Erwin Rousselle

deutscher Sinologe

Erwin Wilhelm Friedrich Arthur Rousselle (* 8. April 1890 in Hanau; † 11. Juni 1949 in Eschenlohe) war ein deutscher Sinologe und Freimaurer, der bedeutende Beiträge insbesondere im Bereich der Buddhismuskunde und des lebendigen Daoismus leistete.

Leben Bearbeiten

Erwin Rousselle wurde als Sohn des Bergingenieurs und Basaltwerkbesitzers Friedrich Jakob Rousselle (1860–1949) und seiner Frau Eugenie (geb. Zichner, 1861–1950) in eine hugenottische Familie geboren.[1]

Nach dem Abitur am Königlichen Gymnasium Hanau (1909) studierte er an den Universitäten München (1909–1910), Heidelberg (1910–1911 und 1915–1919), Freiburg im Breisgau (1912–1913) und Berlin (1913–1915) mit dem Schwerpunkt Orientalistik (Semitistik, Iranistik und Indologie). An der Universität Heidelberg wurde er 1916 zum Thema Der Tosephtatraktat Pesachim (Text, Übersetzung, Erklärung) nebst einer historisch-kritischen Einführung in Philosophie und folgend 1921 in Rechtswissenschaft promoviert. Er studierte bei Friedrich Ernst August Krause (1879–1942)[2], dem ersten Sinologen in Heidelberg, und Max Walleser[3], der 1928 in Heidelberg ein buddhologisches Institut eröffnete. Bei Baron Alexander von Staël-Holstein lernte er Tibetisch.[4] 1923 habilitierte Rousselle sich für Vergleichende Philosophie des Morgen- und Abendlandes an der Technischen Hochschule Darmstadt. Über Hermann KeyserlingsSchule der Weisheit“ und den Eranos-Kreis, wo er Vorträge hielt, kam es zu ersten interdisziplinären Zusammenarbeiten u. a. mit C.G. Jung, Heinrich Zimmer und Rabindranath Tagore.[5][6]

„Von 1924 bis 1929 lehrte Erwin Rousselle in China als Professor für Deutsche Philosophie an der Chinesischen Reichs-Universität, als Gastprofessor für Vergleichende Linguistik an der Tsing-Hua-Universität und war Direktor des Sino-Indian-Instituts an der Yenching-Universität. Neben Richard Wilhelm war er wohl der einzige Europäer, der eine lebendige daoistische Übertragung bis zu deren Realisierung erfahren durfte.“ (Franz Peschke, 2017)[7]

1930 kehrte er als Privatdozent, diesmal für Philosophie und Soziologie Asiens, an die Technischen Hochschule Darmstadt zurück. 1931 wurde er als Nachfolger des 1930 verstorbenen Richard Wilhelm Direktor des China-Instituts Frankfurt und Dozent für Sinologie und Buddhologie an der Universität Frankfurt. Nach einer diesbezüglichen Habilitation (1933) wurde er 1935 außerordentlicher Professor an der Universität Frankfurt. Die „Richard-Wilhelm-Professur“ und das China-Institut waren jedoch auf Stiftungsgelder und private Mäzen angewiesen, was nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933[8] und dann dem Beginn des Zweiten Weltkrieges verstärkte finanzielle Schwierigkeiten mit sich brachte, denen Rousselle viel Zeit widmen musste. Bis 1942 gelang ihm noch die weitere – zwar verringerte – Herausgabe der „Sinica. Zeitschrift für Chinakunde und Chinaforschung“, in der schon früher viele seiner Beiträge erschienen waren.

„Ein zweiter Chinaaufenthalt (1938–1940) führte ihn ins Innere des Landes (u. a. Begegnung mit Thubten Chökyi Nyima, dem 6. Panchen Lama)“[9] und sollte die hauptsächlich von ihm aufgebaute Sammlung des China-Institutes erweitern. „Nach Deutschland zurückgekehrt, wurden ihm als NS-Regimekritiker sukzessiv die Professur entzogen[10], Redeverbot erteilt und die Leitung des China-Instituts entzogen.“[11][12][13] Rousselles Nachfolger wurde 1942 (de facto Januar 1943) Carl Philipp Hentze, protegiert vom Reichsministerium und der NSDAP-Gauleitung (Jakob Sprenger).[14][15]

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Adolf Ellegard Jensen kommissarischer Leiter des China-Instituts, vom Mai 1948 bis zu seinem Tod wiederum nur kommissarisch Roussell. Bei der offiziellen Neubesetzung der Leitung des China-Instituts und der Professur für Sinologie galt Hentze aufgrund der Umstände seines Amtsantritts als politisch belastet. Dennoch bewarb sich Hentze ebenso wie Rousselle, wodurch es zu Streitigkeiten zwischen beiden kam. Da Rousselle 1949 verstarb, behielt Hentze die „entpflichtete“ Professur noch bis 1954/55. Jensen übernahm bis 1960 erneut die kommissarische, nur nominelle Leitung des China-Institutes.[16][17]

Erwin Rousselle war Mitglied der Freimaurerloge Zum flammenden Schwert in Darmstadt,[18] die der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland angehört, und darüber auch mit Karl Bernhard Ritter bekannt. Er wirkte außerdem als Diakon im Konsistorium der Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main.

Würdigung Bearbeiten

Erwin Rousselle war neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten ein praktizierender Mystiker, der nicht nur in der buddhistischen und daoistischen Welt verkehrte, sondern auch u. a. als Diakon für ein positives Christentum von ökumenischer Breite und universalistischer Weite aktiv warb. Sein Leben war durch lebendige Gotteserfahrung geprägt, die ihn für ein gegenseitiges Verständnis aller Religionen auf Erden eintreten ließ.

Werke Bearbeiten

Viele Schriften und Artikel wurden in Der Weg zur Vollendung, Sinica, Eranos veröffentlicht.

  • Historisch-kritische Einführung in den Tosephtatraktat Pesachim. Verlag Albert Hille, Dresden, 1916 [Teilabdruck der Dissertation]
  • Das Mysterium der Wandlung. Darmstadt 1923.
  • Vom Sinn der buddhistischen Bildwerke in China. Darmstadt 1958. (Nachdruck aus der Sinica 1931–35)
  • Lau-Dse, Führung und Kraft aus der Ewigkeit. 1946.
  • Lau-Dsis Weg. München 1973.
  • Zur seelischen Führung im Taoismus. Darmstadt 1962.
  • Kleine Schriften: Buddhistische Studien. Aschaffenburg 2011.

Einige Arbeiten Rousselles sind posthum erschienen, andere werden posthum neu aufgelegt.

Literatur Bearbeiten

  • Wolfgang Fenske: Rousselle, Erwin. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 31, Bautz, Nordhausen 2010, ISBN 978-3-88309-544-8, Sp. 1160–1163.
  • Lisette Gebhardt: Akademische Arbeit und Asienkult: Wilhelm und Rousselle als Vermittler asiatischer Religion. In: Dorothea Wippermann, Georg Ebertshäuser (Hrsg.): Wege und Kreuzungen der Chinakunde an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main: Beiträge des Symposiums „90 Jahre Universität Frankfurt 2004: Chinaforschung – Chinabilder – Chinabezüge“ an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main vom 8. und 9. Juli 2004. IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-88939-818-5, S. 159–183.
  • Franz Peschke: Der Heidelberger Indologe und Buddhologe Prof. Dr. Max Walleser und das Problem seines Ich. Eine Biographie. CrossAsia-Repository, Heidelberg – München 2017, ISBN 978-3-946742-36-4 (PDF) Walleser_10102017_End.pdf (uni-heidelberg.de)
  • Mathias Tank: La maison de Rousselle. Chronik einer Klein-Steinheim-Hanauer Hugenottenfamilie. In: Steinheimer Jahrbuch für Geschichte und Kultur. Bd. 2 (1992), S. 9–46
  • Knut Walf »...daß man alle Willkür, alles Machen meidet«. Zur Lektüre und Wirkung daoistischer Texte während der Nazizeit (1933–1945). – In: Orientierung 73 (2009), S. 267–272
  • Hartmut Walravens: Zur Geschichte des China-Institutes nach Richard Wilhelm. – In: Dorothea Wippermann, Georg Ebertshäuser (Hrsg.): Wege und Kreuzungen der Chinakunde an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main: Beiträge des Symposiums „90 Jahre Universität Frankfurt 2004: Chinaforschung – Chinabilder – Chinabezüge“ an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main vom 8. und 9. Juli 2004. IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 2007, S. 139–158
  • Dorothea Wippermann: Richard Wilhelm. Der Sinologe und seine Kulturmission in China und Frankfurt. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2020

Weblinks Bearbeiten

Belege Bearbeiten

  1. https://www.maison-rousselle.de/1-maison/0_laFamille.html#G6
  2. „Bei ihm studierten unter anderem der spätere Widerstandskämpfer Philipp Schaeffer (1894–1943), die berühmte Schriftstellerin Netty Reiling (Anna Seghers, 1900–1983) und der Religionswissenschaftler Erwin Rousselle (1890–1949), der Anfang der dreißiger Jahre Nachfolger Richard Wilhelms in Frankfurt wurde.“ Franz Peschke (2017), S. 268.
  3. Franz Peschke (2017), S. 1054
  4. Aus einem Brief an Prof. Alfred Forke in Hamburg v. 16.12.1930, zitiert nach Thomas Kampen "Ein vergessener Heidelberger Sinologiestudent" – In: SHAN-Newsletter November 2021 Nr. 109 https://www.zo.uni-heidelberg.de/sinologie/shan/nl-archiv/2021_NL109_5.html
  5. Siehe Schule der Weisheit | Institut für Praxis der Philosophie e.V. Darmstadt (IPPh) (ipph-darmstadt.de)
  6. https://wiki.yoga-vidya.de/Eranos_Tagung
  7. Franz Peschke (2017), S. 1056.
  8. Jüdische und andere Unterstützer emigrierten oder wurden auf Forderung des Rektors der Universität Frankfurt ausgeschlossen. Vgl. Dorothea Wippermann (2020), S. 241–242.
  9. Franz Peschke (2017), S. 1056
  10. https://www.frankfurt1933-1945.de/beitraege/wissenschaft/beitrag/die-saeuberung-der-philosophischen-fakultaet-der-universitaet
  11. Zitat aus Franz Peschke (2017), S. 1056
  12. Ende März 1940 "auf Veranlassung der Gauleitung" Entzug der Lehrbefugnis, "Institutsvorstand und Stadt Frankfurt wollten zwar an Rousselle festhalten, konnten sich aber nicht durchsetzen." Dorothea Wippermann (2020), S. 244. Ab "Januar 1943 erhielt er Redeverbot von der Gauleitung", ebenda, S. 246
  13. Zur Haltung Rousselles vgl. seine „Sylvester-Ansprache 1940/41“, die auch in der Zeitschrift Sinica (Jg. 1940, H. 4–6) veröffentlicht wurde und statt der damals allgemein üblichen nationalsozialistischen Ergebenheitsbekundungen und Kriegsbefürwortung (gemäß der medialen "Gleichschaltung") folgende Passagen enthielt: „Eine Welt ist durch diesen Krieg aufgerüttelt und endgültig geweckt worden, und niemand weiß, was die verwandelnden Kräfte des Krieges als des Vaters aller Dinge – auch auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet – noch bewirken werden. Jeder Krieg der Völker läßt, wie die Geschichte uns lehrt, die entgegengesetzten Seiten, die beiden Anlitze des menschlichen Lebens mit der Deutlichkeit Shakespearscher Erkenntnis einander gegenübertreten. Der Krieg gibt Gelegenheit, daß jeder Einzelne Einsatzbereitschaft, Tapferkeit, Haltung, Größe zeige, aber er gibt auch Gelegenheit, daß Egoismus, Feigheit, Verblendung und Erbärmlichkeit ihr Anlitz entschleiern – und alles dies vielleicht in ein- und demselben Menschen! Menschenliebe und Menschenverachtung werden in dem Betrachter in gleicher Weise erregt.“ (S. 309) „Die Stadt, aus der die Flammen des Wahnsinns schlagen, das ist unsere eigene Existenz, soweit sie den Sinnen verhaftet ist, denn das Auge, das Ohr und alle Sinne brennen im Wahnsinn des Verhaftetseins und der Abhängigkeit von der Sinnenwelt […]. Aber der Sprung aus der brennenden Stadt, aus dem wahnsinnigen Leben, das ist der Sprung in die Freiheit. Das ist der Entschluß zur Souveränität des Geistes im eigentlichen Sinne über das Schicksal, über sich selbst, über Abhängigkeit und Verstrickung, über Tod und Verwesung.“ (S. 316)
  14. Dorothea Wippermann (2020), S. 244. (Der von Goethe-Universität – Fachbereich Sinologie: Geschichte – Zerrüttung zwischen Rousselle und Hentze aufgerufene Beleg (2013) "Mit Kriegsende sollte die Leitung des Instituts und die Professur neu besetzt werden. Dabei kam es zum Streit zwischen Hentze und Rousselle, die beide Ansprüche geltend machten. Hentze galt aufgrund der Umstände seines Amtsantritts während des Krieges als politisch belastet, da er der Universität auf Drängen des damaligen Gauleiters aufgenötigt worden sein soll. Außerdem kam er auch aus Altersgründen nicht mehr in Frage." wurde inzwischen dort entfernt.)
  15. Siehe auch Knut Walf (2009), S. 269–270
  16. Goethe-Universität – Fachbereich Sinologie: Geschichte – Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg
  17. Dorothea Wippermann (2020), S. 246–247
  18. Zur Loge Zum flammenden Schwert