Heimatschutzarchitektur
Die Heimatschutzarchitektur beziehungsweise der Heimatschutzstil oder Heimatstil (letztgenannter Begriff ist nicht zu verwechseln mit Heimatstil im Sinne des Späthistorismus) ist ein Architekturstil der architektonischen Moderne, der 1904 erstmals beschrieben wurde und bis in die späten 1950er Jahre seine Blüte hatte. Wesentliche Arbeitsfelder waren Siedlungsbau, Hausbau, Gartenkunst, Industriebau, Kirchenbau und Denkmalpflege.
Ziel und Kennzeichen
BearbeitenDer Heimatschutzstil oder Heimatstil war „eine auf lokalen und regionalen Bautraditionen wurzelnde, Historismus und Jugendstil überwindende Baukunst auf dem Weg zur Moderne“.[1][2] In seiner Abwendung vom bislang dominierenden, das „Fremde“ kopierenden Historismus verstand er sich als Reformstil.[1] Äußerlich kennzeichnende Teile oder Elemente sind Verwendung ortsüblicher Baumaterialien (in Norddeutschland z. B. Backstein, im Alpenraum Holz) und, im Gegensatz zum Historismus, ein Verzicht auf verzierende Attribute, die ältere Baustile detailgetreu nachahmen. Elemente traditioneller Architektur, wie Rundbögen oder Säulen, konnten in reduzierter Form zur Anwendung kommen.
Alle neuen Bauwerke sollten sich harmonisch in die sie umgebende Kulturlandschaft einfügen. Zwei zentrale architektonische und stadtplanerische Aufgaben, die im Sinne des Heimatschutzes ausgeführt wurden, waren der Wiederaufbau der von der russischen Armee zerstörten Ortschaften in Ostpreußen (sogenannte Ostpreußenhilfe, beispielsweise für Stallupönen oder Gerdauen) noch während sowie nach dem Ersten Weltkrieg,[3] sowie der Aufbau eines dichten Netzes von Reichspostämtern in Bayern.[4] Obwohl die Gebäude sich in ein traditionelles Umfeld einbetten wollen, bestechen sie häufig durch ihre Größe und Stilreinheit.
Eng verwandt mit der Heimatschutzarchitektur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz ist die Wiederaufbauarchitektur (Wederopbouwarchitectuur) Belgiens nach dem Ersten Weltkrieg (Paradebeispiele sind die Stadtzentren von Ypern und Diksmuide) sowie die Architektur der nordischen Nationalromantik (Paradebeispiel ist das Stockholmer Rathaus).
Historische Entwicklung und Verbreitung
Bearbeiten1904 gründete sich in Dresden der Deutsche Bund Heimatschutz. Sein Schwerpunkt lag vor allem im Bereich der Architektur, insbesondere der Baupflege, mit dem Ziel, die alte Formensprache wiederaufzunehmen und traditionelle Bauweise und Handwerk zu fördern. In sozialistischen Ländern folgte der kleinteilige Wohnungsbau unter Josef Stalins Einfluss häufig Motiven des Heimatstils, während Großbauten im neoklassizistischem Stil errichtet wurden. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus wurde eine oft stark vereinfachte Heimatschutzarchitektur bevorzugt, vor allem im Bereich des Wohnbaus. Im Siedlungsbau wurden meistens einheitliche Normbauten errichtet, die allenfalls in der spärlichen Dekoration, Materialität oder der Formgebung von Dächern und Fenstern regionale Elemente besaßen.[5] Repräsentative öffentliche Bauten wurden hingegen im Stil des monumentalen Neoklassizismus ausgeführt.
Nach 1945 verringerte sich die Bedeutung dieses Baustiles, zum einen weil das Handwerk sich durch die ausbreitende Bauindustrie verkleinerte, zum anderen wegen Fortschritten in der Bautechnik und in der Folge neuer Formsprachen der Architektur. Eine späte Politisierung erfuhr der Heimatschutzstil im Nachkriegswettbewerb um Planungsaufträge und die Besetzung öffentlicher Ämter. So erschien er manchen Stadtplanern nicht klar von Bauweisen abgrenzbar, die von Nationalsozialisten wie Hanns Dustmann favorisiert worden waren. Dabei stehen Teile der Heimatschutzarchitektur eher dem Backsteinexpressionismus Fritz Högers nahe, der zwischen 1933 und 1945 kaum noch Aufträge erhielt. Noch bis etwa 1960 entstanden dennoch verschiedene Ensembles im Heimatschutzstil, wie etwa der Freudenstädter Marktplatz von 1950 und der Prinzipalmarkt in Münster, der zwischen 1947 und 1958 regionaltypisch und an das zerstörte Original angelehnt, aber nicht originalgetreu wiederaufgebaut wurde. In den Altstädten von Nürnberg und Würzburg wurde nach starker Zerstörung im Zweiten Weltkrieg der Ansatz regionaltypischer Neubauten gewählt, man baute kleinteilige und in Materialien und Dachgestaltungen am Zerstörten orientierte Neubauten. Der Aufbau ostdeutscher Städte in der jungen DDR der 1950er erfolgte häufig in Formen der Heimatschutzarchitektur.
In der Schweiz unterscheidet man mehrere Phasen des Heimatstils. Nach der ersten Phase, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerte, kehrte er in den 1920er-Jahren als „Zweiter Heimatstil“ und in den 1940er-Jahren als „Landistil“ in jeweils modifizierten Neuauflagen zurück. Auch der „Regionalismus“ der Gegenwart gründet im Heimatstil.[1]
Vertreter des Heimatschutzstils
Bearbeiten- Josef Anton Albrich
- Albert Boßlet
- Otto Bubenzer
- Adalbert Erlebach
- Roderich Fick
- Theodor Fischer
- Hans Foschum
- Karl Gruber
- Peter Klotzbach
- Rudolph Lempp
- Alfred Lichtwark
- Stephan Mattar
- Architekturbüro Mattar & Scheler
- Hermann Muthesius
- Ernst Prinz
- Heinrich Renard
- Hans Roß
- Paul Schmitthenner
- Julius Schulte-Frohlinde
- Paul Schultze-Naumburg
- Ludwig Schweizer
- Heinrich Tessenow
- Johann Theede
- Hugo Wagner
- Paul Ziegler
Bauwerke
BearbeitenSiehe auch: Liste von Bauwerken des Heimatschutzstils in Österreich
- St. Michael (Blumenfeld)
- Görzsiedlung in Mainz
- Kochenhofsiedlung in Stuttgart
- Kreissparkasse in Schwäbisch Hall
- Pfarrkirche Baden-St. Christoph in Baden (Niederösterreich)
- Pfarrkirche Unsere Liebe Frau in Velden am Wörther See
- Rainerkaserne in Elsbethen
- Rathaus in Hechingen
- Stadtzentrum von Freudenstadt
- Wohngebiet Südvorstadt in Pirna (errichtet 1935–1938)
- Verwaltungsgebäude Marktplatz 6 in Düsseldorf (errichtet 1952–1956)
- Hellerau bei Dresden
- Villa Klamroth in Halberstadt
Weitere Beispiele
Bearbeiten-
Haus Königstraße 57 in Lübeck
-
Wohnhaus in der Altstadt von Heiligenstadt, Thüringen
-
Bahnhof Appenzell, Schweiz
-
Schulhaus von Courtelary, Kanton Bern, erbaut 1908
-
Das Postamt Neresheim von 1911, Baden-Württemberg
-
Kirche Mariä Himmelfahrt in Ramsen (Pfalz), von Albert Boßlet, 1912
-
Bahnhof Braunfels-Oberndorf, Solms, Hessen, erbaut 1912–1913 mit Zollingerdach
-
Die „Hirschenpost“ in Kreuzlingen, Kanton Thurgau, erbaut 1919/1920
-
Die Nordsee Akademie in Leck, Nordfriesland, erbaut 1923
-
Kirche des ehemaligen Klosters Rulle in Wallenhorst-Rulle, Niedersachsen, 1927 bis 1930 erbaut
-
Rathaus in Hirschlanden (Ditzingen), Baden-Württemberg, erbaut 1930
-
Die Neulandhalle auf dem Dieksanderkoog, Schleswig-Holstein, 1935 in der Form eines Haubargs gebaut
-
Neues Rathaus in Münsingen (Württemberg) von 1935–1937
-
Rathaus von Wiehl (Nordrhein-Westfalen), Peter Klotzbach, 1939
-
Klassizistisch anmutender Hauseingang in der Siedlung in Lohfelden, Hessen
-
Marktplatz von Freudenstadt, Baden-Württemberg, von 1950
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Hans-Günther Andresen: Bauen in Backstein. Schleswig-Holsteinische Heimatschutz-Architektur zwischen Tradition und Reform. Zur Ausstellung der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek vom 2. Juli bis 27. August 1989. Boyens, Heide 1989, ISBN 3-8042-0475-9.
- Bayerischer Landesverein für Heimatschutz e. V.: Richtpunkte für das Bauen im Sinne des Heimatschutzes. München 1929.
- Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914. Huber, Frauenfeld 2005, ISBN 3-7193-1385-9.
- Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Sabine Fechter: Heimatschutzbauten in Mainfranken. Entwicklungen und Wandlungen von Baupflege 1900–1975. Bad Windsheim 2006, ISBN 3-86568-089-5.
- Marco Kieser: Heimatschutzarchitektur im Wiederaufbau des Rheinlandes (= Beiträge zur Heimatpflege im Rheinland, Band 4; Dissertation Universität Köln 1994). Köln 1998.
- Winfried Nerdinger (Hrsg.): Bauen im Nationalsozialismus. Bayern 1933–1945. München 1993, ISBN 3-7814-0360-2.
- Ernst Rudorff: Heimatschutz. 3. Auflage. Berlin 1904.
- Isabel Termini: Heimat bauen. Aspekte zu Heimat – Heimatschutz – Heimatstil – Heimatschutzarchitektur. Universität Wien, Diplom-Arbeit, 2001.
- Rainer Schmitz: Heimat. Volkstum. Architektur: Sondierungen zum volkstumsorientierten Bauen der Heimatschutz-Bewegung im Kontext der Moderne und des Nationalsozialismus. Bielefeld 2022, ISBN 978-3-8376-5850-7.
Weblinks
Bearbeiten- Denkmalpflege und Baugeschichte – Heimatschutzarchitektur
- Literaturverzeichnis M. Kieser: Heimatschutzarchitektur im Wiederaufbau des Rheinlandes. Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Köln 1998, S. 341–365, abgerufen am 13. November 2021
- Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte: Heimatschutzarchitektur in Schleswig-Holstein
- Heimatstil in der Schweiz Stefanie Lieb: Rezension von: Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914, Huber, Frauenfeld 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1, 15. Januar 2006 (PDF; 57 kB)
- Der Schweizer Heimatschutz, Nonprofit-Organisation im Bereich Baukultur, aufgerufen am 13. November 2021
- Claudia Ingrid Turtenwald: Fritz Höger (1877–1949): Architekt zwischen Stein und Stahl, Glas und Beton ( vom 13. November 2021 im Internet Archive). Dissertation Münster 2003. Links zum Herunterladen von PDF-Dateien; abgerufen am 1. Mai 2024.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b c Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- ↑ Vgl. auch Gottfried Kiesow: Expressionismus und Heimatschutzstil. In: Monumente, Magazin für Denkmalkultur in Deutschland. Nr. 3, Juni 2011, ISSN 0941-7125, S. 56 ff.
- ↑ Niels Aschenbeck: Moderne Architektur in Ostpreußen. Hrsg. von der Landsmannschaft Ostpreußen, Abteilung Kultur. o. O. 1991; Jan Salm: Ostpreußische Städte im Ersten Weltkrieg. Wiederaufbau und Neuerfindung (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Band 46). De Gruyter, Berlin 2012.
- ↑ Hartmut Frank: Typus oder Norm. In: Florian Aicher, Uwe Drepper (Hrsg.): Robert Vorhoelzer – Ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post. Callwey, München, S. 14–23.
- ↑ Winfried Nerdinger: Baustile im Nationalsozialismus: zwischen ‚Internationalem Klassizismus‘ und Regionalismus. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Architektur, Macht, Erinnerung. Prestel, München, S. 119–131, hier S. 18.