Glockengiebel
Ein Glockengiebel (französisch clocher-mur; englisch bell-gable oder bell-cot, spanisch espadaña, katalanisch espadanya) ist ein mauerartiger Giebelaufbau mit einer oder mehreren Öffnungen, in denen Glocken aufgehängt sind.[1]
Verwendung und Funktion
BearbeitenEin Glockengiebel hat bogenförmige Öffnungen, in denen die meist kleinen Kirchenglocken freischwingend aufgehängt sind. Sie wurden in der Regel von außen mit langen Seilen geläutet; einige Konstruktionen ermöglichten auch das Läuten von innen. Die Mauerscheibe ist meist selbst mit einem Giebel abgeschlossen.
Er dient bei Kirchenbauten – ähnlich wie ein Dachreiter – als kostengünstiger oder bewusst zurückhaltender Ersatz für einen aufragenden Glockenturm oder Glockenstuhl.
Neuzeitliche, in der Funktion vergleichbare, aber meist freistehende Gebäudeteile, die nicht über dem Giebel errichtet wurden, werden Glockenträger genannt.
Geschichte
BearbeitenAntike oder frühmittelalterliche Vorläufer der Glockengiebel sind nicht bekannt; ihr Ursprung liegt wahrscheinlich erst im ausgehenden 11. oder im beginnenden 12. Jahrhundert. Während sie in der Architektur der Romanik häufig vorkommen, verschwinden sie in der Gotik nahezu völlig, erfahren jedoch in der Renaissance und im Barock bei einfachen, meist ländlichen Kirchenbauten eine Wiederbelebung.
Die Datierung von Glockengiebeln ist schwierig, da sie in vielen Fällen nachträglich hinzugefügt oder modernisiert wurden.
Formen
BearbeitenManche Glockengiebel sollten wahrscheinlich auch oder hauptsächlich Ziergiebel sein.
Sowohl einfache, doppelte als auch mehrgeschossige oder breitgelagerte Glockengiebel kommen vor – letztere werden auch „Glockenarkaden“ genannt. Im Norden Kataloniens gibt es sogar einige zinnenartige, nach oben offene Glockengiebel (z. B. die Kirchen Sant Vicenç de Vilamalla oder Sant Martí d’Empúries). Während die Innenseiten der Bögen meist undekoriert sind, haben die Außenseiten manchmal dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechende Verzierungen in Form von kleinen Obelisken, Kugeln, Voluten usw.
Platzierung
BearbeitenGlockengiebel überragen zumeist die der Apsis einer Kirche gegenüberstehende westliche Giebelwand; in seltenen Fällen (z. B. bei einigen Kirchen im Südwesten Frankreichs oder im Norden Spaniens) befindet sich der Glockengiebel außen über dem Chor- oder Triumphbogen zwischen Langhaus und Apsis (z. B. Iglesia San Salvador in Tirgo). Auch längsgestellte Glockengiebel sind möglich (z. B. Iglesia San Martin in Briviesca oder Ermita Santo Cristo de San Sebastián in Coruña del Conde). Im Barock wurden einige wenige Glockengiebel in den Gesamtbaukörper integriert (siehe Pedro de Ribera); andere stehen frei neben der Kirche („Glockenwand“ oder Kodonostasion). Einige wenige bedeutende Kirchen verfügen sogar über zwei Glockengiebel. Die Kirche Sant Bartomeu in Sóller, Mallorca, erhielt bei der Neugestaltung der Fassade im Jahr 1904 einen diademartigen funktionslosen Glockengiebel.
Geographische Verteilung
BearbeitenDer Glockengiebel ist ein Element der Kirchenarchitektur Südeuropas und im ehemals spanisch-portugiesischen Kolonialreich.
Typische Glockengiebel finden sich nahezu ausschließlich auf Kirchen des nördlichen Mittelmeerraums; in Mittel- und Nordeuropa sind sie eher selten bzw. in ihrer Form oft verfremdet. Mit den spanischen Conquistadoren und Missionaren kamen sie auch auf die Kanarischen Inseln sowie nach Nord-, Mittel- und Südamerika und auf die Philippinen. Einen der wenigen Glockengiebel außerhalb des beschriebenen Verbreitungsraumes besitzt die St.-Johannes-Nepomuk-Kirche in Altenberge-Hansell (Nordrhein-Westfalen).
Beispiele
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Prieuré de Marcevol, Roussillon (Mitte 12. Jh.)
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San Salvador de Cantamuda, Kastilien (um 1200)
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Ermita San Miguel, Santo Toribio de Liébana, Kantabrien (13. Jh.)
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Santa María de la Oliva, Villaviciosa, Asturien (urspr. 13. Jh.)
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Notre-Dame-de-l’Assomption in Villefranche-de-Lauragais, Lauragais (um 1360)
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Saint-André in Gotein-Libarrenx, Baskenland (um 1500)
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San Millan in Villamaderne, Baskenland (um 1600)
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Portal der Kapelle des Pfand- und Armenhauses von Madrid (Monte de Piedad; 1733)
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Templo del Calvario in Chiapa de Corzo, Chiapas, Mexiko (17. und 19. Jh.)
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St. Johannes Nepomuk in Altenberge-Hansell, NRW (1765)
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Église Saint-Hilaire in Cros-de-Ronesque, Auvergne (16. Jh.)
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Iglesia de San Pedro in Ribafrecha, La Rioja (um 2000)
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Kirche von Navalsauz, Provinz Ávila, Spanien
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Berlin-Wartenberg – Dorfkirche
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Heilig-Kreuz-Kirche, Meiningen, Thüringen
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Bruder-Klaus-Kirche, Biel, Schweiz
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Frauenbergkirche, Nordhausen, Thüringen
Rathäuser
BearbeitenAuf Profanbauten (z. B. Rathäusern) sind Glockengiebel äußerst selten; in Spanien, Portugal sowie in Mittel- und Südamerika gibt es aber einige wenige historische Beispiele. Das Glockengeläut diente hier dazu, Aufmerksamkeit zu erregen (z. B. bei Bränden, politischen Zusammenkünften, öffentlichen Bekanntmachungen, Empfang von Ehrengästen usw.). Außerdem sahen sich viele weltliche Ratsherren in einer gewissen Konkurrenzsituation zu den kirchlichen Autoritäten.
Häuser
BearbeitenIn den Küstenstädten Mitteleuropas (Flandern, Holland, Friesland, Ostseeraum) werden Giebel mit glockenförmiger Silhouette auf repräsentativen städtischen bzw. bürgerlichen Bauten der Barockzeit ebenfalls als „Glockengiebel“ bezeichnet. Sie haben jedoch mit den Glockengiebeln im engeren Sinne nichts gemein.
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Hans Koepf, Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 194). 4., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-19404-X (Digitalisat auf moodle.unifr.ch, abgerufen am 18. Januar 2024), S. 221 f.
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Hans Koepf, Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 194). 4., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-19404-X (Digitalisat auf moodle.unifr.ch, abgerufen am 18. Januar 2024), S. 221 f.