Diskussion:Einer (Norbert Gstrein)

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Einer (Norbert Gstrein) Bearbeiten

Ich sage einmal danke für alle Korrekturen, ich arbeite als Bibliothekar an der Uni Innsbruck, mein Problem ist eher, neutral zu kommentieren, als sprachlich schwach zu sein. Unten sehen Sie, dass ich die Materie meist nicht kenne.


TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 1094 Die Winter im Süden Bei Revolutionären und sonstigen politischen Vorpresch-Aktivisten ist die schlimmste Zeit der Winter. Als „Überwintern der Revolutionäre“ wird süffisant jener Zustand bezeichnet, in dem die Akteure auf sich selbst gestellt ein unscheinbares Leben führen müssen. Norbert Gstrein schickt seine Figuren in den Süden, denn „die Winter im Süden sind schrecklich“ (160) Einmal steigt Marija, eine Frau aus Wien, aus ihrer Ehe aus und überwintert seelisch in Zagreb, der Stadt ihrer Kindheit. Zum anderen ist ein alter National-Haudegen nach dem Weltkrieg nach Argentinien abgehauen und überwintert politisch auf der südlichen Halbkugel. Beiden Figuren wird jeweils ein Adlatus beigegeben, einmal ist es der Ehemann, der probehalber gegen einen Liebhaber im Winterquartier eingetauscht wird, zum anderen ist es ein ehemaliger Österreichischer Polizist, der dem untergetauchten Helden in Argentinien zur Seite steht. Wie in einem Kolportagen-Roman werden diese beiden Schicksalsgruppen nun auf einander zugeführt, bis klar ist, der eine Held ist der Vater der anderen Heldin. Dabei wird kein Klischee ausgelassen, aber nicht etwa, um den Leser nicht zu enttäuschen, sondern weil Klischees sich am besten zertrümmern lassen, indem sie verlässlich an der richtigen Stelle vorgeführt werden. In Argentinien suchen Touristen immer wieder untergetauchte Nazis, wie sie an anderen Orten vielleicht Zeugnisse einer untergegangenen Kultur suchen. In Jugoslawien kann stündlich ein Krieg ausbrechen, aus dem sich nur schwer entfliehen lässt. Das sind zwei der gängigsten Bilder, die scheinbar zeitlos über den Atlas der Vorurteile gespannt sind. Was gibt es letztlich Berührenderes, als wenn ein Vater seine Tochter sucht und diese plötzlich erfährt, dass ihr tot geglaubter Vater am Leben ist. In tausenden Talk-Shows auf allen Kanälen ist dieser Stoff das Highlight jeder Sende-Saison. In Norbert Gstrein werden diese dramaturgisch hochgekitzelten Elemente jeweils kurz vor dem Höhepunkt entschlafft. Routiniert und lieblos, wie gleich zu Beginn Marija ihrem Ehemann eine sexuelle Entlastung verschafft, werden die Figuren kurz vor ihrem entscheidenden Zusammentreffen weich gespült und das Besondere wird aus ihren Charakteren gebügelt. „Man kann alles erzählen, … Leben ist etwas anderes.“ (283) Norbert Gstrein, der Meister der sich selbst auflösenden Figuren, lässt vor allem die Hauptfigur völlig nachdenklich zurück, als ob sie Leserin ihres eigenen Buches wäre. Es ist nämlich nicht so leicht, ein Leben zuzuklappen, wie man ein Buch zuklappt. – Ein feiner, tiefer, kitschiger Interruptus zieht sich durch den Roman.

Norbert Gstrein: Die Winter im Süden. Roman. München: Hanser 2008. 283 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-446-23048-4. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils / Imst, lebt in Hamburg. Helmuth Schönauer 10/09/08


TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 982 Norbert Gstrein. Dossier Das Sinnvollste von Graz ist der Droschl-Verlag. Er gibt unter anderem die Serie „Dossier“ heraus, worin versucht wird, österreichische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihrer Wahrnehmung je nach Notwendigkeit ins rotieren zu bringen oder zu stabilisieren. Der Band 26 gilt dem Tiroler Norbert Gstrein und ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Denn Norbert Gstrein weigert sich mit Händen und Füssen, vom Literaturbetrieb gefesselt zu werden. So hält sich dieses Dossier einerseits an die Wünsche des durchleuchteten Autors, indem beispielsweise die biographischen Daten auf das Nötigste reduziert sind (und das sind in der Hauptsache Preise und Stipendien), andererseits liefert das Dossier einen Wahnsinnsakt an Klarheit, in dem es ein Gstrein-Buch nach dem anderen abarbeitet. Überstrahlt wird das Kompendium an Aufsätzen, Erläuterungen und Rezensionen von einem beinahe überirdisch luziden Interview, das Axel Helbig im Jänner 2005 mit Norbert Gstrein geführt hat. Unter dem Titel „der obszöne Blick“ geht es dabei um die ständig oszillierende Bildkante zwischen Fakten und Fiktion. Nach diesem Gespräch versteht man, warum Norbert Gstrein im gewissen Sinne die Schnauze voll hat von Tirol, warum er es als empörend empfindet, wenn man ihn als Dorfschreiber oder als alpinen Exoten bezeichnet, und warum es in manchen Situationen egal ist, was jemand tut, es wird einfach kategorisch missverstanden. So ein künstlich hoch gehaltenes Missverständnis ist etwa die Geschichte eines Reporters, der in Jugoslawien zu Tode kommt, und in dieser Geschichte bringt ein einziger Name als Nichtname alles in Schräglage. Das Interview endet mit einem beeindruckenden Credo. „Ist die Existenz in einem Romankosmos so etwas wie eine Droge? - Es ist mindestens ein Sinnersatz. Es stellen sich gewisse andere Sinnfragen nicht, innerhalb dieses Kosmos. Die kann man in seinem Größenwahn als Schöpfer in diesem Augenblick dahingestellt lassen. Und deshalb ist man, glaube ich, gerettet, für den Augenblick.“ (29) Noch keine fünfzig Jahre alt erzählt Gstrein auch, dass es immer schwieriger für ihn wird, wieder in einem neuen Roman abzutauchen. Und als Kernbild des Gstreinschen Kosmos bleibt dem Leser dieses Tiroler Dorf der frühen Romane in Erinnerung, in dem die Menschen genau nicht kommunizieren. Nach diesem Interview jedenfalls ist man als Leser hingerissen und von der Arbeit Norbert Gstreins überzeugt. In den nachfolgenden Kapiteln gibt es genaue Analysen zu den einzelnen Werken, wichtige Rezensionen sind noch einmal abgedruckt und für weitere Forschungen sind penibel alle noch so kleinen Wortmeldungen zu Gstrein aufgeführt. Norbert Gstrein ist wendiger als alle Netze, mit denen ihn gerade die Germanisten einfangen wollen. So entsteht manchmal ein literarisches Fuchs und Henne Spiel, bei dem man als Leser zum Autor hilft, der paradox als Fuchs von den Hennen gejagt wird. Ein sympathisches Dossier für einen Autor, der trotz aller Scheu und Vorsicht letztlich doch eine Menge preisgibt.

Kurt Bartsch / Gerhard Fuchs(Hg.): Norbert Gstrein. Dossier Band 26. Graz: Droschl 2007. 246 Seiten. EUR 31,-. ISBN-13: 978-3-85420-713-9. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils bei Imst, lebt in Hamburg. Helmuth Schönauer 16/03/07


TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 765 Wem gehört eine Geschichte? Es gibt momentan zwei österreichische Weltdichter, die jenseits des unsäglichen Austrokoffers auf den Literaturbetrieb „gaggen“, wie man so nett zu sagen pflegt. Der eine ist Peter Handke, der soeben mit seinem Don Juan als germanistischem Genericum schwindelerregend kühn die Geschichte vom nachgebauten Liebhaber erzählt hat, und der andere ist Norbert Gstrein. Seltsamerweise sind es bei beiden ihre Geschichten aus dem ehemaligen Jugoslawien, welche die germanistisch-bushigen Tugendwächter des Literaturbetriebes aus dem Häuschen bringen. Wem gehört eine Geschichte? – Diese scheinbar triviale Frage sticht genau ins Herz des Literaturbetriebes. Längst haben sich dort beinahe religiöse Sekten mit entsprechendem Personenkult eingenistet. Immer wieder werden Tabus formuliert oder es wird jemand aus heiterem Himmel abgewatscht, wenn er ein frisch ausgegebenes Tabu nicht beachtet hat. So eine Abwatschung hat Norbert Gstrein erlitten, als er im Roman „Das Handwerk des Tötens“ die lapidare Widmung riskierte: „Zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963-1999), über dessen Tod ich zu wenig weiß, als daß ich davon erzählen könnte.“ Diese Widmung des Ötztaler Schriftstellers für den Südtiroler Journalisten in der Weltstadt Hamburg ausgesprochen hat die Ikonenschützer mobil gemacht. Von geschmacklos bis irreal reichten die Kommentare. Norbert Gstrein hat nun mit einer wunderbaren Scheißdinix-Erzählung geantwortet. Da ohnehin der Leser bestimmt, was er für wahr halten will und was nicht, erzählt er eine Geschichte über den Wahrheitsgehalt sogenannter „True Stories“, und wie als Trostpflaster ist dem Buche ein Bauchbinde mit der Aufschrift umgebunden: „Based on a True Story“. Ganze Rührwerke von Verknüpfungsschaufeln durchmengen den Gatsch aus Fiktion, Zeitungsnachrichten und literarischer Fetischierungskunst. Ein Dutzend Bücher über das vorgeblich Authentische, von Max Frischs „Bigraphie: Ein Spiel“ bis zu Bernard-Henri Lévys „Wer hat Daniel Pearl ermordet?“, stellt Norbert Gstrein als von ihm gelesen vor, jetzt mag der Leser was anfangen damit oder nicht. Der beste Kommentar über das Wahre kommt wie immer vom Papst. Als dieser den Christus-Film von Mel Gibsen gesehen hat, soll er ausgerufen haben: „Genau so wars!“ Die einzelnen Sequenzen gehen scheinbar sprunghaft von einer Erzählfläche in die nächste über, aber irgendwie hält eine Reise durch eine erzählte Reise den Text zusammen und gibt ihm den scharfen Schatten einer fiktiven Reportage. Norbert Gstrein ist schließlich ein äußerst witziger Erzähler, wenn man ihn nur witzig sein lässt. Als die erzählende Figur einem Nachtportier mit dem Namen I. Radisch gegenübersteht, erzählt diese Figur, daß sie von einer in einem Grossfeuilleton metzgernden Literaturkritikerin gleichen Namens schon einmal hingerichtet worden ist. Ha, das ist die richtige Antwort auf dieses marode Literaturfeuilleton: Triefend vor Tiefgang so lange witzig zu sein, bis wirklicher Tiefgang entsteht. Norbert Gstreins scharfe Erzählung spricht den Lesern großen Mut zu: Scheißt euch wenigiger um die Gurus, lest mehr witzige Texte. – Eine große Erleichterung!

Norbert Gstrein: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt/M: Suhrkamp 2004. 107 Seiten. EUR 14,80. ISBN 3-518-41637-5. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils/Imst, lebt in Hamburg. Helmuth Schönauer 26/09/04


TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 666 Das Handwerk des Tötens In den katholischen Alpen gibt es den Brauch, einmal im Jahr um eine stilisierte Brotscheibe herum einen Dorfauflauf zu inszenieren. In diesem als Fronleichnamsprozession definierten Ereignis steht diese Brotscheibe zwar im Mittelpunkt, ist aber gemessen am Auflauf sehr klein. An die Rituale einer Fronleichnamsprozession läßt sich bei der Rezeption des jüngsten Romans von Norbert Gstrein denken. Der Roman selbst steht zwar im Mittelpunkt, ist aber gemessen am Auflauf sehr klein. Großgermanisten und Großfeuilletonisten fungieren als Himmelträger und passen auf, daß dem reinen Text niemand zu nahe kommt. Und das Publikum ist artig aufgefädelt in Bewunderer, die vor dem Textkorpus einher gehen, und Nachbeter, die hinterdrein marschieren. Der Roman „Das Handwerk des Tötens“ handelt vom Krieg und seinem allmählichen Übergang in Literatur. Da im Roman alle denkbaren Stufen der Realität und Literarisierung vorkommen, kann sich der Leser auf der Wahrnehmungsskala selbst messen, inwiefern er ein realisierender oder literarisierender Typ ist, kurz: inwiefern bei ihm der Fakt zur Fiktion geworden ist. Gerade gegen diesen Erkenntnistrichter, in den jeder gesogen wird, wehren sich manche Leser und versuchen den Roman abzuwehren oder als mißlungen abzutun. Norbert Gstreins Roman freilich ist äußerst raffiniert, klug und erkenntnisreich angelegt. Er bezieht die Rezeption mit ein und moderiert die Erzählprozesse nur an, welche dann im Leser als selbständige Vorgänge ablaufen. Der Roman besteht aus folgenden Schichten:

  1. 1. Die allgemeine Erkenntnislage im deutschsprachigen Raum um 2003, aufbereitet von Kriegsberichten, Dokus, Romanen, Gerüchten, authentischen Flüchtlingserzählungen und der Erinnerung des Lesers.
  2. 2. Widmung an eine vorgeblich realistische Person. „Zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963-1999), über dessen Leben und Tod ich zu wenig weiß, als daß ich davon erzählen könnte“. An dieser Widmung der Realität hängt quasi die nachfolgende Fiktion. Das Zitat ist auch ein eleganter Seitenhieb auf die Südtiroler Szene, wo mittlerweile jeder Zweizeiler einer der drei Südtiroler Ikonen Gabriel Grüner, Anita Pichler oder Alexander Langer gewidmet ist. Die Widmung ist immer eine literarische Aussage.
  3. 3. Die Figur Allmayer, der Züge des angewidmeten Gabriel Grüner habe kann, der aber nur den Typus eines involvierten Kriegsberichterstatters darstellt, für den sich Erlebnis und Bericht oft untrennbar überlagern.
  4. 4. Die Figur des Paul, der nach Ex-Jugoslawien fährt, weil seine Freundin von dort ist, er Allmayer aus der Studentenzeit gekannt hat, und es hipe ist, einen Roman über diese Gegend und den Krieg zu schreiben.
  5. 5. Ich-Erzähler, der versucht, die disparaten Teile auf Körpergröße herunter zu beamen und so etwas wie Handlung, Thesen und Plot zu gestalten.
  6. 6. Leser, der sich immer schneller im Kreis drehen muß, um das Wechselspiel von Realität, Fake, Virtualität und Geschichte in den Griff zu bekommen.

Von der Erzählweise her gesehen geht es gefährlich konventionell zu. Journalisten reflektieren über ihr Handwerk, Stories geraten außer Kontrolle und werden zu Shots, ein Bildband über Traumstraßen in Jugoslawien entlarvt alle Darstellungen als Bildbände, und immer wieder geht es ab in jene Gefühlssülze, wo das Privatleben mit öffentlichen Auftritten garniert wird. In diesem Preßsack der Gefühle sind in der Hauptsache die SchriftstellerInnen zu Hause und ganz besonders die Tirolerischen, die irgendwo einmal an Innsbruck oder Südtirol angestreift sind. Gefühle wie den Krieg zu dokumentieren und zu einer unsterblichen Geschichte werden zu lassen, davon träumen die Nebenfiguren der Literaturszene. „Das Handwerk des Tötens“ ist ein gnadenlos perfekter und dadurch für den Leser unentrinnbarer Roman, in dem Literaturbetrieb, Zeitgeschichte, Kitsch und Vergänglichkeit aufregend um die Vorherrschaft streiten. Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 2003. 380 Seiten. € 22,90. ISBN 3-518-41459-3 Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils/Imst, lebt in Hamburg und London. Helmuth Schönauer 11/08/03



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR (481) Selbstportrait mit einer Toten Manchmal tut man sich als Leser leichter, von einem Text akzeptiert zu werden, wenn man sich eine Grundhaltung überlegt. Für Norbert Gstreins „Selbstportrait mit einer Toten“ empfiehlt sich die ironisch-distanzierte Lesehaltung, denn sonst wird man unweigelich von Grant und Wut zusammengefressen. Die Geschichte einer Ärztin, der am Wochenende eine Patientin aus dem Fenster gesprungen ist, und eines Schriftstellers, der von einem läppischen Lesewettbewerb zurückgekommen ist, hat einen großen Patron, der sie zusammenschweißt: Den Regen. In kaum einem Werk der Weltliteratur wird so viel Wasser vom Himmel vergossen wie in diesem Selbstportrait, das vom Titel her elegant auf perverse Künstlerbiographien wie „Porträt eines Künstlers als junger Affe“ (Butor) oder „Porträt eines Künstlers als junger Mann“ (Joyce) anspielt. Die Dramaturgie der Gstreinschen Künstler-Erregung ist dynamisch-kreisförmig: Von Montag bis Freitag regnet es, der Schriftsteller tobt und schreit, und die Ärztin erzählt und schweigt. In der Erregung, die in ihrer Subtilität leicht jede noch so keifende Figur Thomas Bernhards aussticht, bekommt der österreichsiche Literaturbetrieb sein Fett ab, die Wiener-Habera-Mafia wird endlich einmal wohltuend zusammengestutzt, und die Schriftsteller-Kollegen sind pragmatisierte Dinosaurier, die sich auf Jahrzehnte hinaus in die Bühnenbretter, die die Welt bedeuten, hieingefressen haben wie schlecht erzogene Maden. Auch Figuren aus Norbert Gstreins letztem Roman, wie etwa der imaginäre Schriftsteller Hirschfelder, werden verflucht und zusammengeschissen. In clownesker Hilflosigkeit steht der Schriftsteller mit seinen Papiersäcken da, in die er sein Werk notdürftig verpackt hat. Zudem werden ununterbrochen Remittenden oder Restbestände, die der Autor selbst aufgekauft hat, angeliefert. Die Botschaft dieses Textes ist ernüchternd. Während die Ärztin nicht zu Wort kommt, um von ihrem Schicksal zwischen Leben und Tod zu erzählen, stakst der Schriftsteller in einem Haufen von Worthülsen und aufgeblasenem Papiertext durch die Existenz, so daß nicht einmal mehr Mitleid möglich ist. Wie schon gesagt, es empfiehlt sich ein ironischer Umgang mit dem Text, aber dann ist der Genuß gewaltig!

Norbert Gstrein: Selbstportrait mit einer Toten. Frankfurt/M: Suhrkamp 2000. 111 Seiten. 204,- ATS. [14,82 EUR] Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Zürich. Helmuth Schönauer 06/03/00


LITERATURBLICK (1662 Zeichen) Selbstportrait mit einer Toten Die Geschichte einer Ärztin, der am Wochenende eine Patientin aus dem Fenster gesprungen ist, und eines Schriftstellers, der von einem läppischen Lesewettbewerb zurückgekommen ist, hat einen großen Patron, der sie zusammenschweißt: Den Regen. In kaum einem Werk der Weltliteratur wird so viel Wasser vom Himmel vergossen wie in diesem „Selbstportrait“. Die Dramaturgie der Gstreinschen Künstler-Erregung ist dynamisch-kreisförmig: Von Montag bis Freitag regnet es, der Schriftsteller tobt und schreit, und die Ärztin erzählt und schweigt. In der Erregung, die in ihrer Subtilität leicht jede noch so keifende Figur Thomas Bernhards aussticht, bekommt der österreichsiche Literaturbetrieb sein Fett ab, die Wiener-Habera-Mafia wird endlich einmal wohltuend zusammengestutzt, und die Schriftsteller-Kollegen sind pragmatisierte Dinosaurier, die sich auf Jahrzehnte hinaus in die Bühnenbretter, die die Welt bedeuten, hieingefressen haben wie schlecht erzogene Maden. Auch Figuren aus Norbert Gstreins letztem Roman, wie etwa der imaginäre Schriftsteller Hirschfelder, werden verflucht und zusammengeschissen. In clownesker Hilflosigkeit steht der Schriftsteller mit seinen Papiersäcken da, in die er sein Werk notdürftig verpackt hat. Zudem werden ununterbrochen Remittenden oder Restbestände, die der Autor selbst aufgekauft hat, angeliefert. Die Botschaft dieses Textes ist ernüchternd. Während die Ärztin nicht zu Wort kommt, um von ihrem Schicksal zwischen Leben und Tod zu erzählen, stakst der Schriftsteller in einem Haufen von Worthülsen und aufgeblasenem Papiertext durch die Existenz, so daß nicht einmal mehr Mitleid möglich ist. Für den Leser empfiehlt sich ein ironischer Umgang mit dem Text, aber dann ist der Genuß gewaltig!

Norbert Gstrein: Selbstportrait mit einer Toten. Frankfurt/M: Suhrkamp 2000. 111 Seiten. 204,- ATS.

Helmuth Schönauer 06/03/00



FF (~ 850 Zeichen) Selbstportrait mit einer Toten Die Geschichte einer Ärztin, der am Wochenende eine Patientin aus dem Fenster gesprungen ist, und eines Schriftstellers, der von einem läppischen Lesewettbewerb zurückgekommen ist, hat einen großen Patron, der sie zusammenschweißt: Den Regen. Die Dramaturgie der Gstreinschen Künstler-Erregung ist dynamisch-kreisförmig: Von Montag bis Freitag regnet es, der Schriftsteller tobt und schreit, und die Ärztin erzählt und schweigt. In clownesker Hilflosigkeit steht der Schriftsteller mit seinen Papiersäcken da, in die er sein Werk notdürftig verpackt hat. Zudem werden ununterbrochen Remittenden oder Restbestände, die der Autor selbst aufgekauft hat, angeliefert. Die Botschaft dieses Textes ist ernüchternd. Während die Ärztin nicht zu Wort kommt, um von ihrem Schicksal zwischen Leben und Tod zu erzählen, stakst der Schriftsteller in einem Haufen von Worthülsen und aufgeblasenem Papiertext durch die Existenz, so daß nicht einmal mehr Mitleid möglich ist. (heschö)

Norbert Gstrein: Selbstportrait mit einer Toten. Frankfurt/M: Suhrkamp 2000. 111 Seiten. 204,- ATS.

Helmuth Schönauer 06/03/00


TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 451 Die englischen Jahre Manche Romane haben einen so hohen Erzählkomfort, daß man den Unterbau der Wirklichkeit kaum mehr spürt. Norbert Gstrein ist ein Meister der Dämpfung: während des Erzählens arbeiten seine Stoßdämpfer so präzise, daß von den Schlaglöchern der Geschichte nichts zu spüren ist. In den englischen Jahren recherchiert eine Wissenschaftlerin als Vorbereitung für ihren Einsatz auf der Baumgartner Höhe die Faktenlage eines österreichischen Schriftstellers, der nach seiner Internierung auf der Isle of Man im Juli 1940 an Bord eines Schiffes untergegangen ist. Bald stellt sich heraus, daß alles falsch ist. Die Zeitzeugen dienen nur dazu, die Wahrheit zu verschleiern, und selbst die engsten Angehörigen haben keine Ahnung, was es mit dem Schriftsteller und seinem imaginären Werk auf sich hat. Gleich drei Ehefrauen erzählen die Geschichte ihres Mannes, jede auf eine andere Art, und ident ist eigentlich nur jene Pointe, wonach der Exilant einen Mitgefangenen umgebracht haben soll. Norbert Gstreins Roman erzählt vom Wirrwarr der Forschung, der Gerüchte, der falschen Spuren und dem Bestreben nach einem geschönten Geschichtsbild. - Ein durch und durch österreichisches Thema, das sich auf die feine englische Art so lange herausschält, bis sich letztlich der Kern der Sache als Luftblase herausstellt. Die Erzählfigur recherchiert, „bis ich mir nicht mehr sicher sein konnte, daß es wirklich so war, aber immer noch sicher, daß es zumindest so hätte sein können.“ (50) Norbert Gstrein belohnt die Leser an der Oberfläche mit einer spannenden Flucht- und Schiffsgeschichte und jene, die in die Tiefe der Erzählkunst abtauchen, mit einem Blick auf präzises Sprachwerkzeug für schwierige Einsätze. Raffinierte Roman-Autoren verwischen immer alle Fingerabdrücke der schreibenden Hand. Und selbstverständlich hat auch Norbert Gstrein sämtliche Arbeitsspuren beseitigt, damit der Text ein Coup werde - schön, sophisticated und dennoch nicht glatt.

Norbert Gstrein: Die englischen Jahre. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999. 388 Seiten. 291,- ATS. [21,15 EUR] Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Zürich. Helmuth Schönauer 02/08/99


LITERATURBLICK (1500 Zeichen) Die englischen Jahre Manche Romane haben einen so hohen Erzählkomfort, daß man den Unterbau der Wirklichkeit kaum mehr spürt. Norbert Gstrein ist ein Meister der Dämpfung: während des Erzählens arbeiten seine Stoßdämpfer so präzise, daß von den Schlaglöchern der Geschichte nichts zu spüren ist. In den englischen Jahren recherchiert eine Wissenschaftlerin als Vorbereitung für ihren Einsatz auf der Baumgartner Höhe die Faktenlage eines österreichischen Schriftstellers, der nach seiner Internierung auf der Isle of Man im Juli 1940 an Bord eines Schiffes untergegangen ist. Bald stellt sich heraus, daß alles falsch ist. Die Zeitzeugen dienen nur dazu, die Wahrheit zu verschleiern, und selbst die engsten Angehörigen haben keine Ahnung, was es mit dem Schriftsteller und seinem imaginären Werk auf sich hat. Gleich drei Ehefrauen erzählen die Geschichte ihres Mannes, jede auf eine andere Art, und ident ist eigentlich nur jene Pointe, wonach der Exilant einen Mitgefangenen umgebracht haben soll. Norbert Gstreins Roman erzählt vom Wirrwarr der Forschung, der Gerüchte, der falschen Spuren und dem Bestreben nach einem geschönten Geschichtsbild. - Ein durch und durch österreichisches Thema, das sich auf die feine englische Art so lange herausschält, bis sich letztlich der Kern der Sache als Luftblase herausstellt. Norbert Gstrein belohnt die Leser an der Oberfläche mit einer spannenden Flucht- und Schiffsgeschichte und jene, die in die Tiefe der Erzählkunst abtauchen, mit einem Blick auf präzises Sprachwerkzeug für schwierige Einsätze.

Norbert Gstrein: Die englischen Jahre. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999. 388 Seiten. 291,- ATS. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Zürich. Helmuth Schönauer 02/08/99



Norbert Gstrein: Der Kommerzialrat. Bericht. Frankfurt/M: Suhrkamp 1995. 148 Seiten.

Norbert Gstrein hat klugerweise den Kommerzialrat in drei Teile zerlegt, damit immer etwas Sympathie für ihn übrig bleibt. Das hat der Kommerzialrat auch nötig, denn nach Volksmund-Definition besteht ein Kommerzialrat hauptsächlich daraus, daß er einmal etwas gedreht hat. Im ersten Teil erzählen Freunde, was man so in einem Fremdenverkehrsdorf treibt, wie man miteinander auskommt und wie man über andere herzieht. Die Freunde wollen die Herrschaft im Dorf übernehmen, dabei ist es hilfreich, wenn der allmächtige Kommerzialrat die eine oder andere Sache um den Hals hat. Im zweiten Teil kommt der Kommerzialrat selbst zu Wort. Mit großer Genauigkeit erzählt er, daß von seinem Leben der Verputz abgebröckelt und auch die Ziegel des Innenlebens keine richtige Tragkraft mehr ausüben wollen. Ein Pseudo-Casanova und Totalaufreißer hat den Job des Animateurs ziemlich wörtlich genommen und sich an die Töchter herangemacht. In berührender Weise faßt sich der Kommerzialrat ein Herz und schreibt alles zusammen, was er irgendwo in seine Erinnerung kriegt. Der dritte Teil schließlich berichtet trocken, daß die Saaten des Geschäftsneides aufgegangen und alle „Feinde“ geworden sind. Die Jungmanager sind die neuen Herren, der Animateur wird plötzlich gehanselt und dem Kommerzialrat sagt man Inzest-Geschichten mit den Töchtern nach. Die Hoteliers haben alle Hände voll zu tun, um den Gästen gegenüber einen friedlichen Eindruck im Dorf herzustellen. Selbstverständlich kriegt der Kommerzialrat sein passendes Schicksal. Ein trockener, herzergreifender Text, der den Einheimischen ganz schön in die Glieder fahren wird! Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils / Imst, lebt in Innsbruck und Zürich. (01/09/95)


Norbert Gstrein: O2. Novelle. Frankfurt/M: Suhrkamp 1993. 170 Seiten.

Nach dem Reinheitsgebot der Novellentheorie muß in einer guten Novelle an der entscheidenden Stelle etwas Ungeheueres passieren. Am besten ist es, wenn am Höhepunkt des Textes ein Falke abstürzt. Norbert Gstrein, belesener Germanist und im Umgang mit Kalkülen erfahrener Mathematiker, läßt seinen Falken pflichtgemäß abstürzen. Aber es handelt sich dabei um die historisch gesicherte Notlandung eines Forschungs-Ballons des Schweizer Physikers Auguste Piccard 1931 im Ötztal. Je nach Betrachtungsweise wird die Ballonfahrt als Heldentat oder Wichtigtuerei, sinnvolle Forschung oder übertriebener Männlichkeitswahn beschrieben. Zusätzlich zu den verschiedenen Standpunkten sind auch die verschiedenen Jahresringe interessant, die die einzelnen Erinnerungsteile angesetzt haben. Im Innern der Ballon-Kabine ist es zuerst furchtbar heiß, daß sich die Helden bis auf die Unterwäsche ausziehen müssen, nach der Landung am Gletscher frieren sie, daß sie sich am Klappern der Knochen orientieren können. Von außen berichtet der Chauffeur des Begleit-Trosses, wie die Erregung auf der Erde fast der himmlischen entspricht. Die Investoren der Forschungsreise achten vor allem auf eine gute Presse, die ihnen bei der Machtübernahme des Kapitals in Zusamnmenarbeit mit den Nazis helfen wird. Und der einheimische Bergführer schließlich ist so auf die Ballone der hübschen Begleiterinnen aus, daß er in seinem durch-erotisierten Weltbild den echten Ballon erst ziemlich spät und nüchtern wahrnimmt. Während der Novelle rasen diese Erzählstränge aufeinander zu, und der Leser wird mit jeder Information noch genauer ins Unvermeidliche gestoßen. Peng! Selbst ein so vermessenes und durchgerechnetes „Fallbeispiel“ wie die Not-Landung des Ballons auf dem Gletscher löst die diffusesten und differenziertesten Geschichten aus. Die Einheimischen sind von oben her überrumpelt und gesegnet, die Ballonfahrer auf der Suche nach der Absturzursache, die Begleitstäbe auf Abenteuer und die Geldgeber auf schöne Stories aus. Norbert Gstrein bietet dem Leser eine raffinierte Mischung zwischen Kalkül und freier Assoziation an, woraus er sich seinen persönlichen Reim machen kann. Und wie immer bei Gstrein ist das Mehrdeutige das eindeutig Sichere. Das fängt schon beim Titel an, wie soll man das Buch bestellen? - Oh, zwei! Sauerstoff! O Halbe! Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Innsbruck. (14/11/93)


Norbert Gstrein: Das Register. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 1992. 300 Seiten.

Die äußere Geschichte des Registers ist recht einfach: Jemand kehrt ins Tal zurück, um einer Hochzeit beizuwohnen. Nach der Hochzeit geht das Licht aus, und alle Menschenleiber verwandeln sich in Glücksbojen, die der Zukunft entgegenschwanken. In diese Allerweltsgeschichte ist freilich eine Abrechnung eingewickelt, wie sie Tirol schon lange nicht mehr gesehen hat. Zwei Brüder, einer Schirennläufer, der andere schriftstellernder Mathematiker, hocken bei ihrer Schwester und lassen die seelische Sau heraus. Das Ritual bei Schirennen, die Unsinnigkeit der österreichischen Wissenschaft, Saufen und Huren in den Städten, alles kommt zum Vorschein. In Gesprächskaskaden wird auch der Vater abmontiert, ein Lehrer und Hobby-Schriftsteller, der der Familie außer Kindern nur Unglück gebracht hat. Selbstverständlich ist alles, was es an Provinzmief gibt, erzähltechnisch aufgeboten. Allein der Kniff, daß die Schwester immer mit einem Schluck, dem Nachschenken oder einer Küchenhandbewegung den Erzählfluß wieder antreibt, ist schon recht passabel. Dann setzen die Brüder aber jeweils mit einem majestätischen Wir ein, das suggeriert, hier werde die Tiroler Weltgeschichte zu einer Heilsgeschichte ausgebaut. Das Register ist schon ein wilder Roman. Er liegt wie ein Messer in der Hand: einerseits der schöne Perlmutt-Griff des Erzählens, andererseits die Schärfe, daß man sich diesen Roman am liebsten ins Herz jagen wollte. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Innsbruck. (18/10/92)



Das Register

Im neuen Roman rechnet Norbert Gstrein mit Tirol ab.


Nach der Erzählung 'Einer',die 1988 wahrlich wie eine Bombe im Literaturbetrieb einschlug,und dem Schnellschuß 'Anderntags' (1989), der haarscharf am Knie vorbeigegangen ist, wartete die Tiroler Weltleserschaft beklommen, was Norbert Gstrein wohl in der Zwischenzeit zusammendichten würde. Nun, Gstrein hat die Schreibzeit vortrefflich genützt, einen 300-Seiten-Roman geschrieben und abermals bewiesen, was man aus einem Geröllhaufen wie Tirol an Stoff herausholen kann und wie man sprachlich immer wieder etwas Neues zusammenbringen muß, will der Leser bei der Lektüre bleiben. Die äußere Geschichte des Registers ist recht einfach: Jemand kehrt ins Tal zurück, um einer Hochzeit beizuwohnen: Nach der Hochzeit geht das Licht aus, und alle Menschenleiber verwandeln sich in Glücksbojen, die der Zukunft entgegenschwanken. In diese Allerweltsgeschichte ist freilich. eine Abrechnung, eingewickelt, wie sie Tirol schon lange nicht mehr gesehen hat. Zwei Brüder, einer Schirennfahrer, der andere Mathematiker und Schriftsteller, hocken bei der Schwester und lassen die seelische Sau heraus. Das Ritual bei Schirennen, die Unsinnigkeit der österreichischen Wissenschaft, Saufen und Huren in den Städten, alles kommt zum Vorschein. In Gesprächskaskaden wird auch der Vater abmontiert, ein Lehrer und Hobby-Schriftsteller, der seiner Familie außer Kindern nur Unglück gebracht hat. Selbstverständlich ist alles, was es an Provinzmief gibt, erzähltechnisch aufgeboten und zitiert. Sequenzen, die eine Abrechnung mit Thomas Bernhards Frost sein könnten, schlagen über in Knochenmarkserzählungen a la Franz Böni, aufgeschüttet ist zwischendurch etwas, das nach Humbert Finks 'Die engen Mauern' und Gerhard Fritschs '-Fasching' schmeckt. Trotz dieser Einsprengsel, die man als Leser aber eher aus Verzweiflung zitiert, weil man so einen wilden Text schon lange nicht mehr gelesen hat, ist das Ganze natürlich ein echter Vollblut-Gstrein. Allein der erzähltechnische Kniff, daß die Schwester immer mit einem Schluck, dem Nachschenken oder einer Küchenhandbewegung den Erzählfluß wieder antreibt, ist schon recht passabel. Dann setzen die Brüder aber jeweils mit einem majestätischen Wir ein, das suggeriert, hier werde die Tiroler Weltgeschichte zu einer Heilsgeschichte ausgebaut. Mit der Heilsgeschichte ist es freilich nicht weit her. Die Brüder sind offensichtlich gescheitert, aber wie sie das erzählen, da glaubt man, alle über dreißig müssen Wracks sein, freiwillig und mit Übermut. Kleinigkeiten sind beschrieben, die man noch tagelang im eigenen Leben ausprobiert. Wie ißt man eine Knödelsuppe? Wie gibt man richtig Interviews? Wie landen Flugzeuge am Innsbrucker Flughafen? In diesen Alltagsfragen übertrifft Gstrein noch den Realo-Handke aus.der mittleren Schaffensperiode. Das Register ist schon ein wilder Roman. Wie ein Messer liegt er in der Hand. Einerseits der schöne Perlmutt-Griff (Gstrein) des Erzählens, andererseits die Schärfe, daß man sich diesen Roman am liebsten ins Herz jagen wollte. Sensation am Rande: Der Roman wird bereits als Tagesroman in Fortsetzungen in der Tiroler Tageszeitung abgedruckt!

Norbert Gstrein: Das Register. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 1992. 300 Seiten.

Helmuth Schönauer 18/10/92


Norbert Gstrein: Anderntags. Erzählung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1989. (=NF625). 116 Seiten.

Seit Ingeborg Bachmann läßt sich in der Literatur das Leben an der Naht des dreißigsten Jahres auseinanderschneiden wie die sprichwörtliche Butter. In seiner Erzählung Anderntags verschafft Norbert Gstrein so einem zerschnittenen Erzähler einen schizo-literarischen Auftritt: halb Ich, halb Georg. Je nach Erregung und Steigung wechselt die Erzählposition bei gleichbleibender Traktion klaglos wie bei einer Mehrsystem-Lok. Georg-Ich ist im Studium verloren gegangen, manchmal legt er Besuche im Sekretariat des Instituts ein, um zumindest aus der Entfernung zum Studium seinen Standort bestimmen zu können. Seine Freundin ist soeben bei einem formidablen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Die Zeit mit ihr, die er in der Hauptsache streitend oder eifersüchtig verbracht hat, dringt immer zur Unzeit über ungestopfte Ritzen in die empfindsame Seele zurück. In der Hauptstadt der Provinz geistern völlig abgefackte Provinzschriftsteller herum, denen ebenso wenig zu trauen ist wie ihren Sätzen. In der Hauptsache beschäftigen sie sich mit sich selbst, und da die Provinz ein abgeschlossenes System ist, sind die einzelnen Thesen auf lokaler Ebene immer richtig. Zwischen Politik und Provinzkultur ist kein Unterschied, weil das Hauptaugenmerk ja auf die Provinz gerichtet ist. „Georg [...] blieb das Lachen stecken; weil er sah, daß jeder, auch er selbst, nur eine Rolle hatte, hier- oder dorthin gesetzt im Spiel, das nie zu Ende ging.“ (58) So bleibt Georg-Ich schließlich nur sein Liebnlingswort Anderntags, das sich jederzeit verwenden läßt, ohne eine genaue Angabe zu machen. Und das immerhin suggeriert, als hätte es etwas am Vortag gegeben. In Gstreins Erzählung verknotet sich die Weltgeschichte für einen Augenblick zur innigsten Provinz. Anderntags ist ein lokaler Seufzer von Weltgeltung. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Innsbruck. (04/12/89)


TIROLER GEGENWARTSEITERATUR (63) Einer Niemand findet es erwähnenswert, wenn in einem alpinen Tal ein Welthotel mit allen Schikanen steht, aber noch immer gehen von Lesern große Verzückungsrufe aus, wenn ein alpiner Schriftsteller mit den Methoden der Weltliteratur eine Erzählung mit allen Schikanen macht. Norbert Gstrein erzählt mit allen Kunstgriffen der Literatur eine bedruckend einfache Geschichte. In einem Dorf voller Tourismus und Weltgeräusch geht ein junger Einheimischer vor die Hunde. Da es keinen Dorfplatz und keinen Ort für Gemeinsamkeit mehr gibt, stehen die Familienangehörigen in der Küche herum und versuchen zu erzählen, was gar nicht zu fassen ist: Jakob hat durchgedreht und wird jetzt abgeführt. Je öfter man diese Erzählung liest, umso mehr Schaltstellen und Lötpunkte der Geschichte entdeckt man. Da wird nämlich nicht mit dem Schwarzweiß-Fernseher über den Tourismus hergezogen, sondern mit allen Mitteln, die Literatur, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Psychologie der Gegenwart zur Verfügung stellen, versucht, die Auswirkungen des Tourismus auf einen einzelnen Menschen zu beleuchten. Das Spannende der Erzählung besteht darin, daß man zuerst einmal wissen will, wie die Sache mit Jakob ausgeht, und später will man Seite für Seite zurückblätternd wissen, warum es so gekommen ist. Auf der einen Seite ist man als Einheimischer bedrückt, daß es solche Geschichten gibt, auf der anderen Seite freut man sich, daß es in Tirol immer wieder Literatur von höchstem Niveau gibt.

Norbert Gstrein: Einer. Erzählung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988. (= es 1483). 120 Seiten.. Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils, lebt in Innsbruck. Helmuth Schönauer 27/5/88 (nicht signierter Beitrag von Heschoe (Diskussion | Beiträge) 04:10, 5. Aug. 2009 (CEST)) Beantworten


Änderungsentwurf Bearbeiten

Ich finde die jetzige Version ist ein guter Anfang, aber lange nicht fertig! Sie ist relativ einseitig, oberflächlich und kurz. Ich stehe recht gut in der Thematik (Lese das gerade im Deutsch-LK)und werde in den nächsten Tagen weiter daran arbeiten. Es wäre nett, wenn ihr euch meinen Entwurf mal anguckt, ich bin offen für Kritik! Dankeschön! Gruß,--Thea Sumalvico 13:25, 21. Sep. 2009 (CEST)Beantworten

Defekter Weblink Bearbeiten

GiftBot (Diskussion) 17:09, 16. Jan. 2016 (CET)Beantworten