Ratiaria

Siedlung in Bulgarien

Ratiaria (auch: Raetiaria, Retiaria, Reciaria, Razaria, Ratiaris; bulgarisch Рациария - Raziaria; altgriechisch Ραζαρία μητρόπολις; später auch Colonia Ulpia Traiana Ratiaria) war der Name für eine römische Stadt und ein römisches Kastell in der Provinz Moesia. Das Kastell war Bestandteil der Festungskette des Donaulimes. Die Ruinen der antiken Fundstätte liegen heute zwei Kilometer westlich des Dorfes Artschar (с. Арчар - engl. Arčar, Arcar, Archar, Artschav oder Artscher; franz. Arzer) – in der Gegend Kaleto („калето“; ohne den bestimmten Artikel heißt es: Kale) – im Verwaltungsbezirk (Oblast) Widin in Nordwest-Bulgarien.

Ratiaria – Karte des Balkans von 1849
Ratiaria – Lage im heutigen Bulgarien
Ratiaria (rotes Viereck) – Lage im heutigen Bulgarien – Nachbarorte: Lom, Widin, Calafat, Negotin, Craiova, Montana, Berkowiza, Wraza, Pirot

Lage Bearbeiten

Die Fundstelle liegt einige Kilometer vom rechten Ufer des Danuvius (Donausüdufer) entfernt auf einem Plateau (1500 × 400 Meter), das von Süd nach Ost vom Fluss Artschariza (bulg. р. Арчарица) begrenzt war und im Norden von der Donau. Nach dem Fluss ist auch das heutige Dorf Artschar (с. Арчар) benannt.

In der Antike lag Ratiaria zwischen den Donaustädten Bononia (Widin) und Almus (Lom) – 27 Kilometer südöstlich von Widin (beherbergte zur Römerzeit nur eine kleine Militäreinheit) und 28 Kilometer westlich von Lom – an einem Übergang über die Donau, wo sich zwei bedeutende Wege kreuzten, zum einen eine Römerstraße entlang der Donau und zum anderen die Straße von Lezha (Albanien), an der Adria, über Ulpiana (Kosovo) und Niš (Serbien) kommend. Der Donauweg, in Adriatica beginnend, führte über Naissos und Alesio (heute Lezha in Albanien) an die untere Donau und Dakien und weiter nach Byzantion (Konstantinopel).

Geschichte Bearbeiten

In Ratiaria gab es bereits zur Thrakerzeit eine Goldmine.

Ratiaria wurde bereits Ziel eines Angriffs von Burebista um 60 v. Chr., sodass man davon ausgehen muss, das dort bereits eine thrakische Siedlung bestand, die sicher mit der Thrakischen Goldmine zusammen hängt und vermutlich bereits seit dem Odrysenreich bestand.

Das bekannte Ratiaria ging aus der römischen Garnison hervor, die dort Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. gegründet wurde. Den Namen erhielt die Stadt wahrscheinlich zur Zeit Kaiser Vespasians (69–79 n. Chr.), der großen Wert auf die Befestigung des Limes an der unteren Donau (in der Antike als Ister bezeichnet) und auf die Organisierung der Donauflotte legte. Ratiaria war für diese Flotte einer der wichtigsten Stützpunkte. Ratiaria war die Bezeichnung für einen Schiffstyp, der von den Römern auf dem Ister und dem Rhein verwendet wurde. Die Gegend war für die Anlage einer Stadt gut geeignet, da sie gute Bedingungen für die Landwirtschaft bot und einen bequemen Hafen hatte.

Anfangs war Ratiaria nur ein Militärstützpunkt für zwei Legionen. Erst später wurde es zum Hauptstützpunkt der römischen Donauflotte Classis Pannonica. Durch Ratiaria verlief der Hauptweg von der Adria zur unteren Donau, nach Dakien und nach Konstantinopel. Der Weg nach Serdica (Sofia) führte über Almus (Lom).

Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. lagerte in Ratiaria eine Ala (Reiterverband) aus Gallien und zwischen 86 und dem Anfang des 2. Jahrhunderts wiederholt die Legio IIII Flavia Felix. Mit Teilung der Provinz Moesia wurde Ratiaria Moesia superior (Obermösien) zugeschlagen.

Unter Kaiser Trajan war die Stadt Ausgangspunkt für die Kriegszüge nach Dakien. Zu Ehren des Sieges über die Daker erhob Kaiser Trajan die Stadt zur Colonia Ulpia Ratiaria. Als Colonia gehörte sie zu den etwa 150 Städten im römischen Reich, die dieses höchste Stadtrecht besaßen und als „Abbilder Roms“ galten. Der Beiname Ulpia ist von Trajans Gentilnamen Ulpius abgeleitet. Trajan erhob auch Poetovio (heute Ptuj) in Pannonia superior zur Colonia Ulpia Traiana Poetovio. In diese Zeit fällt auch der Baubeginn einer bis zum Schwarzen Meer reichenden Donaustraße.

Als der Kaiser Aurelian sich nach den Dakerkriegen aus Dakien (nördlich der Donau) zurückzog, gründete er eine neue Provinz gleichen Namens südlich der Donau. Diese Provinz wurde später von Kaiser Diokletian geteilt in Dacia ripensis (an der Donau, Hauptstadt: Ratiaria) und Dacia mediterranea (weiter südlich, Hauptstadt: Serdica [Sofia]). Die beiden Provinzen bestanden bis 535 und wurden dann Teil der neu eingerichteten Provinz Justiniana Prima, die der öströmische Kaiser Justinian I. schuf.

Nach 272 war Ulpia Ratiaria die Hauptstadt von Dacia ripensis und damit das bedeutendste ökonomische, administrative und strategische Zentrum der Römer im heutigen Nordwestbulgarien. Als Provinzhauptstadt war es der Sitz des Militärgouverneurs (Dux). Als Aurelian Dakien 275 n. Chr. endgültig aufgab, wurde die Legio XIII Gemina in Ratiaria stationiert.[1]

Die Legio XIII Gemina blieb bis zum Untergang des Römischen Reiches in Ratiaria.[2] Gegen Ende des Weströmischen Reiches (um 400), als die Versorgung und Bezahlung der Truppen eingestellt wurde, schmolzen die Reste der Legion dahin. Die letzten Soldaten verließen den Militärdienst und kümmerten sich um die Landwirtschaft, um ihre Familien zu ernähren. Was aus der „Truppenfahne“ – Aquila (dem Adler – das Feldzeichen der römischen Legionen) – wurde, ist unbekannt.

Dacia ripensis wurde neben der Legio XIII Gemina auch von der Legio V Macedonica verteidigt, die in Oescus stationiert war. Mindestens bis zum 5. Jahrhundert kontrollierten diese Legionen auch das Nordufer der Donau in diesem Bereich (zwischen Dierna/Orsova und Sucidava/Celei an der Mündung des Olt-Flusses). Sie hatten dort mehr als zehn Militärlager und befestigte Kastelle. Oescus, das nächste römische Kastell an der Donau, lag etwa 100 Kilometer weiter östlich (flussabwärts) von Ratiaria an der Einmündung des Iskar in die Donau. Das übernächste Kastell lag ca. 200 Kilometer weiter östlich an der Donau – Novae – das heutige Swischtow. Flussaufwärts lag das nächste Kastell an der Donau ca. 200 Kilometer entfernt – Viminatium im östlichen Serbien.

Mehr als 200 Jahre lang (vom 2. bis zum 4. Jahrhundert) war Ratiaria das bedeutendste militärische und wirtschaftliche Zentrum im heutigen Nordbulgarien – ein Zentrum der römischen Kultur und Zivilisation. Hier war eine der sechs kaiserlichen Waffenschmieden. Die Stadt war zu ihrer Zeit eine der größten Waffenproduzenten für das Römische Reich.

Die Bevölkerung von Ratiaria bestand hauptsächlich aus Thrakern, jedoch auch aus vielen Umsiedlern aus Italien, Kleinasien, Syrien und den westlichen Gebieten des Balkans.

Im 4. und 5. Jahrhundert florierte die Stadt, wurde aber nach Berichten des Historikers Priskos 441 von den Hunnen unter Attila eingenommen und zerstört. Die Hunnen zerstörten in zwei Wellen (441 und 447) den Donauwall bis nach Ratiaria und weiter bis zum Schwarzen Meer.

Die byzantinischen Kaiser Anastasios I. (herrschte 491–518) und danach Justinian I. (herrschte 527–565) ließen die Stadt wieder aufbauen. Unter Kaiser Anastasios I. wurde das große Stadttor gebaut, auf dem die Inschrift „Anastasios’ Ratiaria wird immer blühen“ gefunden wurde.

Die Awaren zerstörten die Stadt und das benachbarte Widin im Jahr 586 endgültig und legten sie in Schutt und Asche (siehe hierzu Balkanfeldzüge des Maurikios). Der größte Teil der Bevölkerung wurde erschlagen, versklavt oder vertrieben. Aber die Funde aus den Ausgrabungen und die gefundenen Keramiken bezeugen, dass auch danach – während des Mittelalters – das Leben in der Stadt weiterging.

Widin war ursprünglich als Kolonie von Ratiaria gegründet worden. Während jedoch von Ratiaria nur Ruinen übrig sind, existiert Widin noch heute.

Das Dorf Artschar ist seit 2005 Namensgeber für die Artschar-Halbinsel von Greenwich Island in der Antarktis.

Ausgrabungen Bearbeiten

 
In Ratiaria gefundenen Grabstein mit der Grabinschrift des Tettius Rufus, eines Decurio und Pontifex der römischen Kolonie Ratiaria.[3]; jetziger Standort: Lapidarium vor dem Nationalen Archäologischen Institut mit Museum in Sofia
Die lateinische Inschrift lautet: D(is) M(anibus) / L(uci) Tetti / Rufi dec(urionis) / pontif(icis) / col(oniae) Rat(iariae) / Fonteia/nus frat(er)
Übersetzung: „Den Manen des Lucius Tettius Rufus, Decurio, Pontifex der Kolonie Ratiaria, sein Bruder Fonteianus“[4]

Die ersten Untersuchungen begannen 1862 durch Felix Philipp Kanitz. W. Doburski (В. Добурски) stellte bei der Untersuchung der Ruinen 1892 Informationen über die innere Anordnung der Stadt und der architektonischen Fragmente zusammen.

1944 wurde ein Grabdenkmal gefunden, das von Gaius Mamius Proculus und seiner Frau Cornelia Inventa zum Andenken an seinen Sohn Gaius den Jüngeren aufgestellt worden war.

1955 wurde eine Marmorstatue ausgegraben – Der ruhende Herakles – ein wertvolles antikes Kunstwerk. Es handelt sich um eine römische Kopie aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. einer Statue des griechischen Bildhauers Lysipp. Aufbewahrt wurde sie im Museum in Widin, wo sie Anfang 1992 bei einem Auftragsdiebstahl entwendet wurde. Zwischenzeitlich wurde die Statue in Deutschland sichergestellt und wieder zurückgegeben.

Bei Ausgrabungen 1952 bis 1962 unter der Leitung von Welisar Welkow wurden zwei Nekropolen (Begräbnisstätten) entdeckt.

Seit 1957 wurden regelmäßig Grabungen durchgeführt, die nach einer Unterbrechung 1976 wieder aufgenommen wurden, wobei sich auch italienische Archäologen beteiligten.

Es wurden monumentale öffentliche Gebäude und Kulthäuser, die westliche Festungsmauer, das westliche Stadttor und in der Umgebung Reste von Villen entdeckt, weiterhin Teile von römischen und spätrömischen Nekropolen, viele Inschriften, Skulpturen und zwei Wasserleitungen. Der Hafen wurde von den Archäologen lokalisiert, jedoch bisher nur in seiner Lage markiert.

Bei den Ausgrabungen in der Stadt wurden 50 goldene Schmuckstücke gefunden. 1986 wurde ein wertvoller Goldschatz aus 13 Damen-Schmuckstücken und Silberlöffeln gefunden.

In der Stadt blühte das Handwerk: Bronzegießerei, Töpfereien, Verarbeitung von Blei, Glas und Knochen. Die hohe Kultur spiegelt sich wider in den Skulpturen, künstlerisch ausgearbeiteten Grabplatten und Sarkophagen und den prächtigen mehrfarbigen Mosaiken, die bei den Ausgrabungen gefunden wurden. Obwohl die Quellen von einer thrakischen Periode der Stadt sprechen, konnten die Ausgrabungen keine Funde aus dieser Zeit erbringen. Gefundene Keramikreste sprechen auch für eine mittelalterliche Periode dieser Stadt. Aber auch dazu gibt es keine weiteren Funde.

Wegen der fehlenden Finanzierung wurden 1991 die regelmäßigen archäologischen Untersuchungen eingestellt.

Zerstörung durch illegale Grabungen Bearbeiten

 
Das einzige größere Stück, das nicht von den „Schatzsuchern“ zerstört wurde.
 
Die gesamte Fläche von Ratiaria wurde mit Baumaschinen metertief umgegraben und durchgesiebt.

Nachdem der Staat 1992 die Finanzierung der Ausgrabungen eingestellt hatte, wurde die Ausgrabungsstätte durch Raubgrabungen von illegalen Schatzgräbern verwüstet, die im armen ländlichen Bulgarien als Tagelöhner angeheuert wurden und oft in Hundertschaften und mit Metalldetektoren arbeiteten. Sie suchten ausschließlich nach Gold und haben dabei den Boden metertief umgegraben und die „sterile Schicht“ zerstört. Während sich Archäologen sorgfältig vorarbeiten und ihre Arbeit dokumentieren, haben die Schatzsucher vorsätzlich das gesamte Erdreich (einschließlich Keramiken, den Steinen und Baumaterialien der Ruinen) kleingeschreddert, um keine Goldmünze zu übersehen.

Schon vor 200 Jahren war die Gegend um Ratiaria dafür bekannt, dass die Felder nach starken Regenfällen vor lauter freigelegten Goldmünzen blinken.

Anfangs gingen die Bewohner der umliegenden Dörfer mit Schaufeln vor. Bis zu 2.000 Personen haben gleichzeitig gegraben. Entsetzte Archäologen berichteten von Anblicken wie auf einer Großbaustelle. 1992 begannen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus schwere wirtschaftliche Zeiten in Bulgarien. In den umliegenden Städten brach die Industrie zusammen. Die kollektivierte Landwirtschaft kam wegen der ungeklärten Besitzzustände zum Erliegen. Es begannen gesetzlose Zeiten mit mafiösen Zuständen. Noch kurz vor dem EU-Beitritt Bulgariens wurden die fehlenden und unvollkommenen Gerichtsstrukturen und die Erfolglosigkeit beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität heftig kritisiert.

In diesen „wilden“ Zeiten wurde die Schatzsuche von kriminellen, gut organisierten Schatzsuchern fortgesetzt, in den letzten Jahren auch mit schwerem Gerät. Alles wurde drei Meter tief umgegraben und zertrümmert. Die Polizei war bestochen oder machtlos und ließ die Festgenommenen meist nach 24 Stunden wieder frei. Zu Verurteilungen kam es fast nie, da die Richter dem Argument der Verteidigung folgten, dass das Grabungsgebiet keine klar festgelegten Grenzen hat. Ein privater Sicherheitsdienst versagte.

An den Gräbern wurden von den Schatzräubern Pyramiden mit Totenschädeln aus den Gräbern errichtet. Archäologen sprechen von einer Katastrophe für diesen Ausgrabungsort, da alles restlos zerstört ist und jetzt einer Mondlandschaft ähnelt – die Fundament der Stadt, zwei Festungsmauern und das Haupttor. Die Erde wurde zu Halden aufgeschüttet, die mit Unkraut zugewachsen sind.

Durch die „Arbeit“ der Schatzräuber stellt sich heraus, dass die Stadt mindestens fünfmal so groß war wie ursprünglich angenommen – jedoch ist jetzt alles unwiederbringlich zerstört.

Alle weiteren Informationen wurden durch die Schatzsuche zerstört. Eigentlich ist nach dem bulgarischen Gesetzen der Zugang zu der archäologischen Grabungsstätte verboten. Die Bauern und Landbesitzer der Umgebung durften ohne die Anwesenheit eines Archäologen nicht tiefer als 30 Zentimeter graben. Selbst beim Graben eines Loches, um einen Baum einzupflanzen, musste ein Archäologe anwesend sein.

Bischofssitz Bearbeiten

Nach der Verbreitung des Christentums wurde die Stadt 271 Bischofssitz, an dem der berühmte Paladij wirkte. Noch heute lebt der Bischofssitz als Titularerzbistum Ratiaria der römisch-katholischen Kirche weiter.

Literatur Bearbeiten

  • Felix Kanitz: Donau-Bulgarien und der Balkan. Historisch-geographisch-ethnographische Reisestudien. 3 Bände, Fries, Leipzig 1875–1879.
  • Velisar Velkov: Ratiaria. Eine römische Stadt in Bulgarien. In: Eirene. Studia Graeca et Latina. 5, 1966, S. 155–175.
  • Jordana Atanasova-Georgieva: Résultats des fouilles de la ville antique de Ratiaria au cours des années 1976 à 1982. In: 13. Internationaler Limeskongreß, Aalen 1983, Vorträge. Theiss, Stuttgart 1986, ISBN 3-8062-0776-3, S. 437–440.
  • Jan Burian: Ratiaria. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 10, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01480-0, Sp. 776.

Weblinks Bearbeiten

Anmerkungen Bearbeiten

  1. András Mócsy: Pannonia and Upper Moesia: History of the Middle Danube Provinces of the Roman Empire. Routledge, 1974, ISBN 0-7100-7714-9, S. 211–212.
  2. Notitia dignitatum Or. XLII.
  3. AE 1911, 214; AE 1919, 81.
  4. „Den Manen des...“ (Dis Manibus) ist eine übliche Formel auf Grabsteinen der römischen Kaiserzeit.

Koordinaten: 43° 49′ 0″ N, 22° 55′ 0″ O