Die Le Monde Wikipédia ist eine Alternative zum boulevardesken WIKIKURIER. Sie gleicht vielleicht einer auf Internet-Verhältnisse gestutzten Mixtur aus Prokla (die zu gut ist für einen eigenen Wikipedia-Artikel), den Blättern für deutsche und internationale Politik, der New Left Review oder auch einem guten Buch, das es wie fast alle guten Bücher niemals auf irgendeine Bestsellerliste schaffen würde. Die bereits deutlich gewordene, maßlose Selbstüberschätzung zeichnet auch verantwortlich für den Titel dieses Magazins, in dem sich auch sein wahres Vorbild enthüllt: Die Le Monde diplomatique.


Selber konservativ Bearbeiten

Von Nils Simon, 24. Januar 2008

Eines der wichtigsten Prinzipien der Wikipedia ist der neutrale Standpunkt. Gemeinsam mit dem Verbot der Theoriefindung bildet der neutrale Standpunkt eines der grundlegenden Fundamente der Internet-Enzyklopädie. Zusammengefasst besagen beide: Die Wikipedia schafft kein eigenes Wissen, sondern sie bildet bekanntes Wissen ab. Diese Abbildung soll ohne persönliche Wertung der AutorInnen geschehen, so dass sie frei von normativen Vorstellungen oder politischen Ansichten der oder des Einzelnen ist.

So viel zur Theorie. Zwar gibt es genügend Beispiele, an denen deren mangelhafte Umsetzung in der Praxis gezeigt werden kann. Darüber hinaus kann jedoch argumentiert werden, dass die Wikipedia bereits in ihren Grundprinzipien ein konservatives Projekt ist. Das scheint zunächst paradox: Ein revolutionäres Projekt wie eine Online-Enzyklopädie, an der tausende AutorInnen freiwillig und ohne Bezahlung mitarbeiten, in der jeder Mensch mit Internetzugang Artikel erweitern, kürzen, verbessern oder vandalieren kann - konservativ??

Allerdings. In der Kritischen Theorie ist seit längerem bekannt, was ich hier in Form einer Diskussion über das besser bekannte Konzept des naturalistischen Fehlschlusses beschreiben will. Der naturalistische Fehlschluss besagt, dass ich aufgrund einer Beschreibung dessen was ist nicht zu einer Wertung darüber gelangen kann, was sein soll. Hiermit bewegen wir uns schon dicht an den eingangs genannten Grundprinzipien der Wikipedia. Hier wird gesichertes Wissen abgebildet, also das was ist - es werden keine Aussagen darüber getroffen, was sein soll. Was aber passiert, wenn beharrlich das abgebildet wird was ist? Oder mit anderen Worten: Ist sich auf den naturalistischen Fehlschluss zu beziehen und fortan Debatten über das Sollen zu meiden wirklich eine neutrale Haltung? Aus dem Wikipedia-Artikel über den naturalistischen Fehlschluss:

„In seinem Beitrag zur Sprechakttheorie spricht John Searle vom „Fehlschluss des naturalistischen Fehlschlusses“ (naturalistic fallacy fallacy). In der sprachlichen Beschreibung dessen, was ist, seien zwangsläufig normative Elemente enthalten. Was in den Kanon menschlicher Sprache und damit den Diskurs aufgenommen werde, sei dadurch bereits wertend verändert worden. Deshalb könne es keine „wertfreie“ Beschreibung objektiver Dinge geben, und das Sollen sei bereits implizit in der Benennung dessen was ist enthalten.“

Robert W. Cox, ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler, äußerte sich ebenfalls zu diesem Thema, nämlich 1981 in seinem einflussreichen Artikel Social Forces, States and World Orders: Beyond International Relations Theory. Für Cox verfolgt alle Theorie interessegeleitete Zwecke: „Theory is always for someone and for some purpose.“ Cox' Kritik richtete sich gegen eine wenige Jahre zuvor entstandene neue Theorie der Internationalen Beziehungen, den strukturellen oder Neorealismus. Dieser nahm für sich in Anspruch, als einzige Theorie der Internationalen Beziehungen nur auf das Bezug zu nehmen, was real vorhanden und offen sichtbar ist, womit letztlich nur eins gemeint ist: Machtmittel, anders gesagt: Militär. Alles andere, darunter Wirtschaft, gemeinsame Normen oder Völkerrecht, seien als diesem Machtmittel untergeordnet zu sehen.

Nun kann sich jede/r selber ausdenken, wie "realistisch" diese Position ist. Meine eigene Erfahrung ist, dass viele Leute akut realistische Argumente sehr einleuchtend finden. Nach einiger Diskussion weichen sie jedoch bald davon ab. Warum innerhalb Europas beispielsweise nach zwei Weltkriegen heute ein Krieg undenkbar erscheint, lässt sich mit dem realistischen Kanon nicht erklären. Das Beispiel ist lehrreich: Die RealistInnen gehen davon aus, dass nur das was ist zählt. Ideen und Normen sind aber nicht wirklich, auf jeden Fall nicht materiell. Ergo zählen sie irgend etwas zwischen sehr viel weniger als direkte Machtmittel und gar nichts. Konkurrierende DenkerInnen, zunächst aus dem Liberalismus, später zunehmend aus dem Konstruktivismus sowie zwischendrin immer wieder aus der Kritischen Theorie, betonten hingegen die Bedeutung als „weicher“ Faktoren abgetaner Dinge wie die Ökonomie, aber auch Wertvorstellungen oder Menschenrechte. Dabei sind diese sehr wohl bedeutend. Wer heute die Europäische Union betrachtet und ihre Politik sowie die ihrer Mitgliedstaaten zu erklären versucht, wird nicht mit der Truppenstärke Frankreichs oder den Rüstungsausgaben Deutschlands argumentieren. Statt dessen werden Dinge wie wirtschaftliche Stärke, Struktur des Indsutriesektors oder die Parteizugehörigkeit von Präsident/in und Bundeskanzler/in herangezogen. Gehen wir einhundert Jahre zurück, war die Zahl der Kanonen und Panzerkreuzer immer im Hinterkopf, so wie heute das Bruttoinlandsprodukt und die Größe der Autohersteller präsent ist. Das liegt nicht einfach daran dass sich die Welt in ihrer Realität geändert hat - es liegt auch daran, dass sich unsere Wahrnehmung dessen wie sie ist ständig wandelt.

Wir sehen: Bevor wir abbilden was ist treffen wir bereits eine nicht unproblematische Entscheidung, nämlich was wir als seiend wahrnehmen. Und diese Entscheidung beeinflusst unseren weiteren Umgang mit einem Thema. Wenn wir in der Wikipedia gemäß unseren Grundsätzen „neutraler Standpunkt“ und „keine Theoriefindung“ abbilden was ist, folgen wir dem, was die Mehrheit der Menschen für seiend hält. Indem wir diese Mehrheitsmeinung abbilden, reproduzieren und verfestigen wir sie gleichzeitig. Wenn sich andere Leute auf die Wikipedia beziehen, begegnen sie der Beschreibung unserer gemeinsamen Warnehmung der Wirklichkeit. Wir kreieren damit bei uns selbst und bei unseren LeserInnen neue Wirklichkeit, auf der Grundlage der alten. Dies ist ein weltanschaulich nicht neutraler Vorgang. Es ist eine konservative Handlung. Das kann ein Problem sein, besonders dann, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.

Zwei Beispielse sollten verdeutlichen, welche Folgen diese strukturell konservative Ausrichtung hat. Als erstes sind da am laufenden Band vorkommenden Diskriminierungen, darunter das immer noch nicht überwundene generische Maskulinum oder auch das religiösen Symbol des Kreuzes vor dem Todesdatum in biografischen Artikeln. In Meinungsbildern und immer wieder dezentral aufflammenden Diskussionen kommt beharrlich der Einwand, dass in der Gesellschaft mehrheitlich ohne Binnen-I oder andere geschlechtergerechte Ausdrucksweisen geschrieben wird, und dass das Kreuz ein mehrheitlich verwendetes und verstandenes Symbol für den Tod ist. Das sind beides konservative Haltungen, welche den Charakter der Wikipedia prägen.

Als zweites Beispiel dient der von mir mit geschriebene Artikel über die globale Erwärmung. Der exzellente Artikel beschreibt wissenschaftlich weitgehend korrekt die physikalischen Grundlagen der Erderwärmung, geht auf ihre in Studien beschriebenen Folgen ein und diskutiert den Klimaschutz. Keine Worte verliert der Artikel über die gravierenden ethischen Konsequenzen des Klimawandels. Fragen der Umweltgerechtigkeit werden nicht aufgeworfen. Schon gar nicht argumentiert der Artikel emotional, sondern nüchtern-sachlich. Das alles ist explizit gewünscht und entspricht dem Mainstream dessen, was als „neutrale“ Umschreibung angesehen wird. Nur: Diese „Neutralität“ ist in Wahrheit das Ergebnis eines sozialen Kompromisses innerhalb der WP-Gemeinde, der auf Grundlage bestehender Wirklichkeitskonstruktion und auch eingebettet in gesamtgesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse entstanden ist. Folglich ist die Beschreibung der globalen Erwärmung wie auch der Großteil der Klimaforschung ausgesprochen, genau, konservativ.

Nur solange wir diese Zusammenhänge im Kopf behalten, können wir erst richtig die Vorzüge wie auch die Grenzen der Wikipedia erkennen. Gestartet und bis heute gefeiert als „Befreierin des Wissens“, verhindert und blockiert die deutschsprachige Wikipedia gleichzeitig in ihrem Inneren Schritte der Emanzipation. Auch wenn wir es uns nur schwer eingestehen können: Wir sind konservativ.

(Zur Diskussion)