Die Siebtheorie bezeichnet eine Reihe von Techniken aus der analytischen Zahlentheorie. Die Grundidee ist, mittels eines mathematischen Siebes eine Grundmenge zu filtern, so dass am Ende eine gewünschte gesiebte Menge übrig bleibt, die nicht durch das Sieb gefallen ist. Dies können zum Beispiel Primzahlen, Primzahlzwillinge oder Fastprimzahlen sein. Der Archetyp eines Siebes ist das Sieb des Eratosthenes zum Ermitteln der Primzahlen. In erster Linie ist man an der Kardinalität der gesiebten Menge interessiert.

Die Siebtheorie hat sich zu einem mächtigen Instrument der analytischen Zahlentheorie entwickelt, die viele bedeutende mathematische Aussagen ermöglicht hat, wie z. B. den Satz von Chen und Yitang Zhangs Resultat über Primzahlabstände. Sie lässt sich aber auch auf andere mathematische Gebiete übertragen.

Siebmethoden haben aber auch Grenzen: so verhindert das sogenannte Paritätsproblem das Finden von nicht-trivialen unteren Schranken für die Primzahlzählfunktion. Klassische Siebmethoden können nicht zwischen Zahlen mit einer geraden und solchen mit einer ungeraden Anzahl von Primfaktoren unterscheiden; diese Eigenschaft nennt man das Paritätsproblem.[1]

Geschichte Bearbeiten

 
Viggo Brun

Das erste bekannte Sieb ist das antike Sieb des Eratosthenes zum Berechnen der Primzahlen. Das Sieb kann als Anwendung des Prinzips der Inklusion und Exklusion aus der Kombinatorik interpretiert werden und für die Berechnung der Primzahlfunktion benützt werden. Dies führt zu einer ersten Verallgemeinerung des Siebs von Eratosthenes von Adrien-Marie Legendre. Obwohl der Algorithmus sehr intuitiv ist, ist es nicht ganz einfach, das Konzept zu abstrahieren, deshalb entstand die moderne Siebtheorie erst Anfangs des 20. Jahrhunderts.

Der abstrakte Begriff des Siebs entstand mit der 1915 erschienenen Publikation des norwegischen Mathematikers Viggo Brun.[2] Bruns Arbeit war inspiriert durch die Arbeiten des Franzosen Jean Merlin, dieser verstarb aber im Ersten Weltkrieg und nur zwei seiner Manuskripte haben überlebt.[3] Als endgültiger Start der modernen Siebtheorie gilt Bruns 1919 veröffentlichte Publikation, in der er bewies, dass die Summe der reziproken Werte der Primzahlzwillinge konvergiert[4]

 

Die Konstante   zu der diese Summe konvergiert, nennt man Bruns Konstante. Das Brun-Sieb ist ein kombinatorisches Sieb, das auf der Idee eines gewichteten Prinzip der Inklusion und Exklusion basiert. In seiner einfachsten Form bezeichnet man es auch als Bruns reines Sieb.

1934 erschien ein einfaches Sieb von Pál Turán, das Turán-Sieb genannt wird.

1941 erschien das große Sieb von Juri Linnik, der probabilistische Methoden einführte. Linniks Ideen stellten sich als äußerst fruchtbar heraus und sukzessiv wurde das Sieb von vielen Mathematikern weiterentwickelt (darunter Rényi, Roth, Bombieri, Halberstam, Gallagher uvw.). Diese heutige Form befasst sich mit einem viel größeren Kontext als Linniks ursprüngliche Arbeit. Das große Sieb kann von der großen Sieb-Ungleichung abgeleitet werden.[5]

1947 erschien ein weiteres wichtiges Sieb von Atle Selberg, genannt Selberg-Sieb. Selberg nützte dabei Bruns Ansatz und gab eine einfache Folge von Gewichten an.[6]

In den 1970ern erschien das asymptotische Sieb von Bombieri. Bombieri lieferte asymptotische Formeln für die verallgemeinerte Mangoldt-Funktion.[1]

Mitte der 1990er veröffentlichten John Friedlander und Henryk Iwaniec partitätsempfindliche Siebe, welche das sogenannte Partiätsproblem in manchen Fällen lösen.[7] Dies bezeichnet die Eigenschaft, dass die Siebtheorie im Allgemeinen nicht zwischen Zahlen mit einer geraden und einer ungeraden Anzahl von Primfaktoren in einer Menge unterscheiden kann. Dies hat zur Folge, dass es äußerst schwierig ist, nicht-triviale untere Schranken für Primzahlmengen zu finden.

2005 veröffentlichten Goldston, Pintz und Yıldırım eine Variante des Selberg-Siebs mit verallgemeinerten, mehrdimensionalen Sieb-Gewichten, das unter dem Namen GPY-Sieb bekannt ist. Mit dieser Methode zeigten sie, dass es unendlich viele Primzahltupel gibt, deren Abstände (die Primzahllücke) beliebig kleiner sind, als der Durchschnittsabstand, der aus dem Primzahlsatz folgt. Aus diesem folgt nämlich, dass der Abstand zwischen zwei benachbarten Primzahlen  , deren Größe etwa   ist, in etwa   ist. 2013 erweiterte Yitang Zhang diese Sieb-Methode und zeigte, dass es unendlich viele Primzahlpaare mit Differenz kleiner als   gibt. Kurz darauf im selben Jahre wurde diese Grenze von James Maynard mit einer weiteren Modifikation des GPY-Siebs durch neue Gewichte auf   gedrückt.[8]

Siebtheorie Bearbeiten

Wir folgen dem Ansatz aus Opera de Cribro von Friedlander und Iwaniec.[9]

Notation:

Wir bezeichnen mit

  •   die Menge der Primzahlen.
  •   die Indikatorfunktion einer Menge  .
  •   die Kardinalität einer Kongruenzmenge (in der Literatur wird diese auch mit   notiert).
  •   den größten gemeinsamen Teiler  .
  •   die Abrundungsfunktion.
  •   den Nachkommateil, das heißt  .
  •   und   die Kardinalität von  .

Grundidee Bearbeiten

Sei   eine beliebige abzählbare Grundmenge bis zur Zahl  . Die Restriktion bis   muss nicht sein, ist aber üblich. Angenommen, wir möchten nun alle Primzahlen in   finden, die sich nicht in einer vorgegebenen Primzahlmenge   befinden.

Wenden wir das Sieb des Eratosthenes an, dann entfernen wir von   in einem ersten Schritt alle Vielfachheiten von   und danach sukzessiv für jedes   alle anderen Mengen der Form

 

Die resultierende Menge ist die gesiebte Menge (englisch sieved set)

 

bestehend aus den zu   teilerfremden Zahlen

 

Aus Notationsgründen definieren wir für   folgende Funktion

 

Das Inklusion-Exklusion-Prinzip Bearbeiten

Sei nun   eine Primzahlmenge der Form  .

Möchte man die Kardinalität von   berechnen, so zieht man von   in einem ersten Schritt die Kardinalität von   und   ab. Da man jetzt aber die Zahlen, welche durch   und   teilbar sind, doppelt abgezogen hat, muss man die Kardinalität von   wieder dazuzählen. Nun zieht man die Kardinalität von   ab und zählt die von   und   dazu. Zusätzlich muss man nun noch die Menge   abziehen, also die Menge der Zahlen die durch   und   teilbar sind. Wiederholt man diese Schritte nun für alle Primzahlen  , so führt das zum Prinzip von Inklusion und Exklusion

 .

Der Vorzeichenwechsel kann durch die Möbiusfunktion modelliert werden.

Das Siebproblem Bearbeiten

Die Menge   nennt man Siebmenge (englisch sifting set) und die Menge   Siebbereich (englisch sifting range). Die Kardinalität der Menge   bezeichnet man als Siebfunktion (englisch sifting function):

 

Die Siebfunktion zählt somit alle Elemente in der Menge  , die nicht durch ein Element der Menge   teilbar sind.

Häufig kann man   nicht explizit berechnen, deshalb versucht man eine obere und untere Schranken zu finden. Das Abschätzen der Siebfunktion nennt man Siebproblem.

Beispiel Bearbeiten

Sei  , betrachte alle Primzahlen   und sei  , dann zählt   alle Elemente in  , welche nicht durch eine der Primzahlen bis   teilbar sind.

Zählen durch eine abstrakte Folge Bearbeiten

Da wir im Wesentlichen an der Evaluation einer Summe der Form

 

interessiert sind, ist es natürlich, den Zählfaktor   als abstrakte Folge zu betrachten. Im Allgemeinen wählt man dafür eine endliche Folge von nicht-negativen reellen Zahlen  . Dieser Abstraktionsschritt hat den Vorteil, dass man später auch ziemlich allgemeine Folgen wählen kann (zum Beispiel komplex-wertige wie im großen Sieb), um das Problem in andere Räume zu übertragen. Dadurch kann man analytisch interessantere Funktionen als die Indikatorfunktion analysieren.

Wir wählen für   die charakteristische Funktion von  , das heißt

 

Die Folge ist so sortiert, dass sich die Zahl   an der Position   befindet. Die charakteristische Funktion von   ist eine Teilfolge   von  .

Kongruenz-Teilfolgen Bearbeiten

Zusätzlich definieren wir Teilfolgen von   bestehend aus den   mit  , das heißt

 

und führen deren Summen ein, welche wir Kongruenzsumme nennen

 

In der Regel betrachtet man nur   für quadratfreie Zahlen  .[9]

Identitäten für die Siebfunktion Bearbeiten

Die Siebfunktion ist

 

und die Restriktion durch die Teilerfremdheit lässt sich mit Hilfe der Möbiusfunktion ausdrücken, denn es gilt

 

Somit erhalten wir für die Siebfunktion

 

wobei die letzte Summe eine Kongruenzsumme ist.

Legendres Identität Bearbeiten

Wir haben somit folgende Identität für die Siebfunktion hergeleitet

 

die auch Legendres Identität genannt wird. Die Kongruenzsumme ist die Masse aller Vielfachheiten von  .

Beispiel Bearbeiten

Sei   und  . Die Möbiusfunktion ist für alle Primzahlen negativ, somit gilt

 

Approximation der Kongruenzsumme Bearbeiten

Wir nehmen an, wir können die Kongruenzsumme aufteilen

 

wobei   eine Approximation der gesamten Masse ist

 

Die Funktion   kann als Wahrscheinlichkeit interpretiert werden und wird deshalb Dichtefunktion genannt. Wir setzen voraus, dass   eine multiplikative Funktion ist und folgendes gilt

 

Die Funktion   bezeichnet einen Restterm, den man möglichst klein halten möchte.

Die Siebfunktion lässt sich nun als

 

schreiben, was oft abgekürzt wird mit

 

Identität für die Möbiusfunktion und eine multiplikative Funktion Bearbeiten

Sei   eine multiplikative Funktion mit  , dann gilt für alle  

 

Zusammengefasst Bearbeiten

Die Ausgangslage einer Siebmethode lässt sich grob wie folgt zusammenfassen:[9]

Wir beginnen mit einer nicht-negativen Folge   und einer Primzahlmenge   sowie

 

Dann definiert man die Siebfunktion

 

wobei

 

Beispiele Bearbeiten

Das Sieb von Eratosthenes-Legendre Bearbeiten

Wir betrachten das Sieb von Eratosthenes. Sei  ,  ,   und   sowie[10]

 

sowie

 

Die Siebfunktion ist somit

 

mit

 

Wählt man  , so erhält man gerade alle Primzahlen im Interval   und somit

 

Für   gilt

 

wobei wir in der letzten Gleichung den Satz von Mertens mit Restterm verwendet haben. Für den Restterm nützen wir die Abschätzung

 

Wir kriegen folgende Abschätzung

 

Wir können den Restterm verbessern, wenn wir   wählen, denn dann gilt

 

und wir erhalten

 

Daraus folgern wir

 

was aber ein schlechteres Resultat als der Primzahlsatz ist.

Bruns reines Sieb Bearbeiten

Bruns Idee beruht auf der Beobachtung, dass das Sieb von Eratosthenes-Legendre betrachtet als das Prinzip der Inklusion und Exklusion jeweils für jede Partialsumme abwechselnd über- und unterzählt. Seine Idee war es deshalb, die Partialsummen zu gewichten, indem er die Möbiusfunktion   durch eine passende Folge   auf einem kleineren Träger ersetzt

 

Hierzu wählte er die Menge  , wobei   die Prim-Omega-Funktion bezeichnet, welche die distinkten Primfaktoren zählt.

Sei   die Anzahl Elemente in  , dann sagt man   ist ein Sieb mit Niveau   (englisch sieve of level D).

Sieb-Gewichte Bearbeiten

Die   nennt man Sieb-Gewichte (oder siebende Gewichte) und die neue Siebfunktion wird mit   notiert. Allgemein ist diese nun nicht mehr gleich groß wie die ursprüngliche Siebfunktion.

Wählt man zwei verschiedene Folgen   und   mit der Eigenschaft

 

dann erhält man ein unteres und oberes Schrankensieb

 

Häufig notiert man diese Schranken auch nur mit   und  . Diese Ungleichung ist die einfachste Form der Methode von Brun und sie trägt daher den Namen Bruns reines Sieb.[11]

Anwendung: Primzahlzwillinge Bearbeiten

Sei  ,  ,  ,   und  . Weiter sei

 

dann ist für  

 

Für den Restterm gilt

 

Es lässt sich mit Hilfe von Bruns Sieb folgende Ungleichung für die Primzahlzwillinge herleiten:

 

woraus Bruns Theorem über die Primzahlzwillinge folgt.[11]

Das Sieb von Goldston-Pintz-Yıldırım Bearbeiten

Sei

  mit   und  .

und

 

Das GPY-Sieb hat verallgemeinerte Selberg-Gewichte von der Form

 .[12]

Literatur Bearbeiten

Allgemeine Siebtheorie Bearbeiten

Literatur über das große Sieb Bearbeiten

  • Emmanuel Kowalski: The Large Sieve and its Applications: Arithmetic Geometry, Random Walks and Discrete Groups. In: Cambridge University Press (Hrsg.): Cambridge Tracts in Mathematics. 2008, doi:10.1017/CBO9780511542947 (englisch).

Geschichte der Siebtheorie Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Kevin Ford: On Bombieri's asymptotic sieve. Hrsg.: arXiv. 2004, doi:10.48550/ARXIV.MATH/0401215, arxiv:math/0401215.
  2. Viggo Brun: Über das Goldbachsche Gesetz und die Anzahl der Primzahlpaare. In: Archiv for Math. Naturvidenskab. Band 34, 1915.
  3. Alina Carmen Cojocaru und M. Ram Murty: An Introduction to Sieve Methods and Their Applications. Hrsg.: Cambridge University Press. 2005, doi:10.1017/CBO9780511615993 (englisch).
  4. Viggo Brun: La série 1/5+1/7+1/11+1/13+1/17+1/19+1/29+1/31+1/41+1/43+1/59+1/61+..., où les dénominateurs sont nombres premiers jumeaux est convergente ou finie. In: Bulletin des Sciences Mathématiques. Band 43, 1919, S. 100–104, 124–128 (französisch, bnf.fr).
  5. John Friedlander und Henryk Iwaniec: Opera de Cribro. In: American Mathematical Society (Hrsg.): American Mathematical Society Colloquium Publications. Band 57, 2010, ISBN 978-0-8218-4970-5, S. 151.
  6. Atle Selberg: On an elementary method in the theory of primes. In: Norsk. Vid. Selsk. Forh. Band 19, Nr. 18, 1947, S. 64–67.
  7. John Friedlander und Henryk Iwaniec: Using a parity-sensitive sieve to count prime values of a polynomial. In: PNAS. Band 94, Nr. 4, 1997, S. 1054–1058, doi:10.1073/pnas.94.4.1054, PMID 11038598, PMC 19742 (freier Volltext). (Zusammenfassung der Resultate)
  8. James Maynard: Small gaps between primes. In: Annals of Mathematics. Band 181, Nr. 1, 2015, S. 383–413, doi:10.4007/annals.2015.181.1.7, arxiv:1311.4600 [abs].
  9. a b c John Friedlander und Henryk Iwaniec: Opera de Cribro. In: American Mathematical Society (Hrsg.): American Mathematical Society Colloquium Publications. Band 57, 2010, ISBN 978-0-8218-4970-5.
  10. John Friedlander und Henryk Iwaniec: Opera de Cribro. In: American Mathematical Society (Hrsg.): American Mathematical Society Colloquium Publications. Band 57, 2010, ISBN 978-0-8218-4970-5, S. 5;31–33.
  11. a b John Friedlander und Henryk Iwaniec: Opera de Cribro. In: American Mathematical Society (Hrsg.): American Mathematical Society Colloquium Publications. Band 57, 2010, ISBN 978-0-8218-4970-5, S. 6;55–56.
  12. Daniel A. Goldston, János Pintz und Cem Y. Yildirim: Primes in Tuples I. In: Annals of Mathematics. Band 170, Nr. 2, 2009, S. 827–829, doi:10.4007/annals.2009.170.819.