Das Konstanzprinzip stellt ein von Sigmund Freud (1856–1939) in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips im Jahr 1920 aufgestelltes psychologisches Grundprinzip dar.[1](a) Demnach besteht bei allen seelischen Abläufen das Bestreben, die im psychischen System insgesamt vorhandene Quantität an seelischer Erregung „möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu erhalten“. Dieses Streben nannte Freud ökonomisch. Freud betont, dass die Ökonomie neben dem topischen und dem dynamischen Moment den dritten Gesichtspunkt seiner Metapsychologie darstelle. Ökonomische Gesichtspunkte entsprechen nach allgemeiner Erfahrung einer möglichst optimalen Nützlichkeit unter Wahrung des Aufwands an energetischer bzw. psychodynamischer Ressourcen seitens des Organismus. Freud allerdings hielt das Lustprinzip für die Tatsache der Konstanz und Stabilität für bedeutsam. Er erwähnt Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und seine Schrift: Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen von 1875 und glaubt, dass die eigenen Freudschen Feststellungen sich den in Fechners Schrift enthaltenen Ausführungen als „spezieller Fall“ unterordnen lassen.[2](a) Damit erkennt Freud die wissenschaftliche Priorität Fechners an, gibt seinen eigenen grundsätzlichen Annahmen jedoch die spezielle Bezeichnung „Konstanzprinzip“.[2](b)

Lustprinzip und Konstanzprinzip

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Fechner hatte seine entsprechenden Vorstellungen als Stabilitätsprinzip bezeichnet.[3][1](b) Freud ging davon aus, dass Lust einer Verringerung der Quantität an allgemein vorhandener Erregung des Organismus entspricht, also einer Abnahme des Erregungsniveaus. Unlust entspreche einer Zunahme des Erregungsniveaus. Damit deckten sich die Auffassungen Freuds mit dem Stabilitätsprinzip Fechners, als dem Begründer der Psychophysik.[2](c) Es fragt sich dabei allerdings, ob Freud die lustvolle Abnahme des Erregungsniveaus nicht mit der Abnahme von Konfliktspannung gleichgesetzt hat, wie er das bei der Anwendung seiner von Josef Breuer übernommenen kathartischen psychotherapeutischen Methode erfahren hatte. Diese Methode führt ihre Wirksamkeit und Erfolge zurück auf das Abreagieren unbearbeiteter und ungelöster Affekte im therapeutischen Gespräch.[4](a) Es liegt nahe, bei dem mit der kathartischen Methode notwendig verbundenen Erwecken der Aufmerksamkeit des Patienten zu „voller Helligkeit“ auch an das reine Gegenteil zu denken, etwa an die Langeweile. Freund beschreibt im gleichen Kapitel „Zur Psychotherapie der Hysterie“ den Gegensatz und die prinzipielle Unvereinbarkeit sanatoriumsmäßiger Langweile bei einer Liegekur mit der begleitenden Anwendung der kathartischen Methode. Er drückt sein Verständnis für die Vermutung aus, dass die notwendigen Erregungen eines Patienten infolge der Reproduktion traumatischer Erlebnisse bei genannter Anwendung der kathartischen Methode einer solchen Ruhekur zuwiderlaufe.[4](b)

Phänomenologie

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Diesen Gegensatz betont auch Hans Walter Gruhle (1880–1958).[5](a) Dabei bezieht er sich gleichzeitig auf Jürg Zutt (1893–1980).[6] Beide stimmen insofern überein, dass ein ausgeglichenes Bewusstsein einen „mittleren Stand“ zwischen Interesse und Langeweile darstelle, d. h. zwischen lustvoller (euphorischer) Stimmung des Interesses und unlustvoller (dysphorischer) Stimmung der Langeweile. Es stellt sich allerdings auch die Frage, ob Klarheit und Helligkeit des Bewusstseins (rein phänomenologisch) nicht von diesen Stimmungen kategorisch zu unterscheiden sind und daher auch wenig oder gar nicht voneinander abhängig sein können. Wie dies unter rein psychodynamischen Gesichtspunkten zu beurteilen ist, scheint unsicher. Gruhle vertritt die Auffassung, dass in beiden polaren Gefühlszuständen die gleiche Helligkeit des Bewusstseins bestehen kann. Zutt teilt diese Auffassung nicht. Interessiertheit sei nach Zutt gesteigerte Wachheit. Entspricht das Konstanzprinzip also dem „mittleren Stand“, einem Gleichgewichtszustand, wie er auch in Begriffen wie Befindlichkeit zum Ausdruck kommt?

Anthropologie

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Gaston La Touche, Langeweile (1893)

Eine nur quantitativ zu beachtende psychodynamische Bedeutung der Erregungssummen reicht zur Beantwortung offener und vielseitiger Fragen ggf. nicht aus. Freud beantwortet diese Frage jedoch positiv am Beispiel der Geburt und einer durch das Lustprinzip nicht zu bewältigenden Angst, wie sie auch durch ähnliche traumatische Situationen hervorgerufen werde.[7] Dennoch wäre zur umfassenderen Verdeutlichung auch auf eine daseinsanalytische Feststellung von Martin Heidegger (1889–1976) hinzuweisen. Er betont in seiner Vorlesung Was ist Metaphysik?: „Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen.“[8] Das „Seiende im Ganzen“ sollte wohl anthropologisch verstanden werden als Integrationsraum, der Menschen und Dinge symbolisch miteinander verbinden oder eben auch trennen kann. Dieses integrative Moment wird auch nach Wolfgang Loch (1915–1995) bestimmt durch das Gleichgewicht zwischen anabolischen (integrativen) und katabolischen (desintegrativen) Vorgängen bzw. der Gefahr der Vernichtung.[9] Auch Gerd Huber (1921–2012) schließt sich dem an.[10]

Kunstwissenschaft

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Der Begriff der Katharsis wird von Gruhle unter dem bis in die Antike zurückreichenden Blickwinkel der Kunstwissenschaft sehr ausführlich untersucht. Die von ihm zitierten Auffassungen, ob die Tragödie die Affekte „reinige“ oder sie diese erst im Zuschauer entstehen ließe, sind eher in sich widersprüchlich. Auch Lustgefühle finden bei Gruhles Untersuchung Beachtung.[5](b) Psychodynamische Gesichtspunkte fehlen dabei jedoch. Es stellt sich dennoch die Frage, ob nur der Wechsel der affektiven Beteiligung des Zuschauers sein eigenes Lustempfinden und sein Bedürfnis nach Abwechslung und Wiederholung bedingt?

Todestrieb

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Die dynamische Definition des Konstanzprinzips durch die Quantität an seelischer Erregung stellt rein logisch gesehen zwei verschiedene Forderungen auf. Die Erregung soll auf einem „möglichst niedrigen oder wenigstens konstant zu erhaltenden“ Niveau gehalten werden. Die erste von beiden Bedingungen, nämlich der des „möglichst niedrigen“ Erregungsniveaus, stößt bereits auf den logischen Einwand einer fraglichen „unteren Grenze“. Bedingt dieses Prinzip also ein „Gleiten in den Tod“?[11] Diese Frage des Grenzwerts ist auch mit der vorstehenden Frage eines „idealen Gleichgewichts“ verbunden. Da ein solcher Idealzustand jedoch von zu vielen Determinanten abhängig wäre, war es auch für Freud naheliegend, den Gedanken konsequent weiterzuverfolgen. Hieraus ergibt sich einmal der psychoanalytische Begriff der Überdeterminiertheit aller seelischer Prozesse, andererseits aber auch der des Todestriebs. Ob mit dem Tod des Einzelwesens jede seelische Aktivität erloschen ist oder ob die Seele weiterlebt, ist Gegenstand der in vielen Religionen geglaubten Seelenwanderung. Auch Freud erwähnt diesen Begriff.[2](d)

Freud und Fechner

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Freud übernahm Fechners Lust- und Unlustprinzip, damit jedoch auch sein Konstanzprinzip. Außerdem übernahm er auch das Fechnersche Konzept von der seelischen Energie, sein Prinzip einer psychischen Topik, und das von ihm stammende Wiederholungsprinzip.[1](c) Auch Fechner bezeichnete ebenso wie Freud jede bewusste „psychophysische Bewegung“ als das Resultat zweier gegensätzlicher von Lust und Unlust bestimmter Impulse. Unklar erscheint allerdings, ob das Lustprinzip aus dem Konstanzprinzip abzuleiten ist.[2](e) Die Herrschaft des Lustprinzips werde nach den Erkenntnissen Freuds vom Realitätsprinzip eingeschränkt.[2](f)

Einzelnachweise

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  1. a b c Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 5. Auflage, Urban & Fischer, München 2000; ISBN 3-437-15060-X:
    (a) S. 305 zu Stw. „Grundprinzip der Psyche“, in: Lemma „Konstanzprinzip“;
    (b) S. 305 zu Stw. „Stabilitätsprinzip (Fechner)“, in: Lemma „Konstanzprinzip (Freud)“;
    (c) S. 195 zu Stw. „Einfluss Fechners auf Freud“ in: Lemma „Fechner, G. T.“.
  2. a b c d e f Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. [1920] In: Gesammelte Werke, Band XIII, „Jenseits des Lustprinzips – Massenpsychologie und Ich-Analyse – Das Ich und das Es“ (Werke aus den Jahren 1920–1928), Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0:
    (a) S. 3–8 zu Stw. „Konstanzprinzip, insgesamt“;
    (b) S. 5 zu Stw. „Konstanzprinzip, explizite namentliche Benennung“;
    (c) S. 5 zu Stw. „Grund der Übereinstimmung mit Fechner“;
    (d) S. 40–45, 58–66 zu Stw. „Todestrieb, Wiederherstellung eines früheren Zustandes, Regression, Seelenwanderung“;
    (e) S. 5 zu Stw. „Lustprinzip aus Konstanzprinzip ableitbar?“;
    (f) S. 6–8 zu Stw. „Relativierung des Lustprinzips“.
  3. Gustav Theodor Fechner: Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwickelungsgeschichte der Organismen. Leipzig 1873, Neuauflage 1875, Abschnitt XI, Zusatz, S. 94.
  4. a b Sigmund Freud: Zur Psychotherapie der Hysterie. [1895] In: Gesammelte Werke, Band I, „Studien über Hysterie. Frühe Schriften zur Neurosenlehre“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0:
    (a) S. 252 zu Stw. „Erinnerung zu voller Helligkeit an den affektauslösenden Vorgang“, in: Kap. „Zur Psychotherapie der Hysterie“;
    (b) S. 266 Stw. „Langweile“, in: gleiches Kap. wie (a).
  5. a b Hans Walter Gruhle: Verstehende Psychologie. Erlebnislehre. 2. Auflage, Georg Thieme, Stuttgart 1956:
    (a) S. 54 zu Stw. „Langeweile, phänomenologische Betrachtung“;
    (b) S. 346–348 zu Stw. „Lustgefühle, Katharsis, Langeweile“.
  6. Jürg Zutt: Über die polare Structur des Bewußtseins. Der Nervenarzt, 16, 1943.
  7. Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933] In: Gesammelte Werke, Bd. XV, Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0 (Kassette); S. 100 zu Stw. „Angst als Zustand hochgespannter Erregung“.
  8. Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? 10. Auflage, Vittorio Klostermann, Frankfurt 1969; S. 31 f. zu Stw. „Langeweile“.
  9. Wolfgang Loch: Zur Theorie, Technik und Therapie der Psychoanalyse. S. Fischer Conditio humana (hrsg. von Thure von Uexküll & Ilse Grubrich-Simitis 1972, ISBN 3-10-844801-3; S. 11 f. zu Stw. „Lustprinzip, Erregungssummen und Integration“.
  10. Gerd Huber: Psychiatrie. Systematischer Lehrtext für Studenten und Ärzte. F. K. Schattauer, Stuttgart 1974, ISBN 3-7945-0404-6; Teil A Spezielle Psychiatrie, Kap. III. Abnorme Variationen seelischen Wesens, Abs. 3. Abnorme Erlebnisreaktionen, S. 254 zu Stw. „Integration als Verarbeitungsmodus zum Abbau von Konfliktspannung“.
  11. Sigmund Freud: Das Ich und das Es. In: Gesammelte Werke, Band XIII, „Jenseits des Lustprinzips – Massenpsychologie und Ich-Analyse – Das Ich und das Es“ (Werke aus den Jahren 1920–1928), Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0; S. 275 zu Stw. „Stabilitätsprinzip und Gleiten in den Tod“.