1858, S. 218
  5. Michel Chasles, C. H. Schnuse: Die Grundlehren der neuern Geometrie, erster Theil, Verlag Leibrock, Braunschweig, 1856, S. 312
  6. O. Hesse: Analytische Geometrie der geraden Linie, des Punktes und des Kreises in der Ebene, Teubner-Verlag, Leipzig, 1881, S. 195.
  7. A. Schoenflies, R. Courant: Einführung in die Analytische Geometrie der Ebene und des Raumes, Springer-Verlag, 1931, S. 113
  8. C. Caratheodory: Funktionentheorie, Birkhäuser-Verlag, Basel, 1961, ISBN 978-3-7643-0064-7, S. 46
  9. Caratheodory: Funktionentheorie, S, 47.
  10. R. Sauer: Ingenieur-Mathematik: Zweiter Band: Differentialgleichungen und Funktionentheorie, Springer-Verlag, 1962, ISBN 978-3-642-53232-0, S. 105
  11. Clemens Schaefer: Elektrodynamik und Optik, Verlag: De Gruyter, 1950, ISBN 978-3-11-230936-0, S. 358.

Weblinks Bearbeiten