Straßenszenen

Werkgruppe von Ernst Ludwig Kirchner

Die Straßenszenen bilden eine Werkgruppe, die der Maler Ernst Ludwig Kirchner zwischen 1913 und 1915 geschaffen hat. Diese besteht aus elf Gemälden, zahlreichen Skizzenbuchblättern, Tuschpinselzeichnungen, Pastell- und Kreidezeichnungen sowie Druckgraphiken. Die Bilder sind in Berlin entstanden und beinhalten das Thema der sich zur Metropole entwickelnden Großstadt, mit besonderem Augenmerk auf das pulsierende Straßenleben mit den hier sogenannten Kokotten, eleganten Halbweltdamen als Metapher für Hektik, Getriebensein und Sinnlichkeit in der wachsenden Stadt. Der Zyklus hat zahlreiche Bezüge in der Literatur und gilt als eines der bedeutendsten Werke des deutschen Expressionismus.

Gemälde

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Die Gemälde sind die zentralen Werke innerhalb des Zyklus der Straßenszenen. Die Reihe setzte gegen Ende des Jahres 1913 mit Fünf Frauen auf der Straße ein. Die Dynamik der Kompositionen steigerte sich im Verlauf der Entstehungszeit. Kirchner griff auf Stilmittel des Futurismus zurück, die Werke zeigen aber auch manieristische Elemente.[1] Vorwiegend sind die Bilder im Jahr 1914 entstanden und bis in das Jahr 1915 schloss Kirchner die meisten Arbeiten ab, doch stellte er einige der Gemälde erst später in den 1920er Jahren fertig.[2]

Die folgende Aufstellung enthält sowohl die deutschen als auch die englischen Titel, sie richten sich nach dem Werkverzeichnis von Donald E. Gordon. Da die Bezeichnungen teilweise sehr ähnlich sind, wurde zur besseren Unterscheidung und, um Verwechslungen zu vermeiden, zudem die Werkverzeichnisnummer (WVZ) angegeben.

Abbildung Titel, WVZ-Nr. und weitere Angaben Provenienz
 
Fünf Frauen auf der Straße
(Five Women on the Street)

1915, Öl auf Leinwand, WVZ 362
120 × 90 cm[3]
Es ist das erste Gemälde des Zyklus und zeigt fünf Kokotten, die auf einem Bürgersteig stehen.

Museum Ludwig, Köln

Das Gemälde wurde 1926 vom Museum Folkwang in Essen angekauft, dort am 6. Juli 1937 im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt und bis November 1937 in der gleichnamigen Schmähausstellung gezeigt. Anschließend wurde es im Depot Schloss Schönhausen als „international verwertbares“ Kunstwerk gelagert und gelangte im März 1940 in die Galerie Ferdinand Möller, Berlin. 1947 wurde es über die Galerie Günther Franke, München, an den Sammler Josef Haubrich verkauft, der es als Schenkung an das Wallraf-Richartz-Museum in Köln gab. 1976 wurde es von dort vom Museum Ludwig übernommen.

 
Berliner Straßenszene
(Berlin Street Scene)

1913/1914, Öl auf Leinwand, WVZ 363
121 × 95 cm[4]

Neue Galerie, New York

Das Gemälde stand 2006 durch einen als Causa Kirchner bezeichneten Rückgabestreit im besonderen Interesse der Öffentlichkeit. Es stammt aus der Sammlung Alfred & Thekla Hess und war ehemals das Eigentum des Kunstsammlers Alfred Hess. 1936 veranlasste seine Witwe Thekla Hess, geb. Pauson, die Übersendung des Werks an den Kunstverein in Köln. Von dort wurde es Ende 1936 unter ungeklärten Umständen an den Frankfurter Kunstsammler Carl Hagemann veräußert. Die Erben Hagemanns gaben das Gemälde 1948 als Schenkung an Ernst Holzinger, 1980 verkaufte es die Witwe Holzinger an die Stadt Berlin, wo es im Brücke-Museum ausgestellt wurde. Im Jahr 2006 gab die Stadt Berlin die Straßenszene, in Einhaltung der Grundsätze der Washingtoner Erklärung von 1998, an die Erben Hess zurück. Am 8. November 2006 wurde es im Auktionshaus Christie’s New York versteigert, neuer Eigentümer wurde die „Neue Galerie“ in New York.[5]

 
Die Straße
(The Street)

1913, Öl auf Leinwand, WVZ 364
120,6 × 91,1 cm[6]

Museum of Modern Art, New York

Das Gemälde wurde 1920 von der Berliner Nationalgalerie gekauft und im Kronprinzenpalais ausgestellt. 1937 wurde es im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt. Ab Oktober 1938 wurde es im Depot Schloss Schönhausen gelagert und im Februar 1939 über den Kunsthändler Karl Buchholz an das Museum of Modern Art in New York verkauft.

 
Straßenszene Berlin
(Street Scene)

1913, Öl auf Leinwand, WVZ 414 verso
69,9 × 50,8 cm[7] Das Bild ist die Rückseite des Gemäldes Kopf Gräf aus dem Jahr 1914.

Privatbesitz

Das Gemälde blieb bis zu dessen Tod in Kirchners Besitz und wurde über den Nachlass 1952 an den Sammler Werner Brunner in St  Gallen verkauft. 1978 erwarb es der Galerist Roman Norbert Ketterer, 1997 wurde es über Sotheby’s in London von dem kanadischen Sammler Charles Tabachnick ersteigert und in der Art Gallery of Ontario in Toronto ausgestellt. 2009 kam es erneut zur Versteigerung und wurde für 5,4 Millionen Englische Pfund an einen unbekannten Käufer veräußert.[8]

 
Straßenszene
(Street Scene)

1914/1922, Öl auf Leinwand, WVZ 365
70 × 48 cm[9]

Privatbesitz, Schweiz
 
Straße mit roter Kokotte
(Street with Red Cocotte)

1914/1925, Öl auf Leinwand, WVZ 366
120 × 90 cm[10]

Sammlung Thyssen-Bornemisza, Madrid
 
Friedrichstraße, Berlin
(Friedrich Street, Berlin)

1914, Öl auf Leinwand, WVZ 367
125 × 91 cm[11]

Staatsgalerie, Stuttgart
 
Leipziger Straße mit Elektrischer Bahn auch: Kleines Stadtbild
(Leipzig Street with Electric Tram)

1914, Öl auf Leinwand, WVZ 368
69,5 × 79 cm[12]

Museum Folkwang, Essen
 
Zwei Frauen auf der Straße
(Two Women on the Street)

1914, Öl auf Leinwand, WVZ 369
120,5 × 91 cm[13]

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
 
Potsdamer Platz, Berlin
(Potsdam Square, Berlin)

1914, Öl auf Leinwand, WVZ 370
200 × 150 cm[14]

Neue Nationalgalerie, Berlin
 
Frauen auf der Straße
(Women on the Street)

1915, Öl auf Leinwand, WVZ 427
126 × 90 cm[15]

Von der Heydt-Museum, Wuppertal

Zeichnungen und Graphiken

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Die umfangreiche Auseinandersetzung Kirchners mit dem Thema ist zudem in den erhaltenen 32 Skizzen, 15 Tuschpinselzeichnungen, 17 Pastell- und Kreidezeichnungen, 14 Holzschnitten, die teilweise handkoloriert wurden, 14 Radierungen und acht Lithographien zu erkennen. Eine kleine Auswahl ist im Folgenden gesammelt.

„Aufgedunsen schwankt man, um zu arbeiten, wo doch jede Arbeit vergeblich und der Ansturm des Mittelmäßigen alles umreißt. Wie die Kokotte, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg. Trotzdem versuche ich, immer noch Ordnung in meine Gedanken zu bringen und aus dem Verwirrenden ein Bild der Zeit zu schaffen, was ja meine Aufgabe ist.“

Ernst Ludwig Kirchner: Brief an Gustav Schiefler am 12. November 1916.[16]

Literatur

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  • Ernst Ludwig Kirchner, Gustav Schiefler: Briefwechsel 1910–1935/1938. Mit Briefen von und an Luise Schiefler und Erna Kirchner sowie weiteren Dokumenten aus Schieflers Korrespondenz-Ablage. Bearbeitet von Wolfgang Henze in Verbindung mit Annemarie Dube-Heynig und Magdalena Kraemer-Noble. Belser Verlag, Stuttgart/Zürich 1990, ISBN 978-3-7630-1969-4.
  • Ausstellungskatalog Ernst Ludwig Kirchner 1880–1938. Nationalgalerie Berlin, Haus der Kunst München, Museum Ludwig in der Kunsthalle Köln, Kunsthaus Zürich, 1979/1980.
  • Ernst Ludwig Kirchner. Von Jena nach Davos. Eine Ausstellung zum 90. Gründungsjubiläum des Jenaer Kunstvereins, Leipzig 1993, ISBN 3-363-00596-2.
  • Andreas Gabelmann: Ernst Ludwig Kirchner. Ein Künstlerleben in Selbstzeugnissen. Hatje Cantz, Ostfildern 2010, ISBN 978-3-7757-2526-2.
  • Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Kritisches Werkverzeichnis. München 1968.
  • Lothar Grisebach: Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch. Neuauflage von Lucius Grisebach, Ostfildern b. Stuttgart 1997, ISBN 3-7757-0622-4.
  • Lucius Grisebach: Ernst Ludwig Kirchner 1880–1938. Taschen, Köln 1995, ISBN 3-8228-8800-1.
  • Magdalene M. Moeller: Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913–1915. Hirmer Verlag, München 1993, ISBN 3-7774-6190-3.
  • Gerd Presler: Ernst Ludwig Kirchner. Die Skizzenbücher. Ekstase des ersten Sehens. Karlsruhe/Davos 1996, S. 94–100: Straßenszenen als Bewegungsfeld vieler. ISBN 3-925521-25-9.
  • Christian Saehrendt: E. L. Kirchner: Bohème-Identität und nationale Sendung. Frankfurt 2003, ISBN 3-631-50128-5.
  • Christian Saehrendt: Ein Alter Meister der Selbstinszenierung. In: Roland März und Katharina Henkel (Hrsg.): Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens. Katalog Nationalgalerie Berlin, Berlin 2001.
  • Eugen Wypich: Ernst Ludwig Kirchner: Gemälde 1911–1917. Analytische Untersuchungen zur Werkstruktur. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades im Fachbereich 08 Geschichtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen. Gießen 1983.

Zur kulturellen Großstadtentwicklung, insbesondere Berlin:

  • Jutta Held, Norbert Schneider: Sozialgeschichte der Malerei. Dumont, Köln 1993, 2. Auflage 1998, ISBN 3-8321-7400-1.
  • Eberhard Roters: Berlin 1910–1933. Die visuellen Künste. Kunstbuch, Berlin 1983.
  • Karl Scheffler: Berlin – Ein Stadtschicksal. Erich Reiss Verlag, Berlin 1910.
  • Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-06857-1.

Zum Begriff expressionistischer Künste:

  • Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche Dichter. Band 7. Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 3-15-008617-5.
  • Karl Ludwig Schneider: Zerbrochene Formen. Wort und Bild im Expressionismus. Hoffmann und Campe, Hamburg 1967.

Zum Bild der Kokotte:

  • Alfred Döblin: Jungfräulichkeit und Prostitution. In: Kleine Schriften I. 1985, ISBN 3-530-16687-1.
  • Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. 1.–7. Tsd., Suhrkamp, Berlin / Frankfurt am Main 1947.
  • Hans Ostwald: Die Berlinerin. Kultur- und Sittengeschichte Berlins. Berlin 1921.
  • Richard J. Evans: Prostitution, State and Society in Imperial Germany. In: Past and Present. Nr. 70. Februar 1976, S. 106–129.

Einzelnachweise

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  1. Magdalene M. Moeller: Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913–1915. Hirmer Verlag, München 1993, ISBN 3-7774-6190-3, S. 27.
  2. Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968, S. 100 ff.
  3. Werkverzeichnis Nr. 362, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  4. Werkverzeichnis Nr. 363, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  5. Gunnar Schnabel, Monika Tatzkow: Gutachten – Historische und juristische Grundlagen zur Rückgabe des Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner „Berliner Straßenszene“. (Memento vom 20. August 2016 im Internet Archive). In: nazi-looted-art.de. 25. Mai 2007, abgerufen am 13. Oktober 2023.
  6. Werkverzeichnis Nr. 364, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  7. Werkverzeichnis Nr. 414 verso, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  8. @1@2Vorlage:Toter Link/files.shareholder.comPresseerklärung Sotheby’s London, Januar 2009. (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven). In: files.shareholder.com. Abgerufen am 1. Oktober 2016.
  9. Werkverzeichnis Nr. 365, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  10. Werkverzeichnis Nr. 366, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  11. Werkverzeichnis Nr. 367, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  12. Werkverzeichnis Nr. 368, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  13. Werkverzeichnis Nr. 369, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  14. Werkverzeichnis Nr. 370, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  15. Werkverzeichnis Nr. 427, nach: Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968.
  16. Ernst Ludwig Kirchner, Gustav Schiefler: Briefwechsel: 1910–1935/1938. S. 86.