Hannibal-Direktive

geheime Direktive der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte

Die Hannibal-Direktive (hebräisch נוהל חניבעל, נֹהַל חַנִיבַּעַל Nohal Ḥanibaʿal, wörtlich Hannibal-Verfahren) ist eine geheime und kontroverse Direktive der israelischen Armee, die das Vorgehen der Truppe regelt, wenn israelische Soldaten in feindliche Gefangenschaft geraten.

Inhalt der Direktive Bearbeiten

Die israelische Zensur verbot es Journalisten siebzehn Jahre lang, über die Direktive zu berichten, und ihr genauer Inhalt ist bis heute nicht völlig klar.[1]

Im Jahr 2003 berichtete schließlich Haaretz, dass ein toter Soldat aus Sicht der Armee besser sei als ein gefangener Soldat, der leidet und den Staat zwingen könnte, im Rahmen eines Austausches tausende Gefangene freizulassen, um seine Freilassung zu erwirken.[2]

Nach der „Hannibal-Direktive“ sind israelische Kommandeure und Soldaten offenbar angehalten, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um eine Gefangennahme zu verhindern, auch wenn dies den Tod des Gefangenen nach sich zieht. Der Gefangene selbst ist angeblich ebenfalls angehalten, nicht lebend in Gefangenschaft zu geraten und sich und seine Entführer im äußersten Fall mittels Handgranate zu töten.[3][4][5][6]

Nach der Anwendung der „Hannibal-Direktive“ in Rafah im Gazastreifen Anfang August 2014 wurde die Direktive dahingehend interpretiert, dass die israelische Armee alles tun müsse, den israelischen Gefangenen zu töten, wenn sie ihn nicht unmittelbar befreien kann.

Anwendung Bearbeiten

Während des Angriffs der israelischen Armee auf die im Gazastreifen regierende Hamas im Juli und August 2014 wurde der israelische Soldat Hadar Goldin vermisst. Nachdem Hamas-Quellen von einer erfolgreichen Verschleppung eines israelischen Soldaten berichteten, musste die Armee von einer Entführung ausgehen. Bei der Anwendung der „Hannibal-Direktive“ Anfang August 2014, einem massiven Angriff mit Panzermunition, Artilleriebeschuss und Luftangriffen, „um das Gebiet zu isolieren, in dem man Goldin vermutete“, wurden 130 bis 150 Palästinenser getötet, die meisten davon Zivilisten, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, die vor dem massiven Angriff nicht gewarnt worden waren. Nach Angaben aus Militärkreisen handelte es sich um die bislang aggressivste Operation dieses Typs der israelischen Armee. Später stellte sich heraus, dass Goldin schon im ersten Feuergefecht getötet worden war.[7] Amnesty International und ein Forscherteam von Forensic Architecture erstellten einen Bericht auf der Grundlage von Zeitzeugeninterviews sowie Video- und Photoaufnahmen, aus dem die Forscher ableiteten, dass die Hannibal-Direktive der israelischen Armee in exzessiver Form angewendet worden war.[8][9] Nach öffentlichen Anschuldigungen und internen Untersuchungen des als „Black Friday“ bezeichneten Vorgangs nahm das israelische Militär die Direktive im Jahr 2016 zurück.[10] Sie wurde von einer Anordnung ersetzt, die zwischen Entführungen von Soldaten während und außerhalb von Gefechtszeiten unterscheidet.[11]

Im Januar 2024 äußerte die israelische Zeitung Haaretz in einem Leitartikel den Verdacht, die Hannibal-Direktive sei beim Massaker von Be’eri angewendet worden, und forderte eine Stellungnahme von den israelischen Streitkräften.[12]

Kritik Bearbeiten

Einige Kommandanten weigerten sich, ihren Truppen die „Hannibal-Direktive“ zu erklären, da sie diese für offenkundig rechtswidrig hielten.

Uri Miśgav nannte die „Hannibal-Direktive“ eine „Monstrosität“ (מפלצתיות) und „Kannibalismus“ (קניבליזם).[13]

Die Dokumentation von Forensic Architecture zum Schwarzen Freitag wurde als Film Hannibal in Rafah im Jahr 2016 auf der Berlinale gezeigt.[14]

Literatur Bearbeiten

  • Gili Cohen: Dozens of innocents killed in IDF’s ‚Hannibal‘ protocol. In: Haaretz, 4. August 2014.
  • Anshel Pfeffer: The Hannibal Directive: Why Israel risks the life of the soldier being rescued. In: Haaretz, 4. August 2014.
  • Amos Harel, Gili Cohen: What happened in Gaza’s Rafah on ‚Black Friday‘?. In: Haaretz, 8. August 2014.
  • Uri Miśgav: מצוק איתן לסגן איתן: דוקטרינת חניבעל נחשפת במלוא היקפה. In: Haaretz, 11. August 2014.

Weblinks Bearbeiten

Fußnoten Bearbeiten

  1. Margalit 2014, Pfeffer 2014.
  2. Leibovich-Dar 2003.
  3. שרה ליבוביץ-דר: דילמת השבוי. 20. Mai 2003, abgerufen am 2. August 2014 (hebräisch).
    Sara Leibovich-Dar: The Hannibal Procedure. 21. Mai 2003, abgerufen am 1. August 2014 (englisch).
  4. Uri Avnery; Ellen Rohlfs (Übs.): Hannibals Prozedur. In: AG Friedensforschung. 25. Mai 2003, abgerufen am 2. August 2014.
  5. Ulrike Putz: Gaza-Konflikt: Israels heikle Hannibal-Direktive. 21. Juli 2014, abgerufen am 1. August 2014.
  6. Anshel Pfeffer: Hamas claims its prize and deepens its isolation. 1. August 2014, abgerufen am 1. August 2014 (englisch).
  7. Cohen 2014, Zavadski 2014, Harel/Cohen 2014, Haaretz 2004.
  8. Lizzie Dearden: Israel accused of killing 75 children during day of 'carnage' and war crimes in Gaza war. Independent, 29. Juli 2015, abgerufen am 15. Juli 2018
  9. Strong Evidence' of Israeli War Crimes in Gaza, Says New Amnesty Report. Newsweek, 29. Juli 2015, abgerufen am 15. Juli 2018
  10. Raf Sanchez: Israel ends the 'Hannibal Directive' - military policy to kill your own troops rather than let them be captured. Telegraph, 29. Juni 2016, abgerufen am 15. Juli 2018
  11. Gili Cohen: The IDF Wanted to Investigate a Key Moment in the Gaza War. Netanyahu Said No. In: Haaretz vom 13. Juli 2017, abgerufen am 24. September 2018 (englisch)
  12. The IDF Must Investigate the Kibbutz Be'eri Tank Fire Incident – Right Now, Haaretz, 8. Januar 2024
  13. Miśgav 2014.
  14. Hannibal in Rafah: A reconstruction of one bloody day in the 2014 Gaza War from user generated videos. Filmdatenblatt Berlinale, abgerufen am 15. Juli 2018