Orgueil (Meteorit)

kohliger Chondrit
Koordinaten: 43° 53′ 0″ N, 1° 23′ 0″ O

Orgueil (Schreibvariante Orguell, auch Montauban genannt) ist ein Meteorit, der 1864 im Südwesten Frankreichs auf ein Feld in der Gemeinde Orgueil (Tarn-et-Garonne, Frankreich) südlich von Montauban niederging. Sein Fall wurde von Tausenden von Menschen von Nordfrankreich bis Nordspanien verfolgt; über den Boliden, der mit einem lauten Knall explodierte, wurden damals zahlreiche Berichte in Zeitungen und akademischen Blättern veröffentlicht.[3] Er ist ein wissenschaftlich bedeutender kohliger Chondrit vom Typ CI1 mit einer Gesamtmasse von 14 kg.[4] Man nimmt an, dass er von einem Kometen der JFC-Familie stammt.[1][5] Orgueil ist erste Meteorit, in dem extraterrestrische Aminosäuren gefunden wurden, was die Panspermie-Theorien stützen könnte.[6] Die Untersuchungen ab 1972 ergaben allerdings ein völlig anderes Aminosäurespektrum als bei den Meteoriten Murchison und Murray,[7] was darauf hindeutet, dass diese Meteoriten von einer anderen Art von Mutterkörper stammen.[8][9]

Orgueil
Zeichnung eines Fragments
Allgemeines
Offizieller Name
nach MBD
Orgueil
Synonyme Orguell
Montauban
Lokalität
Land Frankreich
Region Midi-Pyrénées
Département Tarn-et-Garonne
Ort Orgueil
Fall und Bergung
Datum (Fall) 14. Mai 1864
Datum (Fund) 1864
Beschreibung
Typ Chondrit
Klasse kohlig
Gruppe CI1
Masse (total) 14 kg (≈ 20 Teile)
Referenzen
Bruchstück des Orgueil-Meteoriten auf der Ausstellung „Météorites“, 18. Oktober 2017 – 10. Juni 2018, Muséum national d’histoire naturelle (MNHN), Grande Galerie de l'Evolution, Paris[1]
Bruchstück des Orgueil-Meteoriten im Musée de Minéralogie (Museum für Mineralogie) der École des Mines (Berg­bau­schule), Paris[2]

Die Bruchstücke des Meteoriten werden heute an verschiedenen Orten aufbewahrt, darunter befinden sich neben dem Naturkundemuseum Victor Brun in Montauban[10] einige der führenden Naturkundemuseen der Welt, so etwa das Natural History Museum in London, das American Museum of Natural History (AMNH) in New York und das Nationalmuseum für Naturgeschichte (Muséum national d’histoire naturelle, MNHN) in Paris. Letzteres bewahrt auch das größte Bruchstück auf mit einem Gewicht von über 10 kg.[11]

Beobachtung und Fund Bearbeiten

Der Orgueil-Meteorit fiel am 14. Mai 1864, wenige Minuten nach 20:00 Uhr Ortszeit, in der Nähe von Orgueil in Südfrankreich. Für den Eintrittspunkt des Meteoroiden in die Atmosphäre wurde in eine Höhe von etwa 70 Kilometern bestimmt, wobei der Bolide bei seinem Eintritt eine helle Spur über eine Entfernung von 150 Kilometern in einem Winkel von 20° hinterließ. Seine Geschwindigkeit wurde auf 20 km/s geschätzt, eine typische Geschwindigkeit für einen Meteoroiden.[5] Etwa 20 Teilstücke gingen auf einer Fläche von 5-10 Quadratkilometern nieder.

Zusammensetzung und Klassifizierung Bearbeiten

Frühe Analysen Bearbeiten

Ein Bruchstück des Meteoriten wurde im selben Jahr von François Stanislaus Clöez, Chemieprofessor am Musée d'Histoire Naturelle, analysiert, wobei er sich auf die in diesem Meteoriten gefundenen organischen Stoffe konzentrierte. Er stellte fest, dass der Meteorit die chemischen Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff enthielt und in seiner Zusammensetzung wegen seiner organischen Bestandteile dem Torf aus dem Somme-Tal oder der Braunkohle bei Kassel sehr ähnlich war. Es folgte eine intensive wissenschaftliche Diskussion bis in die 1870er Jahre über die Frage, ob die organische Substanz einen biologischen Ursprung haben könnte.[12]

Klassifizierung Bearbeiten

Orgueil ist einer von sieben bis neun bekannten Meteoriten aus der sehr seltenen Grupe der CI-Chondrite und ist mit seinen 14 kg Gesamtmasse der größte dieser Art (Stand Juli 2021).[13] Diese Gruppe zeichnet sich durch eine Zusammensetzung aus, die im Wesentlichen mit der der schwereren Elemente in der Sonne identisch ist, d. h. ohne die gasförmigen Elemente wie Wasserstoff oder Helium. Bemerkenswert ist aber, dass der Orgueil-Meteorit hochgradig mit (flüchtigem) Quecksilber angereichert ist, das in der solaren Photosphäre nicht nachweisbar ist („Quecksilber-Paradoxon“, englisch mercury paradox).[14][15]

Detaillierte Analysen Bearbeiten

Aufgrund seiner außerordentlich primitiven Zusammensetzung und seiner relativ großen Masse ist Orgueil einer der am besten untersuchten Meteoriten. Eine bemerkenswerte Entdeckung war eine hohe Konzentration von isotopisch anomalem Xenon 132 (132Xe, genannt „Xenon-HL“). Der Träger dieses Gases ist extrem feinkörniger Diamantstaub, der älter ist als das Sonnensystem selbst, so genanntes präsolares Mineral. Eine Analyse der Isotopenzusammensetzung der mikroskopisch kleinen Körner des Orgueil-Meteoriten zeigt einen Überschuss des Isotops Chrom 54 (54Cr), was (ebenfalls) auf ihre präsolare Herkunft hindeutet. D. h. sie entstanden bei der Explosion einer nahen Supernova kurz vor der Geburt der Sonne. Diese Supernova könnte eine derjenigen gewesen sein, deren Schockwelle zur Kondensation des präsolaren Nebels und damit zur Geburt der Sonne beigetragen hat.[16][17]

Irrtümer und Fälschungen Bearbeiten

„Organisierte Elemente“ Bearbeiten

1962 gaben Nagy et al. die Entdeckung von „organisierten Elementen“ (en. organised elements) bekannt, die in den Orgueil-Meteoriten eingebettet waren und bei denen es sich angeblich um biologische Strukturen außerirdischen Ursprungs handelte.[18] Später stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Elementen entweder um Kontamination von Pollen (u. a. von Kreuzkraut) und Pilzsporen, oder um Kristalle des Minerals Olivin handelte (Fitch & Anders, 1963).[19]

Ein Schwindel Bearbeiten

1965 wurde in einem Fragment des Orgueil-Meteoriten, das seit seiner Entdeckung in einem versiegelten Glasgefäß in Montauban aufbewahrt wurde, eine Samenkapsel gefunden, die in das Fragment eingebettet war, während die ursprüngliche glasartige Schicht auf der Außenseite scheinbar ungestört war. Nach großer anfänglicher Aufregung stellte sich heraus, dass die Samenkapsel von einer europäischen Binsenart stammte, die in das Fragment eingeklebt und mit Kohlenstaub getarnt war. Die äußere „Schmelzschicht“ war in Wirklichkeit Klebstoff. Der Täter ist nicht bekannt, aber es wird vermutet, dass der Schwindel die Debatte des 19. Jahrhunderts über die Spontanzeugung beeinflussen sollte, indem er die Umwandlung von anorganischer in biologische Materie demonstrierte.[20][21]

Siehe auch Bearbeiten

Angebliche Fossilien Bearbeiten

Richard B. Hoover von der NASA hat behauptet, dass der Orgueil-Meteorit Fossilien enthält, von denen einige bekannten irdischen Arten ähneln.[22] Hoover hat zuvor auch die Existenz von Fossilien im Murchison-Meteoriten behauptet. Die NASA hat sich jedoch offiziell von Hoovers Behauptungen angesichts fehlender Expertengutachten (Peer-Reviews) distanziert.[23]

Literatur Bearbeiten

  • I. Gilmour, I. Wright, J. Wright: Origins of Earth and Life, In: The Open University, 1997, ISBN 0-7492-8182-0

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Ausstellung „Météorites“, 18. Oktober 2017 - 10. Juni 2018, Muséum national d’histoire naturelle, Grande Galerie de l'Evolution, Paris. Begleittext des ausgestellten Bruchstücks
  2. Musée de Minéralogie, Homepage des Musée de Minéralogie (Museum für Mineralogie) der École des Mines (Berg­bau­schule), Paris
  3. Joseph Seckbach (Hrsg.): Genesis - In The Beginning, Precursors of Life, Chemical Models and Early Biological Evolution, Springer 2012, S. 551
  4. Orgueil. Meteoritical Bulletin Database, The Meteorological Society (MetSoc), Lunar And Planetary Institute (LPI), Stand: 17. Dezember 2016.
  5. a b Matthieu Gounelle, Pavel Spurný, Philip A. Bland: The orbit and atmospheric trajectory of the Orgueil meteorite from historical records, in: The Meteoritical Society: Meteoritics & Planetary Science, Band 41, Nr. 1, Januar 2006, S. 135-150, Epub 26. Januar 2016, doi:10.1111/j.1945-5100.2006.tb00198.x
  6. Alain Carion: La chasse aux météorites, in: Ciel et Espace vom 3. September 2009 (französisch)
  7. Murray. Meteoritical Bulletin Database, The Meteorological Society (MetSoc), Lunar And Planetary Institute (LPI).
  8. Pascale Ehrenfreund, Daniel P. Glavin, Oliver Botta, George Cooper, Jeffrey L. Bada: Extraterrestrial amino acids in Orgueil and Ivuna: Tracing the parent body of CI type carbonaceous chondrites, in: PNAS, Band 98, Nr. 5, 27. Februar 2001, S. 2138-2141, doi:10.1073/pnas.051502898
  9. Pascale Ehrenfreund: New findings on amino-acids in meteorites show the potential of Rosetta for astrobiology, in: esa: rosetta vom 1. März 2001, letzte Aktualisierung: 1. September 2019
  10. Orgueil fête les 150 ans de la chute de la météorite, in: La Dépêche du Midi vom 28. April 2014 (französisch)
  11. 150 ans de la chute de la météorite d’Orgueil : retour sur l’histoire d’une roche exceptionnelle, Veranstaltung des Nationalmuseums für Naturgeschichte vom 5. Mai 2014
  12. John G. Burke: Cosmic Debris: Meteorites in History. University of California Press, Berkeley and Los Angeles, California 1986, ISBN 0-520-05651-5, S. 168–169 (englisch, oup.com). Stephen G. Brush (Hrsg.): The American Historical Review, Band 93, Nr. 3, 1. Juni 1988, S. 665, doi:10.1086/ahr/93.3.665 (englisch).
  13. Orgueil meteorite (Montauban meteorite; Orguell meteorite), Orgueil, Montauban, Tarn-et-Garonne, Occitanie, France. Auf: mindat.org, Hudson Institute of Mineralogy.
  14. Dante S. Lauretta, Bertrand Devouard, Peter R. Buseck: The cosmochemical behavior of mercury. In: Earth and Planetary Science Letters, Band 171, Nr. 1, 15. August 1999, S. 35-47, doi:10.1016/S0012-821X(99)00129-6
  15. Matthias M. M. Meier, Christophe Cloquet, Bernard Marty: Mercury (Hg) in meteorites: Variations in abundance, thermal release profile, mass-dependent and mass-independent isotopic fractionation. In: Geochimica et Cosmochimica Acta, Band 182, 1. Juni 2016, S. 55–72, doi:10.1016/j.gca.2016.03.007
  16. La météorite d'Orgueil livre un nouveau secret, cnrs-Pressemitteilung vom 10. September 2010. Memento im Webarchiv vom 10. Juni 2015 (französisch)
  17. Nicolas Dauphas, Laurent Remusat, James Chen, Mathieu Roskosz, Dimitri A. Papanastassiou, Julien Stodolna, Y. Guan, C. Ma, J. M. Eiler: Neutron-rich chromium isotope anomalies in supernova nanoparticles, in; The Astrophysical Journal, Band 720, nr. 2, 10. Septembre 2010, S. 1577-1591, doi:10.1088/0004-637X/720/2/1577
  18. Bart Nagy, G. Claus, D. J. Hennessy: Organic Particles Embedded in Minerals in Orgueil and Ivuna Carbonaceous Chondrites. In: Nature, Band 193, Nr. 4821, 1962, S. 1129
  19. Frank W. Fitch, Edward Anders: Organized Element - Possible Identification in Orgueil Meteorite. In: Science, Band 140, Nr. 3571, 7. Juni 1963, S. 1097-1100, doi:10.1126/science.140.3571.1097
  20. The Orgueil Meteorite, 1864. The Museum of Hoaxes, abgerufen am 16. April 2014 (englisch).
  21. Paul C. W. Davies: The Origin of Life, Penguin UK, 6. Februar 2003, Paperback 304 Seiten, ISBN 9780141013022. Hier S. 221
  22. Richard B. Hoover: Fossils of Cyanobacteria in CI1 Carbonaceous Meteorites: Implications to Life on Comets, Europa, and Enceladus. In: Journal of Cosmology. 13. Jahrgang, 2011 (englisch, sdcc3.ucsd.edu (Memento des Originals vom 4. Oktober 2018 im Internet Archive) [abgerufen am 11. April 2012]).
  23. Kerry Sheridan: NASA shoots down alien fossil claims In: ABC News (Australia), 7. März 2011 (englisch).