Turinggrad

Maß für die algorithmische Unlösbarkeit einer Menge

In der Berechenbarkeitstheorie und der mathematischen Logik misst der Turinggrad (auch Grad der Unlösbarkeit) einer Menge natürlicher Zahlen die algorithmische Unlösbarkeit der Menge. Das Konzept des Turinggrades ist fundamental in der Berechenbarkeitstheorie, wo Mengen natürlicher Zahlen oft als Entscheidungsprobleme angesehen werden; der Turinggrad einer Menge gibt an, wie schwer das Entscheidungsproblem für die Menge ist.

Zwei Mengen sind Turing-äquivalent, wenn sie den gleichen Grad der Unlösbarkeit haben; jeder Turinggrad ist eine Menge Turing-äquivalenter Mengen, sodass zwei Mengen genau dann in unterschiedlichen Turinggraden liegen, wenn sie nicht Turing-äquivalent sind. Außerdem sind die Turinggrade im folgenden Sinne partiell geordnet: Wenn der Turinggrad einer Menge kleiner als der Turinggrad einer Menge ist, dann kann jede (unberechenbare) Prozedur, die korrekt entscheidet, ob Zahlen in liegen, berechenbar in eine Prozedur umgewandelt werden, die korrekt entscheidet, ob Zahlen in liegen. In diesem Sinne korrespondiert der Turinggrad einer Menge mit dem Grad ihrer algorithmischen Unlösbarkeit.

Die Turinggrade wurden 1944 von Emil Leon Post eingeführt, und viele grundlegende Resultate wurden 1954 von Stephen Cole Kleene und Post bewiesen. Die Turinggrade sind bis heute Gegenstand intensiver Forschung. Viele Beweise in diesem Gebiet benutzen eine Beweistechnik, die als Prioritätsmethode bekannt ist.

Turing-Äquivalenz

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Im Folgenden bezieht sich das Wort Menge auf Teilmengen natürlicher Zahlen. Eine Menge   heißt Turing-reduzierbar auf eine Menge  , wenn es eine Orakel-Turingmaschine gibt, die mit Hilfe eines Orakels für   entscheidet, ob eine gegebene Zahl in   liegt. Die Notation   steht für:   ist auf   Turing-reduzierbar.

Zwei Mengen   und   heißen Turing-äquivalent, wenn sie aufeinander Turing-reduzierbar sind. Die Notation   steht für:   und   sind Turing-äquivalent. Die Relation   ist eine Äquivalenzrelation.

Turinggrad

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Ein Turinggrad ist eine Äquivalenzklasse der Relation  . Die Notation   bezeichnet die Äquivalenzklasse, die die Menge   enthält. Die Klasse aller Turinggrade wird mit   bezeichnet.

Die Turinggrade haben eine partielle Ordnung  . Sie ist so definiert, dass   genau dann gilt, wenn  . Es gibt einen Turinggrad, der genau die entscheidbaren Mengen enthält, und dieser Grad ist kleiner als alle anderen. Er wird mit   (Null) bezeichnet, da er das kleinste Element der partiell geordneten Menge   ist. Turinggrade werden meist durch Fettdruck bezeichnet, um sie von Mengen zu unterscheiden. Als Variablen für Turinggrade dienen fette kleine Buchstaben   etc.

Für alle Mengen   und   ist   (gesprochen join) die Vereinigung der Mengen   und  . Der Turinggrad von   ist das Supremum der Grade   und  . Damit ist   ein oberer Halbverband. Das Supremum der Grade   und   wird mit   bezeichnet. Es ist bekannt, dass   kein Verband ist, da es Paare von Graden ohne Infimum gibt.

Für jede Menge   bezeichnet   die Menge der Indizes von Orakelmaschinen, die auf ihrem eigenen Index als Eingabe halten, wenn sie   als Orakel benutzen. Die Menge   wird als Turing-Sprung von   bezeichnet. Der Turing-Sprung eines Grades   ist der Grad  ; dies ist wohldefiniert, da   aus   folgt. Ein wichtiges Beispiel ist  , der Grad des Halteproblems.

Grundlegende Eigenschaften der Turinggrade

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  • Jeder Turinggrad ist abzählbar unendlich, das heißt, er enthält genau   Mengen.
  • Es gibt   (siehe Beth-Funktion) verschiedene Turinggrade.
  • Für jeden Grad   gilt die strikte Ungleichung  .
  • Für jeden Grad   ist die Menge der Grade unter   höchstens abzählbar. Die Menge der Grade über   hat Mächtigkeit  .

Struktur der Turinggrade

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Die Struktur der Turinggrade wurde intensiv erforscht. Die folgende Liste gibt nur wenige der vielen bekannten Ergebnisse an. Generell lässt sich aus den bekannten Ergebnissen schließen, dass die Struktur der Turinggrade sehr kompliziert ist.

Ordnungseigenschaften

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  • Es gibt minimale Grade. Ein Grad   heißt minimal, wenn   ungleich   ist und es keinen Grad zwischen   und   gibt. Damit ist die Ordnung der Grade nicht dicht.
  • Für jeden Grad   ungleich   gibt es einen Grad  , der mit   nicht vergleichbar ist.
  • Es gibt   untereinander nicht vergleichbare Turinggrade.
  • Es gibt Paare von Graden ohne Infimum. Damit ist   kein Verband.
  • Jede abzählbare partielle Ordnung lässt sich in die Turinggrade einbetten.
  • Keine unendliche, strikt aufsteigende Folge von Graden hat ein Supremum.

Eigenschaften des Sprungoperators

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  • Für jeden Grad   gibt es einen Grad zwischen   und  . Es gibt sogar eine abzählbar unendliche Folge paarweise nicht vergleichbarer Grade zwischen   und  .
  • Ein Grad   hat die Form   für ein   genau dann, wenn   gilt.
  • Für jeden Grad   gibt es einen Grad  , sodass   und  . Solch ein Grad   heißt niedrig relativ zu  .
  • Es gibt eine unendliche Folge   von Graden, sodass   für alle  .

Logische Eigenschaften

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  • Simpson (1977) zeigte, dass die Theorie von   in der Prädikatenlogik erster Stufe in der Sprache   oder   many-one-äquivalent zur Theorie der natürlichen Zahlen in der Prädikatenlogik zweiter Stufe ist.
  • Shore und Slaman (1999) zeigten, dass sich der Sprungoperator in der Struktur der Grade in der Logik erster Stufe mit der Sprache   definieren lässt.

Struktur der rekursiv aufzählbaren Turinggrade

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Dieser endliche Verband kann nicht in die rekursiv aufzählbaren Grade eingebettet werden.

Ein Grad heißt rekursiv aufzählbar, wenn er eine rekursiv aufzählbare Menge enthält. Jeder rekursiv aufzählbare Grad ist kleiner oder gleich  , aber nicht jeder Grad kleiner   ist rekursiv aufzählbar.

  • (Satz von Friedberg und Muchnik, 1956) Es gibt rekursiv aufzählbare Grade zwischen   und  .
  • (G. E. Sacks, 1964) Die rekursiv aufzählbaren Grade sind dicht, das heißt, zwischen zwei rekursiv aufzählbaren Graden existiert immer ein dritter rekursiv aufzählbarer Grad.
  • (A. H. Lachlan, 1966a und C. E. M. Yates, 1966) Es gibt zwei rekursiv aufzählbare Grade, die kein Infimum in den rekursiv aufzählbaren Graden haben.
  • (A. H. Lachlan, 1966a und C. E. M. Yates, 1966) Es gibt ein Paar von rekursiv aufzählbaren Graden ungleich  , deren Infimum   ist.
  • (S. K. Thomason, 1971) Jeder endlicher distributiver Verband kann in die rekursiv aufzählbaren Grade eingebettet werden. Es ist sogar möglich, die abzählbare boolesche Algebra ohne Atome so einzubetten, dass Suprema und Infima erhalten bleiben.
  • (A. H. Lachlan und R. I. Soare, 1980) Nicht alle endlichen Verbände können in die rekursiv aufzählbaren Grade eingebettet werden, sodass Suprema und Infima erhalten bleiben. So kann insbesondere der rechts abgebildete Verband nicht eingebettet werden.
  • (A. H. Lachlan, 1966b) Es gibt kein Paar rekursiv aufzählbarer Grade, deren Infimum   ist und deren Supremum   ist,
  • (L. A. Harrington und T. A. Slaman, siehe Nies, Shore und Slaman (1998)) Die Theorie der rekursiv aufzählbaren Grade in der Sprache   in Logik erster Stufe ist many-one-äquivalent zur Theorie der Arithmetik in Logik erster Stufe.

Literatur

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Einführungen

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  • S. B. Cooper: Computability Theory. Chapman & Hall/CRC, 2004, ISBN 1-58488-237-9.
  • Nigel Cutland: Computability, An introduction to recursive function theory. Cambridge University Press, 1980, ISBN 0-521-29465-7.
  • Klaus Heidler, Hans Hermes, Friedrich-K. Mahn.: Rekursive Funktionen. Mannheim – Wien – Zürich 1977.
  • Hans Hermes: Aufzählbarkeit – Entscheidbarkeit – Berechenbarkeit. Einführung in die Theorie der rekursiven Funktionen. Berlin/ Göttingen/ Heidelberg 1961. (2. Auflage. 1971, als Heidelberger Taschenbuch).
  • Stephen Kleene: Introduction to Metamathematics. North-Holland, 1952, ISBN 0-7204-2103-9.
  • Michael Sipser: Introduction to the Theory of Computation. PWS Publishing, 1997, ISBN 0-534-94728-X. Part Two: Computability Theory, Chapters 3–6, S. 123–222.

Spezialwerke

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  • Piergiorgio Odifreddi: Classical Recursion Theory. North-Holland 1989, ISBN 0-444-87295-7.
  • P. Odifreddi: Classical Recursion Theory, Volume II. Elsevier, 1999, ISBN 0-444-50205-X.
  • Hartley Rogers: Theory of recursive functions and effective computability. McGraw-Hill, 1967.
  • G. Sacks: Higher Recursion Theory. Springer-Verlag, 1990, ISBN 3-540-19305-7.
  • R. I. Soare: Recursively Enumerable Sets and Degrees. Perspectives in Mathematical Logic. Springer-Verlag, 1987, ISBN 0-387-15299-7.

Forschungspapiere

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