DSM-5
DSM-5 bezeichnet die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“). Das DSM stellt das dominierende psychiatrische Klassifikationssystem in den USA dar und spielt dort eine zentrale Rolle bei der Definition von psychischen Erkrankungen. Es wird von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) herausgegeben.
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5) | |
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Autor | American Psychiatric Association (APA) |
Originalsprache | Englisch |
Serie | Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders |
Veröffentlichung | 18. Mai 2013 |
Medium | Buch, eBook |
Zweck | Medizinische Klassifikation |
ISBN | 978-0-89042-554-1 |
Vorgänger | DSM-IV-TR |
Nachfolger | DSM-5-TR |
Text der DSM-5 | archive.org im Textarchiv – Internet Archive |
2022 wurde die überarbeitete Fassung DSM-5-TR (Text Revision) veröffentlicht.[1] Die Text Revision ist seitdem die aktuell gültige und für die psychiatrische Diagnostik verbindliche Ausgabe.[2]
Damit eine Störung gemäß dem DSM-5 als psychische Störung eingestuft wird, muss diese andauernd oder wiederkehrend sein. Die Symptome dürfen außerdem nicht auf eine Droge oder ein Medikament zurückzuführen sein und müssen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen. Normale Trauer und sozial abweichendes Verhalten (im politischen, sexuellen oder religiösen Sinne) sind nicht als psychische Störung zu werten (siehe auch Grundsätzliches zum DSM).[3]
Entwicklung
BearbeitenDie Arbeit am DSM-5 begann 1999. Ab 2000 war Darrel Regier als Forschungsdirektor der APA verantwortlich für die Koordination der Vorbereitungsarbeiten. Seit 2004 gibt es eine eigene Website. Seit 2006 steht die DSM-5-Arbeitsgruppe unter Leitung von David Kupfer, Stellvertreter ist Darrel Regier. Seit 2007 trafen sich regelmäßig Arbeitsgruppen (sog. Task Forces) zu den verschiedenen diagnostischen Kategorien. Außerdem wurden die Forschungsergebnisse zahlreicher Konferenzen und Kongresse eingearbeitet.[4]
Von Beginn der Entwicklung an war auch eine enge Abstimmung mit der ICD-11 geplant. Im Mai 2013 wurde die endgültige DSM-5-Fassung schließlich veröffentlicht und löste damit das DSM-IV von 1994 ab.[5][6]
Aufbau
BearbeitenDas aktuelle DSM-5 ist in folgende Kategorien gegliedert:
- Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung
- Schizophrenie-Spektrum und andere psychotische Störungen
- Bipolare und verwandte Störungen
- Depressive Störungen
- Angststörungen
- Zwangsstörung und verwandte Störungen
- Trauma- und belastungsbezogene Störungen
- Dissoziative Störungen
- Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen
- Fütter- und Essstörungen
- Ausscheidungsstörungen
- Schlaf-Wach-Störungen
- Sexuelle Funktionsstörungen
- Geschlechtsdysphorie
- Disruptive, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen
- Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen
- Neurokognitive Störungen (NCD)
- Persönlichkeitsstörungen
- Paraphile Störungen
- Andere psychische Störungen
- Medikamenteninduzierte Bewegungsstörungen und andere unerwünschte Medikamentenwirkungen
- Andere klinisch relevante Probleme
Veränderungen
BearbeitenVeränderungen im DSM-5 betreffen z. B.:
- Aufgabe des alten multiaxialen Systems
- strengere Kriterien für eine ADHS-Diagnose
- Vorstellung eines neuen dimensionalen Alternativmodells für Persönlichkeitsstörungen
- Streichung der seit Jahrzehnten üblichen Einteilung der Schizophrenie in verschiedene Unterformen
- Die vormaligen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wurden als Diagnosen gestrichen. Die Autistische Störung, Asperger-Syndrom und die nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung wurden zu einer neuen Diagnose Autismus-Spektrum-Störung zusammengeführt, das Rett-Syndrom und die desintegrative Störung im Kindesalter entfallen,
- Umgestaltung der Einteilung von depressiven und bipolaren Störungen
- Überarbeitung des Suchtkapitels (Integration von Süchten unter die Abhängigkeitserkrankungen) und eine Einstufung der Diagnosen in „mild“, „mittel“ oder „schwer“
- Neue Diagnosen wie Binge Eating, Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung, Prämenstruelle Dysphorische Störung, die Disruptive Stimmungsdysregulationsstörung und das Zwanghafte Horten.
- Anzahl der diagnostischen Kategorien jedoch reduziert von 172 (DSM-IV) auf 157 (DSM-5)[7]
Nach wie vor keine Diagnosen sind: Burnout-Syndrom, komplexe posttraumatische Belastungsstörung und Internetabhängigkeit.[8]
DSM-5-TR
BearbeitenDiagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, Text Revision (DSM-5-TR) | |
---|---|
Autor | American Psychiatric Association (APA) |
Originalsprache | Englisch |
Serie | Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders |
Veröffentlichung | 18. März 2022 |
Medium | Buch, eBook |
Zweck | Medizinische Klassifikation |
ISBN | 978-0-89042-576-3 |
Vorgänger | DSM-5 |
Text der DSM-5-TR | archive.org im Textarchiv – Internet Archive |
Im März 2022 wurde eine Revision der DSM-5 als DSM-5-TR veröffentlicht, in der die diagnostischen Kriterien aktualisiert wurden.[9] Die Entwicklung der DSM-5-TR wurde durch die Mitwirkung von mehr als 200 Experten realisiert und beinhaltet den vollständig überarbeiteten Text sowie die Referenzen des DSM-5.[10]
Die Diagnosekriterien u. a. für die Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung wurden geändert und die anhaltende Trauerstörung in die Revision aufgenommen.[11] Für die anhaltende Trauerstörung, die bereits im ICD-11 enthalten ist, wurden die Kriterien in einem von der APA durchgeführten eintägigen Workshop im Konsens festgelegt.[12] Eine im Jahr 2022 durchgeführte Studie kommt zu dem Schluss, dass die in der ICD-11 höhere Diagnoserate für anhaltende Trauer auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die Symptome gemäß den DSM-5-TR-Kriterien über einen Zeitraum von 12 Monaten anhalten müssen, während sie in der ICD-11 nur 6 Monate lang bestehen müssen.[13]
Kritik
BearbeitenDie Anzahl der im DSM aufgeführten Krankheiten und Störungen ist stetig von 106 (DSM-I) auf 374 (DSM-5) angestiegen.[14]
Dies könnte u. a. daran liegen, dass viele der ins DSM-5 neu aufgenommenen Diagnosen möglicherweise wissenschaftlich nicht genug überprüft und die Schwellwerte für ältere Diagnosen gesenkt wurden.[15] Eine Studie der University of Massachusetts Boston fand heraus, dass 69 % der DSM-5-Mitarbeiter Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten; bei der Arbeitsgruppe zu affektiven Störungen waren es 83 % und bei den für Schlafstörungen zuständigen Autoren waren es 100 %.[16]
Durch die Möglichkeit, jede Verhaltensauffälligkeit als „milde“ Störung zu diagnostizieren, befürchten Kritiker eine Inflation von Diagnosen, die den Betroffenen dann lebenslang anhängen können.[17][18] Prominentester Kritiker ist der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, der ehemalige Vorsitzende der DSM-IV-Kommission.[19] Auch das National Institute of Mental Health (NIMH) mit ihrem Leiter Thomas Insel kritisiert das DSM-5 für einen Mangel an Validität, obwohl er dessen hohe Reliabilität als Stärke anerkennt.[20]
Literatur
BearbeitenOffizielle Ausgaben der American Psychiatric Association (APA)
- American Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, Text Revision (DSM-5-TR) (= Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). 2022, ISBN 978-0-89042-576-3 (englisch, 1142 S.).
- American Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5) (= Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). 2013, ISBN 978-0-89042-554-1 (englisch, 947 S.).
Deutsche Ausgaben
- Peter Falkai, Hans-Ulrich Wittchen (Hrsg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-5-TR. 1. Auflage. Hogrefe Verlag, Göttingen 2025, ISBN 978-3-8017-3217-2 (1526 S.).
- Peter Falkai, Hans-Ulrich Wittchen (Hrsg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. 2. Auflage. Hogrefe Verlag, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8409-2803-1 (1364 S.).
Weblinks
Bearbeiten- Vollständige Ausgabe der DSM-5-TR im Internet Archive
- Vollständige Ausgabe der DSM-5 im Internet Archive
- Website der American Psychiatric Association (APA) zur DSM-5 und DSM-5-TR
- Literatur von und über DSM-5 im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Jana Hauschild: Umstrittenes Psychologie-Werk: Katalog der Störungen. Spiegel Online, 12. Juli 2012.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Michael B. First, Lamyaa H. Yousif, Diana E. Clarke, Philip S. Wang, Nitin Gogtay, Paul S. Appelbaum: DSM‐5‐TR: overview of what’s new and what’s changed. In: World Psychiatry. Band 21, Nr. 2, Juni 2022, S. 218–219, doi:10.1002/wps.20989, PMID 35524596, PMC 9077590 (freier Volltext).
- ↑ About DSM-5-TR. In: psychiatry.org. American Psychiatric Association (APA), abgerufen am 20. April 2025 (englisch).
- ↑ Peter Falkai, Hans-Ulrich Wittchen (Hrsg.): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. Hogrefe, 2015, ISBN 978-3-8017-2599-0, S. 26–27.
- ↑ DSM History. In: psychiatry.org. American Psychiatric Association (APA), abgerufen am 20. April 2025 (englisch).
- ↑ DSM-5: The Future of Psychiatric Diagnosis ( vom 30. Januar 2013 im Internet Archive) – offizielle DSM-5 Entwicklungswebsite
- ↑ Markus Jäger (2015): Aktuelle psychiatrische Diagnostik. Kapitel 2.5 - Überblick über die psychiatrische Diagnostik im DSM-5 (S. 38). Thieme Verlag. ISBN 978-3-13-200531-0.
- ↑ Eva Asselmann, Psychotherapeutenkammer Hamburg (2014): DSM-5 – Wesentliche Neuerungen und Implikationen für ICD-11 ( des vom 16. Januar 2019 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (Folie 10).
- ↑ Anna M. Ehret (2013): DSM-IV und DSM-5: Was hat sich tatsächlich verändert? (Review). In: Verhaltenstherapie. Band 23, Nr. 4, S. 258–266, doi:10.1159/000356537 (karger.com [PDF]).
- ↑ APA - DSM - Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Abgerufen am 20. April 2025.
- ↑ American Psychiatric Association: APA veröffentlicht Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen, Fünfte Ausgabe, Textrevision (DSM-5-TR). Abgerufen am 20. April 2025.
- ↑ Jelena Kecmanovic, Cara Rosenbloom, Angela Haupt, Allyson Chiu: Prolonged grief disorder recognized as official diagnosis. Here’s what to know about chronic mourning. In: The Washington Post. 21. Oktober 2021, ISSN 0190-8286 (washingtonpost.com [abgerufen am 20. April 2025]).
- ↑ APA Offers Tips for Understanding Prolonged Grief Disorder. American Psychiatric Association (APA), 22. September 2021, abgerufen am 20. April 2025 (englisch).
- ↑ Supplemental Material for Same Name, Same Content? Evaluation of DSM-5-TR and ICD-11 Prolonged Grief Criteria. Abgerufen am 20. April 2025.
- ↑ James Davies: Cracked: Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. Icon Books, London 2013.
- ↑ Allen Frances: Psychologists Start Petition Against DSM 5. Psychology Today, abgerufen am 23. Januar 2017.
- ↑ Lisa Cosgrove, Sheldon Krimsky: A Comparison of DSM-IV and DSM-5 Panel Members' Financial Associations with Industry: A Pernicious Problem Persists. In: PLoS Medicine. Band 9, Nr. 3, 13. März 2012, ISSN 1549-1676, S. e1001190, doi:10.1371/journal.pmed.1001190, PMID 22427747, PMC 3302834 (freier Volltext) – (plos.org [abgerufen am 16. Dezember 2023]).
- ↑ Alenka Tschischka: Heiß diskutiert: DSM-V. In: report psychologie. Band 38, Nr. 5, 2013, S. 214.
- ↑ «Wir haben die Unreife von Kindern in Krankheit verwandelt». derbund.ch, 4. Januar 2014, abgerufen am 20. Januar 2015.
- ↑ Frank Jacobi, Wolfgang Maier, Andreas Heinz: Diagnostic and Statistical Manual Of Mental Disorders: Hilfestellung zur Indikation. In: Ärzteblatt. Jg. 110, Nr. 49, 2013 (online [PDF; abgerufen am 20. Januar 2015]).
- ↑ Thomas Insel: Director’s Blog: Transforming Diagnosis. National Institute of Mental Health, 29. April 2013, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 29. Mai 2013; abgerufen am 11. Juni 2017 (englisch): „The goal of this new manual, as with all previous editions, is to provide a common language for describing psychopathology. While DSM has been described as a “Bible” for the field, it is, at best, a dictionary, creating a set of labels and defining each. The strength of each of the editions of DSM has been “reliability” – each edition has ensured that clinicians use the same terms in the same ways. The weakness is its lack of validity.“