Karl-Heinz Boseck

deutscher Mathematiker

Karl-Heinz Boseck (* 11. Dezember 1915 in Berlin)[1] war ein deutscher Mathematiker und Nationalsozialist. Er war in der SS für die Häftlingsforschung im Bereich Mathematik verantwortlich und übte während des Zweiten Weltkriegs, obwohl er noch Student war einen großen Einfluss auf die Mathematik an der Universität Berlin aus.

Leben Bearbeiten

Boseck studierte nach Abitur, Arbeitsdienst und Wehrdienst Mathematik in Berlin mit dem Diplom-Abschluss im Juli 1944 mit einer als geheim eingestuften Arbeit über Raketenballistik (Untersuchung zur Außenballistik von Spezialgeschossen), mit den Prüfern Klose und Erich Schumann (Abteilungsleiter Forschung beim Heereswaffenamt).[2] An der Universität war er nationalsozialistischer Studentenführer und nahm 1936 an nationalsozialistischen Sommer-Camps teil.[3] Er war ab 1940 Assistent von Alfred Klose (Institut für Angewandte Mathematik) in Berlin, für den er auch als Dienstverpflichteter an der Heeresforschungsstelle Gottow (Heeresversuchsanstalt Kummersdorf) bei Kummersdorf (Schießplatz) arbeitete. Dort befasste sich Boseck unter anderem mit Raketen-Ballistik (Heereswaffenamt, Abteilung Wa F).[4] Gleichzeitig war Boseck seit 1939 halbtags Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamts, Abteilung IIIc (wo auch der habilitierte Mathematiker und SS-Hauptsturmführer Helmut Joachim Fischer wirkte).[5] Aufgrund von Leiden im Bereich von Füßen und Beinen (Krampfadern)[6] war er schon seit Kriegsbeginn wehrdienstuntauglich.

Im Herbst 1944 übernahm er auf Empfehlung von Fischer die Aufsicht über eine Rechengruppe von Häftlingen des KZ Sachsenhausen. Damit seine Autorität sichtbar wurde bestand Boseck bei der Übernahme seiner Aufgabe darauf zum SS-Untersturmführer ernannt zu werden, was trotz seiner Beinleiden und der Tatsache, dass er mit 1,70 m nicht die vorgeschriebene Mindestgröße von 1,74 m erreichte, für die Dauer des Krieges erfolgte (Aufnahme in die SS am 1. Oktober 1944). Klose ließ ihn nur unwillig ziehen, erhoffte sich aber Vorteile für sein Institut durch die neue Wirkungsstätte. Die Häftlingsgruppe arbeitete der Waffenforschung der SS, der Armee, der Marine und Luftwaffe und vom Reichsforschungsrat – vertreten durch Walther Gerlach und Wilhelm Süss – ausgewählten Stellen zu. Die Stelle war als neu gegründete Abteilung Mathematik (M) im Institut für Wehrwissenschaftliche Zweckforschung der Waffen-SS (Leiter Wolfram Sievers) eng mit dem SS-Ahnenerbe verbunden. Die Nutzung dieser neuen Rechenkapazitäten akzeptierte unter anderem Alwin Walther in Darmstadt. Ausgewählt wurden die Mathematiker außer in Sachsenhausen auch im KZ Buchenwald (durch Boseck im November 1944)[7] und dem KZ Dachau (durch Helmut Joachim Fischer). Einer der dort arbeitenden Häftlinge war Georges Bruhat aus Frankreich, der aber erkrankte. Insgesamt zählte Boseck in einem Bericht vom 28. Dezember 1944 drei Deutsche, sechs Franzosen, drei Tschechen, drei Belgier, einen Dänen, einen Portugiesen und (ohne Angabe der Nationalität) einen Juden auf.[8]

Man berechnete mit mechanischen und elektromechanischen Rechenmaschinen Funktionentafeln und Strömungsprobleme unter anderem für die Raketen- und Düsenjägerentwicklung bis April 1945. Aufträge kamen besonders über Sievers herein. Man hatte aber Probleme mit den zur Verfügung stehenden Rechenmaschinen, die reparaturanfällig waren. Das war die erste Gruppe von Zwangsarbeitern im Bereich Mathematik im Rahmen des KZ-Systems. Ebenfalls 1944 gab es auch eine Gruppe, die für den Astrophysiker Kurt Walter im KZ Ravensbrück astrophysikalische Rechnungen durchführte, und als diese später nach Sachsenhausen verlegt wurde, kam es zu Reibereien mit Boseck. Sitz der Gruppe war das KZ Sachsenhausen in Oranienburg. Es bestanden noch im April 1945 Evakuierungspläne in ein anderes Lager, es kam aber nicht mehr dazu. Obwohl das Lager schon aufgelöst wurde, war Boseck am 4. April 1945 noch in Sachsenhausen.[9]

Nach den Erinnerungen von Alexander Dinghas, der damals Dozent in Berlin war, übte Boseck einen großen Einfluss an der Universität aus. Er war Fachschaftsleiter und nach Dinghas trotz seiner Jugend ein Fanatiker, der Zeichen eines Robespierre, wenn auch in kleinerem Maßstab, zeigen würde.[10] Sein Einfluss war nach Dinghas (der Grieche war) so groß, dass er dessen Dozentenposten in Berlin beenden konnte, so wie der Anruf von Boseck beim zuständigen Ministerium 1939 die Dozentur von Dinghas in Berlin beschleunigte (Boseck unterstützte Dinghas bis 1943). Sein Einfluss war sogar nach Dinghas größer als der von Ludwig Bieberbach, der diesem Einfluss keineswegs entgegenwirkte, sondern nach Dinghas sogar Respekt vor diesem hatte.

Das weitere Schicksal von Boseck nach dem Krieg ist nach Segal unbekannt.[11] Wolfram Sievers wurde 1947 in Nürnberg verurteilt und 1948 hingerichtet. Es gibt Erinnerungen des deutschen Vorarbeiters der Mathematikabteilung in Sachsenhausen Emil Peuker (* 1910) aus der Zeit nach dem Krieg[12] und es gibt Erinnerungen von Helmut Joachim Fischer.[13]

Literatur Bearbeiten

  • Segal: Mathematicians under the Nazis, Princeton UP 2003, besonders S. 323ff
  • Volker Koop: Himmlers Germanenwahn: Die SS-Organisation Ahnenerbe und ihre Verbrechen, be-bra Verlag, Berlin-Brandenburg 2012
  • Julien Reitzenstein: Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im "Ahnenerbe" der SS, Ferdinand Schöningh, 2014, besonders S. 247f
  • Michael H. Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Oldenbourg 2006.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Geburtsdatum nach Gerd Simon, Chronologie Häftlingsforschung, Universität Tübingen, pdf, und Julien Reitzenstein, Das SS-Ahnenerbe und die „Straßburger Schädelsammlung“ - Fritz Bauers letzter Fall, Duncker und Humblot 2018, S. 67, Anmerkung 172.
  2. Reitzenstein, Himmlers Forscher, S. 248
  3. Segal, Mathematicians under the Nazis, S. 390
  4. Reitzenstein, Himmlers, Forscher, S. 247
  5. Reitzenstein, Himmlers Forscher, S. 247
  6. Reitzenstein, Himmlers Forscher, S. 247. Nach anderen Angaben aufgrund eines Unfalls mit Beinverletzung. Segal, Mathematicians under the Nazis, S. 324
  7. Judith Luig, Die Mathe Nazis, TAZ, 30. August 2008
  8. Segal, Mathematicians under the Nazis, 2003, S. 327
  9. Segal, Mathematicians under the Nazis, S. 330
  10. Dinghas zitiert in Segal, Mathematicians under the Nazis, 2003, S. 324. Die Stelle aus den Erinnerungen von Dinghas wird auch auf Englisch zitiert in Eckart Menzler-Trott, Logic's lost genius, the life of Gerhard Gentzen, AMS, 2007, S. 153f. Die Erinnerungen von Dinghas sind auf Deutsch veröffentlicht in: Dinghas, Erinnerungen aus den letzten Jahren des mathematischen Instituts der Universität Berlin, in: Heinrich Begehr (Hrsg.), Mathematik in Berlin. Geschichte und Dokumentation, 2. Halbband, Shaker Verlag, Aachen, 1998
  11. Segal, Mathematicians under the Nazis, 2003, S. 330
  12. Judith Luig, TAZ, 30. August 2008
  13. Fischer, Erinnerungen. Feuerwehr für die Forschung, Ingolstadt 1985. Erwähnt in Gerd Simon, Chronologie Häftlingsforschung 2010