Gleichnis von den anvertrauten Talenten

Als Gleichnis von den anvertrauten Talenten werden zwei neutestamentliche Gleichniserzählungen bezeichnet, die im Matthäus- und Lukasevangelium ähnlich überliefert sind. Jesus schildert einen Herren, der seine Knechte reich mit finanziellen Mitteln ausstattet, sich dann auf Reisen begibt und nach seiner Rückkehr Abrechnung hält. Die ersten beiden Knechte erwirtschaften Gewinn und werden ihren Leistungen gemäß entlohnt. Das Geld des Letzten hingegen, der aus Angst gar nichts investierte und es stattdessen verbarg, lässt der Herr wegnehmen und spricht es nach dem Grundsatz „Wer hat, dem wird gegeben werden; wer nicht hat, dem wird genommen werden“ dem Erfolgreichsten zu.

Matthäus XXV. Holzschnitt, 1712

Wortlaut Bearbeiten

Das Gleichnis ist bei Lukas und Matthäus in zwei ähnlichen Versionen überliefert, die sich jedoch in einigen Einzelheiten unterscheiden:

Matthäus 25,14–30 EU Lukas 19,12–27 EU
Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging. Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten. Berufung Ein Mann von vornehmer Herkunft wollte in ein fernes Land reisen, um die Königswürde zu erlangen und dann zurückzukehren. Er rief zehn seiner Diener zu sich, verteilte unter sie Geld im Wert von zehn Minen und sagte: Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme.
Da ihn aber die Einwohner seines Landes hassten, schickten sie eine Gesandtschaft hinter ihm her und ließen sagen: Wir wollen nicht, dass dieser Mann unser König wird. Dennoch wurde er als König eingesetzt.
Sofort begann der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei erhalten hatte, noch zwei dazu. Der aber, der das eine Talent erhalten hatte, ging und grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn.
Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück, um von den Dienern Rechenschaft zu verlangen. Rechenschaft Nach seiner Rückkehr ließ er die Diener, denen er das Geld gegeben hatte, zu sich rufen. Er wollte sehen, welchen Gewinn jeder bei seinen Geschäften erzielt hatte.
Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn! Der Erste Der erste kam und sagte: Herr, ich habe mit deiner Mine zehn Minen erwirtschaftet. Da sagte der König zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger Diener. Weil du im Kleinsten zuverlässig warst, sollst du Herr über zehn Städte werden.
Dann kam der Diener, der zwei Talente erhalten hatte, und sagte: Herr, du hast mir zwei Talente gegeben; sieh her, ich habe noch zwei dazugewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn! Der Zweite Der zweite kam und sagte: Herr, ich habe mit deiner Mine fünf Minen erwirtschaftet. Zu ihm sagte der König: Du sollst über fünf Städte herrschen.
Zuletzt kam auch der Diener, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder. Der Letzte Nun kam ein anderer und sagte: Herr, hier hast du dein Geld zurück. Ich habe es in ein Tuch eingebunden und aufbewahrt; denn ich hatte Angst vor dir, weil du ein strenger Mann bist: Du hebst ab, was du nicht eingezahlt hast, und erntest, was du nicht gesät hast.
Sein Herr antwortete ihm: Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen. Urteil Der König antwortete: Aufgrund deiner eigenen Worte spreche ich dir das Urteil. Du bist ein schlechter Diener. Du hast gewusst, dass ich ein strenger Mann bin? Dass ich abhebe, was ich nicht eingezahlt habe, und ernte, was ich nicht gesät habe? Warum hast du dann mein Geld nicht auf die Bank gebracht? Dann hätte ich es bei der Rückkehr mit Zinsen abheben können. Und zu den anderen, die dabeistanden, sagte er: Nehmt ihm das Geld weg, und gebt es dem, der die zehn Minen hat. Sie sagten zu ihm: Herr, er hat doch schon zehn. Ich sage euch: Wer hat, dem wird gegeben werden; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde, bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder!

Struktur Bearbeiten

Unterschiede Bearbeiten

Matthäus schildert offenkundig einen Handelsmann, der seine drei Knechte mit Talenten[1] gemäß ihren spezifischen Fähigkeiten in unterschiedlicher Höhe ausstattet und sich auf eine Reise begibt, deren Zweck nicht näher beschrieben wird. Bei Lukas hingegen handelt es sich um einen Adeligen, der zehn seiner Knechte jeweils eine Mine anvertraut und sich dann auf den Weg zu seiner Inthronisation begibt, auf dem er mancherlei Anfeindungen ausgesetzt ist. Matthäus schildert das Wachstum der investierten Mittel. Der Begabteste erwirtschaftet eine Endsumme von zehn Talenten, der zweite eine von vier Talenten. Die Entlohnung für beide, die beide ihr Anfangskapital verdoppelten, erfolgt aber in gleicher Höhe: „Du warst im Kleinen … treu …, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ Lukas wiederum orientiert die Entlohnung am Ergebnis der Vermögensverwaltung: 10 Minen werden mit der Herrschaft über 10 Städte, 5 Minen mit der über 5 Städte vergolten. Wie die verbleibenden sieben Knechte ausgehen, ist erzähltechnisch irrelevant. Der Letzte ist der Dritte, der bei Lukas das Geld verpackt bei sich behält, es bei Matthäus in der Erde vergräbt. Bei Matthäus straft der Herr den Knecht durch den Ausschluss in jenen Bereich, wo „Heulen und Zähneklappern“ herrschen. Bei Lukas ruft der Herr abschließend noch dazu auf, seine Feinde, welche ihn nicht als ihren König wollen, zu ergreifen und vor seinen Augen zu töten.

Quellentheorie und Abhängigkeiten Bearbeiten

Die historisch-kritische Exegese erkennt als Grundlage der neutestamentlichen Gleichnisse einen Text aus der Logienquelle („Q“). Dieser habe die Teile Lk 19,12–13.15–24.26 umfasst. Lukas habe mit Lk 19,14–15a.25 (gescheiterte Vereitelung der Königswürde des Vornehmen) ein zweites eigenes Thema hinzugefügt, das Kritik an den Feinden Jesu übt, die seine bevorstehende Inthronisation in Jerusalem verhindern wollen.[2]

Die Fassung des Matthäus neigt zu drastischerer und differenzierterer Darstellung. Die Knechte erhalten unterschiedliche Geldbeträge, die zudem erheblich größer sind als bei Q/Lk (s. Maße und Gewichte in der Bibel). Der letzte Knecht wird nicht nur kritisiert, sondern ausdrücklich mit dem Attribut „faul“ gekennzeichnet. Mit der Bestrafung in der „Finsternis“ erreicht das Gleichnis bei Matthäus einen eigenen Höhepunkt. Dabei handelt es sich wohl um eine redaktionelle Ergänzung durch Matthäus, der dadurch größeres Gewicht auf den eschatologischen Aspekt der Erzählung legt und dabei insbesondere den Strafaspekt des Jüngsten Gerichts betont. Eine weitere Verurteilung des Letzten wird bei Lukas nicht ausgesprochen.[3]

Interpretationen Bearbeiten

 
Paulamaria Walter: Die anvertrauten Pfunde, Betonrelief 1963, Wege zur Kunst

Meist wird das Gleichnis folgendermaßen interpretiert: Der Mensch, insbesondere der Christ, erfährt sich als talentiert, mit Gaben ausgestattet, die er „in Treue“ zu verwalten und zu mehren hat. Es besteht das Risiko ihres Verlustes, sollten sie nicht zum Einsatz kommen. „Haben“ bedeutet über Talente zu verfügen und mit ihnen zu wirtschaften. „Wer hat, dem wird gegeben“ kann hier soviel heißen wie: „Eigentum verpflichtet“, materiell und darüber hinaus.

 
Andrej Mironow: Gleichnis von den anvertrauten Talenten, Öl auf Leinwand 2013

Wenn sich auch beide Gleichnistexte formal ähneln, werden doch inhaltliche und kontextuelle Unterschiede erkennbar. Die Nachbarschaft zum vorausgehenden matthäischen Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Matthäus 25,1–13) und dem nachfolgenden Gleichnis vom Weltgericht (Matthäus 25,31–46) verweist auf den Charakter der Erzählung als Parusie-Gleichnis. Das jeweils plötzliche Hereinbrechen mit der Möglichkeit, zu spät zu kommen und verurteilt zu werden, verleihen der Matthäus-Fassung einen ethisierenden Charakter.

Durch die Nachbarschaft der lukanischen Fassung zu vorausgehenden Begegnungen mit Pharisäern, so Zachäus (Lukas 19,1–10), wird das Gleichnis vielfach als eine Kritik an dieser Gruppe gesehen.[4] Mit Gestalt des reisenden Königsanwärters schlägt das Gleichnis eine Brücke zu dem anschließenden Einzug in Jerusalem (Lukas 19,28 ff.) als Weg des angehenden Königs der Juden zu seiner Proklamation. Jesus erzählt das Gleichnis auf dem Weg nach Jerusalem. Dem Zuhörer oder Leser des Gleichnisses fällt die Nähe Jesu zum Herrn im Gleichnis auf. Somit geht aus dem Gleichnis auch eine weitere, wenn auch metaphorische Ankündigung des Leidens, Sterbens und Auferstehens Jesu hervor.

Luise Schottroff hingegen interpretiert das Gleichnis bei Lukas dahingehend, dass es sich beim Königsanwärter nicht um Jesus von Nazaret handle, sondern um einen der herodianischen Könige, die sich in Rom mit der Königswürde ausstatten lassen mussten. Sie belegt das mit Auszügen aus Flavius Josephus, der von solchen Delegationen und dem Umgang mit dem Widerstand dagegen berichtet.

William R. Herzog interpretiert das Gleichnis eher als Bloßstellung eines strengen und profitgierigen Herren.[5] Den Diener, der ihm das ins Gesicht sagt und ihm nur sein Grundkapital sicher zurückgibt, bestraft er durch Verstoßung.

Im Wohlstandsevangelium wird das Gleichnis einerseits als Abkehr vom Glauben an das Jenseits, andererseits als Bejahung des Kapitalismus angesehen.[6]

Sprachliches Bearbeiten

Die heute übliche Bedeutung des Wortes Talent im Sinne von Begabung ist auf dieses Gleichnis zurückzuführen.[7]

Die Redewendung Mit seinen Pfunden wuchern ist der Lukasvariante des Gleichnisses entnommen. Denn Luther übersetzte ursprünglich die Währungseinheit Minen mit Pfunden und das Wort Zinsen mit Wucher.[8]

Die Wendung Wer hat, dem wird gegeben wurde als „Matthäus-Effekt“, ein „Grundgesetz“ jeder handlungsbezogenen Soziologie, bekannt.

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Commons: Gleichnis von den anvertrauten Talenten – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. das Sechstausendfache des Tageslohnes eines Arbeiters (Denar)
  2. Christian Münch: Gewinnen oder Verlieren (Von den anvertrauten Geldern). In: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2007, S. 240–254
  3. David C. Sim: Apocalyptic Eschatology in the Gospel of Matthew. Cambridge University Press, 1996. S. 140; Dale C. Allison Jesus and Gehenna. In: Jan Roskovec et al. (Hrsg.): Testimony and Interpretation: Early Christology in its Judeo-Hellenistic Milieu: Studies in Honor of Petr Pokorný. Continuum, London und New York 2004. S. 118.
  4. Joachim Jeremias: Gleichnisse Jesu. S. 40 f.
  5. William R. Herzog: Parables as Subversive Speech: Jesus as Pedagogue of the Oppressed. Westminster John Knox Press, 1994, ISBN 978-0-664-25355-4 (google.ca [abgerufen am 6. September 2018]).
  6. Hanna Rosin: Did Christianity Cause the Crash?, TheAtlantic.com, Dezember 2009.
  7. So Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. Berlin 1989. S. 719
  8. So Geldner, Andreas/Michael Trauthig/Christoph Wetzel: Wer suchet, der findet. Biblische Redewendungen neu entdeckt. Stuttgart 2006. S. 84.