Die Seidenindustrie in Horgen war im 18. Jahrhundert Schrittmacherin der Industrialisierung in der Gemeinde Horgen am Zürichsee im Schweizer Kanton Zürich. Mit deren Aufschwung im ausgehenden 19. Jahrhundert erhielt Horgen den Beinamen «Klein-Lyon».

Johann Jakob Staub: Tableaux aus Seide, Ausstellung New York 1853

Geschichte Bearbeiten

Horgens Entwicklung zum Seidenproduktionsort hing eng mit dem Aufstieg der Zürcher Seidenindustrie zusammen. Der Kanton Zürich entwickelte sich seit dem 16. Jahrhundert als Verteilzentrum für importierte Rohseide aus Spanien und Italien, die nach ihrer Verarbeitung zu Seidengarn nach Basel, Frankreich, Österreich, Deutschland und England exportiert wurde. Da die Bevölkerung auf der Zürcher Landschaft bereits mit der Baumwollindustrie ausgelastet war, weiteten die Zürcher Textilproduzenten im 18. Jahrhundert ihr Rekrutierungsgebiet für Arbeitskräfte bis in die Innerschweiz aus. In den 1850er und 1860er Jahren war der Kanton Zürich der weltweit zweitgrösste Seidenstoffproduzent.

Günstige Standortfaktoren von Horgen waren die verkehrs- und energiegünstige Lage am Zürichsee. Die Gemeinde war ein bedeutender Warenumschlagplatz an der Gotthardhandelsroute über den Saumpass Hirzel Höhi Richtung Vierwaldstättersee. Bei der Horgner Sust wurde die von Italien über den Gotthard kommende Rohware verschifft und erreichte die Stadt Zürich auf dem Wasserweg, auf dem auch die fertige Ware transportiert wurde. Die Bäche vom Zimmerberg wurden für die Energiegewinnung auch der Seidenindustrie genutzt.

Heimindustrie und Verlagssystem Bearbeiten

 
Heimarbeiterinnen von Baumann & Streuli im Zürcher Oberland um 1850

Insbesondere am linken Zürichseeufer bahnte die aufstrebende Baumwollspinnerei und -weberei den Weg für die Seidenfabrikation, die im 19. Jahrhundert im Horgen bedeutsam wurde. Die zunehmende Wirtschaftsfreiheit in den 1820er Jahren und deren Beseitigung 1830 war eine wichtige Voraussetzung für den Aufschwung der Seidenindustrie in der Zürcher Landschaft. Vor 1800 hatten die «Tüchler» (Fabrikanten), die im Verlagssystem die Arbeit der Heimarbeiterfamilien mit Hilfe von Mittelsmännern (Fergger) koordinierten, nur im Baumwollgewerbe gewisse Freiheiten erlangt, während die Seidenverarbeitung ein Monopol der Stadtbürger blieb. Frühere Seidenweber in der Landschaft arbeiteten ausschliesslich für die Stadtzürcher Seidenherren.

Die zur Zeit der Baumwollfabrikation für die Heimarbeit aufgebauten Strukturen, konnten auch für die Seidenfabrikation benutzt werden.[1] 1825 begannen die beiden Firmen Stapfer, Hüni & Cie und Abegg & Staub mit der Seidenfabrikation. Der Gründer von Stapfer, Hüni & Cie., Johann Jakob Staub hatte das Baumwollgeschäft seines im Stäfnerhandel verfolgten Onkels Hans Heinrich Stapfer-Werdmüller (1748–1808) übernommen. Es folgten 1828 Höhn & Baumann, 1835 Stünzi Söhne und Charpentier, Stünzi & Co. (1837 aufgelöst), 1839 Baumann & Streuli, 1842 Hüni & Fierz, 1846 Höhn & Stäubli.[2]

Horgen zählte 1847 zehn Seidenfabrikationsgeschäfte und 1870 arbeiteten weit über tausend Dorfbewohner für die Seidenindustrie. Die rasche Vermehrung der Seidenfirmen erfolgte auch, weil die meisten Seidenhäuser von Teilhabern gemeinsam geführt wurden und solche Teilhaber später oft eigene Firmen gründeten. Für die Heimarbeit bildete die Mechanisierung der Seidenindustrie nicht die gleich starke Bedrohung wie seinerzeit bei der Baumwollindustrie und sie blieb auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts bedeutend. Die «Heimarbeit» fand auch an den innerhalb der Manufakturen (Fabriken) aufgestellten Handwebstühlen statt.[3]

Mechanisierung Bearbeiten

 
Seidenwindmaschine Hüni & Bessler (1900)

Im Fabrikgebäude auf Burghalden wurde von der Stadtzürcher Firma Corrodi & Thomann 1863 die erste mechanisierte Seidenweberei in Betrieb genommen, 1867 im gleichen Gebäude eine weitere von der Jacquardweberei Schinz. 1880 mechanisierten Stünzi & Söhne ihren neuen Betrieb im Talhof. 1904 stellte Jean Leuthold an der Zugerstrasse auf die mechanisierte Seidenweberei um.

 
Stünzi New York (1920)

Den Höhepunkt erreichte die Horgner Seidenindustrie in der Übergangsphase von der traditionellen Handweberei zur mechanisierten Seidenweberei. In dieser Zeit waren die Vereinigten Staaten der Hauptabsatzmarkt, die von 1878 bis 1898 in Horgen zuerst eine Konsularagentur und später ein Konsulat unterhielten. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Horgen «Klein-Lyon» genannt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Seidenindustrie nicht mehr die Bedeutung, wie 20 Jahre davor. In den 1880er Jahren waren die einst wichtigen Seidenfirmen Nägeli & Co. und Johannes Stapfer Söhne aufgelöst worden. Baumann & Streuli hatten ihren Sitz nach Zürich verlegt und A. Stäubli & Co. verlagerten die Produktion nach 1900 nach Deutschland.

Der endgültige Niedergang der Horgner Seidenindustrie begann 1925 mit der Schliessung der Seidenweberei Baumann & Streuli auf Burghalden. Die beiden letzten grossen Fabriken Jean Leuthold und Stünzi Söhne wurden 1935 auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise stillgelegt. Ursache für das rasche Ende war unter anderem die ausländische Konkurrenz (besonders Japan) mit Stoffen aus Kunstseide, die den Preis für die Horgner Naturseide einbrechen liess.[4]

Textilmaschinenindustrie Bearbeiten

Die für die Seidenindustrie arbeitende vielfältige Textilmaschinenindustrie und die Zulieferer wurden immer stärker und überholten diese Anfang des 20. Jahrhunderts. In Horgen waren das unter anderen die Unternehmen Abegg, Grob, Schweiter, Stäubli und Vollenweider.

Seidenhäuser Bearbeiten

Bild Seidenhäuser Gründung Auflösung Standorte Bemerkungen Koordinaten
  Stapfer, Hüni & Cie. 1825 1882 Neuhaus, Friedberg mechanische Baumwollspinnerei im Schliffitobel 687930 / 234933 687746 / 234955
  Abegg & Staub 1825 1843 Staubhaus, Burghalden Einführung der Jacquardweberei 687802 / 234886 687829 / 234786
  Höhn & Baumann 1828 1853 Seegarten 1853 Umzug nach Zürich: Baumann älter & Co. 687262 / 235369
  Stünzi Söhne Seidenwebereien 1835 1993 Neuhof, Talhof, Seestrasse 230 1880 mechanische Seidenweberei im Talhof 689699 / 233602

688331 / 234778 688314 / 234744

  Charpentier, Stünzi & Co. 1835 1837 Alte Landstr. 33 687477 / 235092
  Johannes Stapfer Söhne 1835 1888 Neuhaus Gründer Johann Stapfer 687930 / 234933
  Gebrüder Burkhardt 1835 1877 Seestrasse 150, Alte Landstr. 33 ab 1836 Burkhardt & Nägeli, Burkhardt Söhne, Julius Burkhardt 687762 / 235010 687477 / 235092
  Baumann & Streuli 1839 1925 Rosenberg, Palme, Burghalden 1891 Sitzverlegung nach Zürich 687206 / 235359

687262 / 235369 687829 / 234786

  Gebrüder Staub 1840 1855 Staubhaus 1855 Private Webschule im Staubhaus 687946 / 234760
  Hüni & Fierz 1842 1862 Villa Hüni nachmals Hüni-Stettler 687180 / 235467
  Heinrich Pestalozzi 1843 1853 Burghalden vormals Abegg & Staub 687829 / 234786
  Höhn & Stäubli 1846 1937 Palast, Fierzenhüsli 1892 A. Stäubli & Co., Produktionsverlagerung nach Deutschland 687698 / 235055
  J.J. Widmer-Hüni 1848 1884 Seegarten zwischendurch Widmer & Nägeli 687295 / 235339
Huber & Rottenschweiler 1851 1852 Jakob Rottenschweiler
Widmer & Rottenschweiler 1852 1853
  Jacquardweberei Hermann Schinz 1853 1871 Burghalden vormals Heinrich Pestalozzi, 1867 Mechanische Seidenweberei Horgen 687829 / 234786
  Nägeli & Co. 1853 1885 Talgarten (1760–1949) 687779 / 235036
Bollier & Co. 1853 1854
  Rottenschweiler-Hüni 1854 1859 Blume 687436 / 235151
  Corrodi & Thomann 1863 Burghalden erste mechanische Seidenweberei, 1874 Thomann & Hubacher 687829 / 234786
  Heinrich Burkhard-Weiss 1868 1885 Baumgärtli, Lindenstrasse 3 Cachenez für Foulards 687901 / 234931
  Mechanische Seidenstoffweberei Horgen 1878 1894 Burghalden 1894 Fusion mit Baumann, Streuli & Co. 687829 / 234786
  Schenkel & Streuli 1873 1876 Zugerstrasse 56 Schenkel-Staub 687946 / 234760
  Jean Leuthold 1890 1935 Staubhaus, Seegarten, Steinbruchstr. 7 1904 mechanische Seidenweberei 687802 / 234886

687262 / 235369 687966 / 234730

  Schenkel-Staub 1876 1904 Zugerstrasse 56 an Jean Leuthold 687946 / 234760
  Burkhardt am Platz 1859 Blume Julius Burkhardt 687436 / 235151
  Seidenweberei W. Kägi 1946 1993 Zugerstrasse 53/55 nachmals Glastex AG 687969 / 234772

Literatur Bearbeiten

  • Vom 1000jährigen Horgen. In: Mitteilungen über Textilindustrie. Schweizerische Fachschrift für die gesamte Textilindustrie. Band 59, Nr. 11, 1952.[5]
  • Hans Peter Treichler: Die Löwenbraut: Familiengeschichte als Zeitspiegel, 1850–1914. NZZ Libro, Zürich, 5. Auflage, Zürich 2003, ISBN 3-85823-898-8.
  • Hans Peter Treichler: Ein Seidenhändler in New York. Das Tagebuch des Emil Streuli (1858–1861). NZZ Libro, ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe, 1. Auflage, Zürich 2010, ISBN 3-03823-596-2.
  • Beat Frei: Horgner Industriegeschichte. Von Quartier zu Quartier. Hrsg. Gemeinde Horgen, Horgen 2018, ISBN 978-3-033-07025-7.
  • Gisela Nagy-Braun, Martin Illi: Horgen (Gemeinde). In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  • Unser Netzwerk. swiss silk, Vereinigung Schweizer Seidenproduzentinnen.

Siehe auch Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Commons: Seidenindustrie Horgen – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Die zürcherische Seidenindustrie. In: Mitteilungen über Textilindustrie. Schweizerische Fachschrift für die gesamte Textilindustrie. Band 4, Nr. 7, 1897 (online).
  2. R. Honold: Vom einstigen «Klein-Lyon». In: Mitteilungen über Textilindustrie. Schweizerische Fachschrift für die gesamte Textilindustrie. Band 61, Nr. 6, 1954 (online).
  3. Vom 1000jährigen Horgen. In: Mitteilungen über Textilindustrie. Schweizerische Fachschrift für die gesamte Textilindustrie. Band 59, 1952.
  4. Beat Frei: Horgner Industriegeschichte. Von Quartier zu Quartier. Hrsg. Gemeinde Horgen, Horgen 2018, ISBN 978-3-033-07025-7.
  5. Vom 1000jährigen Horgen. Mitteilungen über Textilindustrie. Schweizerische Fachschrift für die gesamte Textilindustrie. Band 59, Nr. 11, 1952 (archiviert in E-Periodica der ETH Zürich).