Constantin Gorški

deutsch-baltischer Zoologe

Constantin Gorški (* 8. September 1823 in Salantai; † Anfang September 1864 in Warschau[1]) war ein polnischer Zoologe deutsch-baltischer Herkunft.

Leben Bearbeiten

Gorški kam im September 1823 im Dorf Salantai zur Welt, das in der Kulturregion Samogitien des russischen Gouvernements Kowno lag. Er gehörte zur Minderheit der sogenannten Litauendeutschen und besuchte zwischen 1836 und 1843 eine Schule in Mitau,[2] der Hauptstadt des benachbarten Gouvernements Kurland – vermutlich das akademische Gymnasium Academia Petrina. Anschließend nahm er zunächst ein Studium in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg auf,[2] wechselte aber bald an die Kaiserliche Universität in Dorpat (Gouvernement Livland). Dabei handelte es sich um die deutschsprachige Landesuniversität der drei Ostseegouvernements. Dort studierte er zwischen 1845 und 1848 Naturwissenschaften.[3] An der physico-mathematischen Fakultät verteidigte er 1852 die unter der Betreuung von Karl Bogislaus Reichert entstandene Schrift Über das Becken der Saurier. Eine vergleichend-anatomische Abhandlung und wurde zum Magister promoviert. Er widmete diese Arbeit dem ihm freundschaftlich verbundenen Alexander von Keyserling.

Gorški wurde als „reicher Gutsbesitzer“ beschrieben, der „bedeutende Güter in Litauen“[4] besaß und sich „einzig aus Liebe zur Wissenschaft und zu seinem Vaterlande“[4] – und „wahrscheinlich nicht aus Mangel an anderen Lebensmöglichkeiten“[5] – „den Mühen des Lehrberufs“[4] verschrieben hatte.[1] Als 1861 an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie in Warschau der von Jerzy Alexandrovicz (1819–1894) bekleidete Lehrstuhl für Naturgeschichte – dort wurden Vorlesungen zu Zoologie, Botanik und Mineralogie angeboten – umstrukturiert wurde, ernannte man Gorški zum Assistenzprofessor des abgespaltenen Lehrstuhls für Zoologie und vergleichende Anatomie.[3][6][7][5] Im Zuge der Umwandlung der Akademie in die Warschauer Hauptschule[A 1] war Gorški ab Juni 1862 an dieser tätig.[8] Infolge längerer Auslandsaufenthalte verlor er jedoch bald den administrativen Rückhalt an der Institution und wurde beurlaubt. Ein 1864 unternommener Versuch, seinen Posten zurückzuerhalten, scheiterte.

In der ersten Septemberwoche gleichen Jahres verübte Gorški durch einen Sprung aus dem dritten Stock des Warschauer Hotel de Rome, in dem er weilte, Suizid.[4][9] Seine Beweggründe blieben unbekannt. Zeitgenossen sprachen jedoch „teils von politischer Kompromittierung, teils von Geisteszerrüttung“.[10][8] Die Beisetzung erfolgte am 13. September 1864 unter großer Anteilnahme des Hochschulpersonals.[4]

Wissenschaftliche Leistungen Bearbeiten

Gorškis wissenschaftliches Hauptanliegen – das er erstmals in seiner Dissertation 1852 vortrug – war eine Neudeutung der Beckenknochen von Reptilien,[11] wofür er auch eine neue Nomenklatur vorschlug.[12] Es handelte sich um ein myologisches Thema, behandelte also die Wissenschaft von den Muskeln und der Muskulatur. Seine Ideen skizzierte er folgendermaßen (die eckigen Klammern sind nicht Teil des Originaltextes und wurden hier zum besseren Verständnis der Fachbegriffe eingefügt):

„Den bislang als os pubis [Schambein] angesehenen und mit dem gleichnamigen der Säugetiere und Vögel verglichenen Knochen halte ich für ein den Sauriern eigentümliches os ileopectineum, welches dem tuber ileopectineum (eminentia ileopectinea) morphologisch entspricht, und hier, so wie das sonst als Fortsatz des Schulterblattes vorkommende os coracoideum [Rabenbein] bei den Monotremen [Kloakentiere] und Vögeln, als ein besonderer Knochen auftritt. Ferner betrachte ich das sogenannte os ischii [Sitzbein] der Saurier für ein os pubis [Schambein] und das os ilium [Darmbein] derselben für denjenigen Teil des entsprechenden Knochens der Säugetiere, der zur Bildung der Gelenkpfanne beiträgt, hier aber sich besonders nach hinten entwickelt hat und somit zum Teil die Bedeutung des Ramus descendens ischii [eines bestimmten Knochenastes] gewinnt. Das os ischii [Sitzbein] fehlt gänzlich und wird (mit Ausnahme des Krokodils) zum Teil durch ein ihm morphologisch-homologes Gebilde, nämlich durch das von mir so genannte Ligamentum ischiadicum ersetzt, welches nach seinem Verlauf und seiner Lage zu den es umgebenden und von ihm entspringenden Muskeln hauptsächlich dem Ramus ascendens ischii [eines bestimmten Knochenastes] entspricht.“[13]

Darüber hinaus wird Gorški seitens einiger Autoren für den ersten polnischen Wissenschaftler gehalten, der in seinen Vorlesungen auf Charles Darwins evolutionstheoretische Überlegungen einging. Er habe somit am Beginn der polnischen Darwin-Diskurse gestanden. Tatsächlich war Gorški aber ein Anhänger der von Rudolf Virchow propagierten Zelltheorie und stand damit Darwins Ansichten eher kritisch gegenüber.[8]

Bewertung Bearbeiten

In einer Publikation aus dem Jahr 1858 zeigte sich Gorški ernüchtert darüber, dass sich seine Ansicht zu den Beckenknochen der Reptilien nach sechs Jahren „noch wenig Eingang in die zoologischen und vergleichend-anatomischen Schriften [habe] verschaffen können“. Tatsächlich gab es zu seinen Lebzeiten lediglich zwei nennenswerte Erwähnungen seiner Nomenklatur in der wissenschaftlichen Fachliteratur; beide stammen aus dem Jahr 1856. In der deutschsprachigen Übersetzung der zweiten Auflage von Jan van der Hoevens Handbuch der Zoologie wurde auf Gorškis Ideen hingewiesen. Obgleich es sich dabei um eine wertfreie Erwähnung handelte, war Gorški der Ansicht, dass es „das einzige Werk“ sei, in „welchem der Verfasser mit mir übereinzustimmen scheint.“[13] Im gleichen Jahr erschien auch – von Gorški „langersehnt“[13] – die zweite Auflage des Handbuches der Zootomie von Carl Theodor von Siebold und Hermann Stannius. Darin behielt Stannius die alte Deutung des Reptilienbeckens bei, obwohl ihm Gorškis Arbeit bekannt war. „Ohne Tatsachen oder anderweitige Gründe beizubringen“ – wie Gorški bemerkte – schrieb Stannius lediglich: „Eine unter Reichert’s Leitung erschienene Abhandlung von Constantin Gorski [...] mühet sich ab, den Beweis zu führen, dass die ossa pubis als ossa iliopectinea, die ossa ischii als ossa pubis aufzufassen seien.“ Gorški zeigte sich hinsichtlich dieser Formulierung erstaunt und enttäuscht:

„In dieser Äußerung, welche noch dazu in einem so hochgeschätzten Handbuche gemacht wurde, liegt etwas polemisches, was mich umso mehr befremden musste, als ich mir nicht bewusst bin, in meiner Abhandlung Herrn Stannius irgendwie zu nahe getreten zu sein. Das Verletzende der Äußerung scheint aber eine noch größere Tragweite in sich zu enthalten, da sie zugleich der Beziehungen meines hochgeehrten Lehrers zu der Arbeit gedenkt. Man mag mir, dem dankbaren Schüler, gestatten, über diesen letzten Punkt stillschweigend umso mehr hinweg zu sehen, als das allgemeine Urteil über die wissenschaftlichen Leistungen des Professors Dr. Reichert dadurch keineswegs beeinträchtigt werden kann. Was mich persönlich anbetrifft, so wird jeder vorurteilsfreie Leser mir zugestehen, dass ich Grund habe, die angeführte Äußerung des Prof. Stannius als eine wenigstens unpassende zu bezeichnen. Sie kann unmöglich auf den Charakter eines wissenschaftlichen Urteils Anspruch machen; denn sie enthält in sich viel eher die Tendenz, meine neue Ansicht zu tadeln und als wertlos ohne weiteres zu verwerfen, als die Intention, dieselbe einer Prüfung zu unterwerfen – was doch bei jeder wissenschaftlichen Kritik der alleinmögliche Weg ist, auf dem Forscher, bei den Verschiedenheiten ihrer Meinungen, zu einer Ausgleichung und einem gegenseitigen Verständnis gelangen können.“[13]

In seinem Aufsatz im Jahr 1858 kommentierte Gorški die Erwähnungen seiner Theorie bei van der Hoeven und Stannius und bemerkte: „Die übrigen Schriftsteller gingen mit Stillschweigen darüber hinweg, ohne meine Untersuchungen zu prüfen und irgendwelchen Gegenbeweis zur Widerlegung meiner Ansicht zu führen, sofern sie dieselbe etwa nicht begründet genug finden sollten.“[13]

Erst mehrere Jahre nach Gorškis Tod fanden seine Ansichten verstärkt Erwähnung in der wissenschaftlichen Fachliteratur – dabei stießen sie aber zumeist auf strikte Ablehnung. Lediglich Max Fürbringer unterstützte in seiner 1869 verteidigten Dissertation Gorškis Ideen, als er schrieb: „Nach einer genauen Prüfung beider Ansichten gebe ich der von Gorsky den Vorzug. Ich habe Gorsky’s Untersuchungen an nahe verwandten Thieren nachuntersucht und kann im Wesentlichen seine Theorien bestätigen.“[14] Im selben Jahr verwies auch Fürbringers Professor und Mentor Carl Gegenbaur in einer Veröffentlichung als Vergleichsreferenz auf Gorskis Arbeit von 1852, allerdings ohne diese zu bewerten.[15]

Der Niederländer Christiaan Karel Hoffmann nahm zwischen 1877 und 1890 mehrfach Bezug auf Gorškis Deutung der Beckenknochen, die er für „grundfalsch“,[16] „höchst irrtümlich“[16] sowie „wenig stichhaltig“[17] hielt. Er bemängelte jedoch nicht nur die Benennung selbst, sondern auch die von Gorški vorgebrachten Gründe für die angebliche Notwendigkeit einer nomenklatorischen Überarbeitung. Hoffmann argumentierte, dass sie „wohl keiner Widerlegung [bedarf]“,[16] da „ein einfacher Blick auf den Verlauf des Nervus obturatorius genüg[e], um nachzuweisen, dass die Gorski’sche Deutung der Beckenknochen unhaltbar“[17] sei. Irritiert zeigte sich Hoffmann auch dahingehend, dass Stannius 1856 auf die Irrtümlichkeit von Gorškis Arbeit hingewiesen habe, dieser aber dann 1858 versuchte, „nicht allein seine Meinung aufrecht zu halten, sondern auch auf die Beckenknochen der Schildkröten zu übertragen, ohne auch hier wieder irgend welche plausiblen Gründe anzuführen.“[16][18][19] Im Jahr 1880 sprach sich auch Alexander von Bunge gegen Gorškis Ideen aus, setzte sich aber kritisch-konstruktiv mit dessen Arbeiten auseinander.[20]

In einer Veröffentlichung der in Lublin ansässigen Maria-Curie-Skłodowska-Universität aus dem Jahr 1952 wurde Gorški rückblickend zwar als „guter Pädagoge“ bezeichnet – sein Beitrag zur Entwicklung der zoologischen Wissenschaften in Polen sei allerdings „nicht signifikant“ gewesen.[6]

Publikationen (Auswahl) Bearbeiten

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Die Königliche Warschauer Universität wurde 1831 geschlossen, als im Rahmen der Repression nach dem Scheitern der Novemberaufstandes das polnische Hochschulwesen liquidiert wurde. Der Aufstand richtete sich gegen den Status des Königreiches Polen (Kongresspolen) als Protektorat des Russischen Kaiserreiches. Während einer Liberalisierungswelle nach der russischen Niederlage im Krimkrieg wurde 1857 in Warschau die Medizinisch-Chirurgische Akademie (pol.: Akademia Medyko-Chirurgiczna) gegründet. Sie verfügte zunächst über zwei Fakultäten für Medizin und Pharmazie. Als schließlich zusätzliche Fakultäten für Recht und Verwaltung, Philosophie und Geschichte sowie Mathematik und Physik eröffnet wurden, erfolgte im Juni 1862 auf der Grundlage eines Ukas des russischen Kaisers Alexander II. die Umwandlung in die Warschauer Hauptschule (pol.: Szkoła Główna), die bald Hochschulstatus erlangte. Sie wurde im Zuge des letztlich gescheiterten Januaraufstandes bereits 1863 kurzzeitig geschlossen und im November 1869 als nachträgliche repressive Reaktion auf den Aufstand aufgelöst. Mit der Gründung der Kaiserlichen Universität Warschau erhielt die polnische Hauptstadt 1870 nach 39 Jahren wieder eine vollwertige Universität – wenn auch mit Russisch als Unterrichtssprache.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b „Todesfälle“. In: Johann Gabriel Seidl; Hermann Bonitz; Franz Hochegger (Hrsg.): Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. Jahrgang 15, Heft 1, Verlag von Carl Gerolds Sohn, Wien, 1863, Seiten 710–713.
  2. a b Annales Universitatis Mariae Curie-Skłodowska. Sectio C, Biologia, Bände 6/7. Lublin, 1952, Seite 70.
  3. a b Arnold Hasselblatt; Gustav Otto: Album Academicum der Kaiserlichen Universität Dorpat. Verlag von C. Mattiesen, Tartu, 1889, Seite 357.
  4. a b c d e „Rußland und Polen“. In: Leipziger Zeitung. № 220, 15. September 1864, Seite 5001.
  5. a b Witold Kula: Społeczeństwo Królestwa Polskiego. Studia o uwarstwieniu i ruchliwości społecznej. Band 1. Państwowe wydawnictwo naukowe, Warschau, 1965, Seite 191.
  6. a b Annales Universitatis Mariae Curie-Skłodowska. Sectio C, Biologia, Bände 6/7. Lublin, 1952, Seite 385.
  7. Krzysztof Dunin-Wąsowicz: Warszawa w pamiętnikach powstania styczniowego. In der Reihe: „Biblioteka Pamiętników Polskich i Obcych“. Państwowy Instytut Wydawniczy, Warschau, 1963, Seite 571.
  8. a b c Daniel Schümann: Kampf ums Da(bei)sein. Darwin-Diskurse und die polnische Literatur bis 1900. Böhlau Verlag, Köln, 2015, ISBN 978-3-412-22504-9, Seite 71.
  9. „Nachrichten“. In: Friedrich Zarncke (Hrsg.): Literarisches Centralblatt für Deutschland. № 40, 1864, Eduard Avenarius, Leipzig, Seite 958.
  10. „Tagesgeschichte“. In: Allgemeine Medicinische Central-Zeitung. Jahrgang 33, Ausgabe 78, 28. September 1864, Seite 635.
  11. Robert Wiedersheim: Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere auf Grundlage der Entwicklungsgeschichte. Verlag von Gustav Fischer, Jena, 1883, Seite 862.
  12. Jan van der Hoeven: Handbuch der Zoologie. Übersetzung nach der zweiten niederländischen Auflage. Band 2, Wirbeltiere. 1856, Verlag von Leopold Voss, Leipzig, Seite 220.
  13. a b c d e Constantin Gorški: Einige Bemerkungen über die Beckenknochen der beschuppten Amphibien. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. 1858, Seiten 382–389.
  14. Max Fürbringer: Die Knochen und Muskeln der Extremitäten bei den schlangenähnlichen Sauriern. Vergleichend-anatomische Abhandlung. Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig, 1870, Seite 33.
  15. Carl Gegenbaur: Grundzüge der vergleichenden Anatomie. Zweite Auflage, Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig, 1870, Seite 697.
  16. a b c d Christiaan Karel Hoffmann: Beiträge zur Kenntniss des Beckens der Amphibien und Reptilien. Eine vergleichend anatomische Untersuchung. In: Christiaan Karel Hoffmann (Hrsg.): Niederländisches Archiv für Zoologie. Band 3. C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1876/77, Seite 181.
  17. a b Christiaan Karel Hoffmann: Dr. H. G. Bronn’s Klassen und Ordnungen des Thier-Reiches, wissenschaftlich dargestellt in Wort und Bild. Sechster Band, dritte Abteilung, Reptilien, II. Eidechsen und Wasserechsen. C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1890, Seite 539.
  18. Christiaan Karel Hoffmann: Beiträge zur Kenntniss des Beckens der Amphibien und Reptilien. Eine vergleichend anatomische Untersuchung. In: Christiaan Karel Hoffmann (Hrsg.): Niederländisches Archiv für Zoologie. Band 3. C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1876/77, Seite 170.
  19. Christiaan Karel Hoffmann: Dr. H. G. Bronn’s Klassen und Ordnungen des Thier-Reiches, wissenschaftlich dargestellt in Wort und Bild. Sechster Band, dritte Abteilung, Reptilien, I. Schildkröten. C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1890, Seiten 50–51.
  20. Alexander von Bunge: Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte des Beckengürtels der Amphibien, Reptilien und Vögel. Inaugural-Dissertation, Verlag von E. J. Karow, Dorpat, 1880, Seiten 32–33.