Benutzer:Anaxo/Verschmelzung (Selbstpsychologie)

Mit Verschmelzung bezeichnet man in der Psychologie des Erwachsenen eine Entfremdung des Subjekts von sich selber, die meist von ungünstigem Ablauf geprägt ist. Die sich unbewusst entwickelnde Verschmelzung verläuft ursprünglich zugunsten eines wertgeschätzten oder geliebten Objektes, „in das sich das Subjekt gewissermaßen verkleidet“.[1] Solche „Objekte“ können Ideen, Personen, oder Gegenstände sein. Carl Gustav Jung (1875–1961) bezeichnete den Vorgang als Angleichung des Subjektes an das Objekt bzw. als Dissimilation.[2] Der ggf. aus der Biologie entlehnte Begriff ist insofern zutreffend, als die Person, die sich der Verschmelzung anheimgibt, einen Energiegewinn zugunsten der eigenen (narzisstischen) Homöostase (innerseelisches Gleichgewicht) erfährt. Damit ist jedoch ein meist nur vorübergehender Gewinn an Selbstwert verbunden.[3](a)

Beispiele aus der Literatur Bearbeiten

Häufig findet der Begriff Verwendung in der soziologischen und vergleichenden sozialpsychologischen Literatur. Diese befasst sich auf rein wissenschaftlicher Ebene vorzugsweise mit der Objektbeziehungstheorie oder auch populärwissenschaftlich mit Fragen der Verliebtheit oder der romantischen Liebe („Mikrosoziologie“).[4][5][6] Erich Fromm (1900–1980) umschreibt das Verliebtsein mit „inniger Vertrautheit“, „sexueller Anziehung“ und dem Bedürfnis nach „sexueller Vereinigung“, jedoch ohne die Vokabel der Verschmelzung dabei in einem physisch zu denkenden Urzustand wie etwa dem Kugelmensch (Platon) zu gebrauchen. Er betont jedoch wie Colegrave gleichfalls, dass „diese Art Liebe ihrem Wesen nach nicht von Dauer“ sei und quasi regelmäßig zu Enttäuschungen führe. Fromm betont vielmehr, die Liebe sei eine Kunst, bei deren Erlernen es um das „Verschmelzen“ von theoretischen und praktischen Kenntnissen geht.[7] Da die Selbstpsychologie den weit gefassten Begriff des Selbst zum Gegenstand hat, besteht durchaus auch Veranlassung, philosophische Positionen in den Vorstellungsgehalt der Verschmelzung mit einzubeziehen.[3](b) Im Sinne der alten Ontologie ist auf „Das Gastmahl“ Platons und den darin erwähnten „Kugelmensch“ hinzuweisen.[8]

Verschmelzung und Identifikation Bearbeiten

„Die Identifikation verfolgt immer den Zweck, auf die Art und Weise des anderen einen Vorteil zu erreichen oder ein Hindernis zu beseitigen oder eine Aufgabe zu lösen.“

C. G. Jung[2]

Es stellt sich daher die Frage, weshalb der Erfolg dieser Art von Identifikation im Weg der Verschmelzung nur von vorübergehender Dauer ist. Bereits Wilhelm Wundt (1832–1920) hat darauf hingewiesen, dass bei der Assimilation „Elemente von Erinnerungsbildern gewissermaßen in das äußere Objekt hineinverlegt“ werden.[1] Er wies auf die Möglichkeit eines Irrtums in Form einer Illusion hin, „namentlich wenn das Objekt und die reproduzierten Elemente erheblich voneinander abweichen“.[1] Man kann diesen Vorgang im analytischem Sprachgebrauch als Übertragung bezeichnen.[9](a) Damit werden die bei der Verschmelzung dem Objekt zu übertragenden psychischen Inhalte näher umrissen. Es handelt sich dabei bekanntlich um Projektionen frühkindlicher Einstellungen, Zurückweisungen, Wünsche und Gefühle auf das Objekt.[9](b) Je nach Art der Verschmelzung – besonders der unreifen Form – ist dies ein stark fordernder Vorgang, da er vom Objekt – selbstverständlich nur im Falle einer realen Person – eben von dieser als bedrängend und tyrannisch empfunden wird.[10](a) Im Gegensatz dazu können Identifikationen sehr konstruktiv empfunden werden.

Arten der Verschmelzung Bearbeiten

Heinz Kohut (1913–1981) hat die Verschmelzung auf zwei verschiedene Grundformen zurückgeführt.[10](b)

  1. die der „idealisierenden Übertragung“ oder „idealisierende Elternimago“ (reifere Form)
  2. die durch Erweiterung des Größen-Selbst bedingte Übertragung oder „Spiegelübertragung“ nebst einiger Unterformen (archaische Form)

Die älteste, archaische Form der symbiotischen Objektbeziehungen (oder der primären Identität mit dem Objekt) ist damit auf Objekte bezogen, die im Dienste des Selbst und seiner Aufrechterhaltung der Triebbesetzung benutzt werden, oder auf Objekte, die als Teil des Selbst erlebt werden. Diese letzteren hat Kohut Selbstobjekte genannt.[10](c) [9](c) [3](c)

Frühkindliche Erfahrungen und Gefühle Bearbeiten

Kohut warnt vor der naheliegenden Versuchung, frühe kindliche Erfahrungen durch Heranziehen von Beschreibungen späterer psychischer Zustände zu verfälschen (Adultomorphismus). Er betrachtet es als sinnvoller, die Umstände zu schildern, die psychische Zustände in einem so frühen Alter beeinflussen. Diese archaischen Erlebnisweisen werden allerdings durch spätere phasenspezifische Verinnerlichungen ergänzt. Sie sind Gegenstand der Idealisierung der Elternimago. Nicht nur die Art und Weise der mehr oder weniger behutsamen Ablösung des Kindes von dem Sicherheit bietenden Selbstobjekt der Mutter bestimmt den Ablauf der Reifung, auch biologische Gegebenheiten, wie die bei der Geburt, nach Durchtrennung der Nabelschnur, auftretende kurzfristige Hypoxie führen höchst wahrscheinlich zu psychischen Korrelaten, wie möglicherweise Urängsten (Enge). In der verstehenden Psychologie wird der Begriff des „symbiotischen Verstehens“ gebraucht. Dieser wird als Äquivalent der „instinkthaften Kontaktfähigkeit“ zu einem Lebewesen aufgefasst, das noch nicht in der Lage ist, seine eigenen Lebensinteressen wahrzunehmen und daher auf fremde Hilfe angewiesen ist. Die Entwicklung des Kindes ist also von Anfang an und in jeder kindlichen Entwicklungsphase auf die Bindung an Sorge tragendde andere Menschen angewiesen. Beim Menschen führt dieser Kontakt jedoch unausweichlich zur Berührung mit der jeweils bei der Kontaktperson gegebenen soziobiologischen Realität. Gesellschaftliche Faktoren bestimmen die Umstände und Ausprägung des damit verbundenen Ambivalenzkonflikts.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b c Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. 3 Bde., 5. Auflage, Leipzig 1902/1903, Bd. III., S. 529 zu Stw. „Assimilation“.
  2. a b Carl Gustav Jung: Definitionen. In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 6, „Psychologische Typen“. ISBN 3-530-40081-5; S. 467 ff., §§ 737–739 zu Stw. „Identifikation“.
  3. a b c Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven. © 1982 Kindler, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6:
    (a) S. 53, 187 zu Stw. „narzißtische Homöostase“;
    (b) S. 59 zu Stw. „ontologische Frage nach dem Selbst“;
    (c) S. 56 f., 123, 143, 203, 206, 210, 226, 236 f., 239 zu Stw. „Verschmelzung“.
  4. Sukie Colegrave: (orig.: „The Spirit of the Valley“ © 1979 by Sukie Colgrave), dt. Übers.: Yin und Yang. Die Kräfte des Weiblichen und des Männlichen. Eine inspirierende Synthese von westlicher und östlicher Weisheit. (= Fischer Bd. 3335). Frankfurt 1990, ISBN 3-596-23335-6; Lizenzausgb. Otto Wilhelm Barth Verlag im Scherz Verlag, Bern:
    S. 117 zu Stw. „Verschmelzung“ (nach Alan Watts);
    S. 121 zu Stw. „Verschmelzung“ (bei ausgereiftem Ambivalenzkonflikt).
  5. Alan Watts: Die Illusion des Ich. (orig.: The Book on the Taboo Against Knowing Who You Are. 1966), Goldmann 2005, ISBN 3-442-21717-2.
  6. Barbara Kuchler: Kuchler, B. 2019. Opfer romantischer Liebe. Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. 2019, (bezügl.: Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018) online.
  7. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. (Erstausgabe 1956) Ullstein Frankfurt 1984, Buch-Nr. 35258; S. 14 zu Stw. „Verliebtsein“.
  8. Platon: Symposion 189c–d.
  9. a b c Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. 3. Auflage, Urban & Schwarzenberg, München 1984:
    (a) S. 583 zu Wb.-Lemma: „Übertragung“;
    (b) S. 426 zu Wb.-Lemma: „Projektion“;
    (b) S. 549 zu Wb.-Lemma: „Symbiose“.
  10. a b c Heinz Kohut: The Analysis of the Self. A Systematic Approach to the Psychoanalytic Treatment of Narcissistic Personality Disorders. © by International University Press, Inc. New York 1971; dt.: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Suhrkamp stw 157, Frankfurt/Main 1973; ISBN 3-518-27757-X:
    (a) S. 140 zu Stw. „als bedrängend und tyrannisch empfundene Gegenübertragung“;
    (b) S. 139 ff. zu Stw. „Zwei Grundformen der Verschmelzung“;
    (c) S. 14 zu Stw. „Selbstobjekt vs. Objekte im Dienst der Triebbesetzung“.

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