Der Codex Einsidlensis 277 nimmt eine Sonderstellung ein, da allein in ihm der vollständige Text des Werkes der Mystikerin Mechthild von Magdeburg, das Fliessende Licht der Gottheit, überliefert ist. Das mittelhochdeutsche Manuskript wurde in den Jahren nach 1350 in der Region um Basel geschrieben und besteht aus zwei Teilen. Der eine enthält das Fliessende Licht der Gottheit, unterteilt in sieben Bücher, der andere beinhaltet diverse kurze Traktate mit ähnlich mystischer Thematik von verschiedenen unbekannten Autoren. Heute befindet sich die Handschrift in der Stiftsbibliothek des Klosters Einsiedeln.

Codex Einsidlensis 277
Aufbewahrungsort Stiftsbibliothek Einsiedeln
Herkunft Basel
Material Pergament
Seitenzahl 442
Format 193 × 144 mm
Entstehungszeit 1350–1375
Sprache Mittelhochdeutsch
Beispielseite mit roten Initialen und Überschriften sowie Randglossen, F. 7v

Beschreibung Bearbeiten

Das Manuskript in einem Format von 193 × 144 mm präsentiert sich auf 442 Pergamentseiten. Der Einband besteht aus zwei lederüberzogenen, nur einfach verzierten Holzdeckeln und ist vermutlich ausser dem Buchrücken noch das Original aus der Entstehungszeit. Der Text selbst ist in gotischer Minuskel mit bräunlich-schwarzer Tinte verfasst und bis auf die ersten fünfzig Seiten in jeweils zwei Spalten angeordnet; die mit einem Griffel vorgenommene Linierung ist noch deutlich sichtbar. Das Fliessende Licht der Gottheit wurde von einem einzigen Kopisten niedergeschrieben; bei den verschiedenen kurzen Texten des zweiten Teils lassen sich hingegen fünf unterschiedliche Schreiber feststellen. Beide Teile weichen in Zeilenzahl und Schriftraum kaum voneinander ab, woraus ersichtlich wird, dass sie bereits in der Absicht, sie später zusammenzufügen, erstellt wurden.[1]

Der Codex ist nur spärlich mit Buchschmuck ausgestattet; die Schrift ist stets sehr sorgfältig ausgeführt, weist aber keine kalligraphischen Besonderheiten auf. Es finden sich auch keine Illustrationen oder speziell ausgeschmückte Initialen. Überschriften, Initialen und zentrale Sätze wurden mit roter Tinte gestaltet, der Beginn eines neuen Satzes mit roter Konturierung des Anfangsbuchstaben hervorgehoben.[2]

Inhalt Bearbeiten

 
Gedicht über den hl. Niklaus von Flüe, F. 221v

Das Fliessende Licht der Gottheit macht beinahe drei Viertel des gesamten Codex aus. Sowohl ganz zu Beginn der Handschrift wie auch an den Rändern finden sich Anmerkungen und Glossen aus späterer Zeit. So wurde auf der ersten Seite eine zusammenfassende Einleitung in Latein hinzugefügt.[3] Anschliessend an die sieben Bücher der Mechthild von Magdeburg folgen zwei kurze Texte über die Selbstprüfung des gläubigen Christen, welche ebenfalls noch zum ersten Teil gehören, der mit einigen leeren Seiten abgeschlossen wird. Die zweite Einheit des Codex versammelt auf hundert Seiten dreissig verschiedene kurze Texte, meist Auszüge aus grösseren Werken oder Predigten. Kennzeichnend ist, dass sich alle diese Traktate an die Mystik anlehnen, welche somit zum zentralen thematischen Leitfaden der gesamten Handschrift wird. Behandelt werden beispielsweise das tugendhafte Leben, Gott als die erste Ursache und die erzürnte Seele. Bei weitem nicht alle Autoren sind bekannt, sechs dieser Texte stammen von Predigten Meister Eckharts.[4] Sowohl zeitlich als auch durch die Art seiner Darstellung sticht das den Codex abschliessende Kapitel hervor; es besteht aus einem in ungelenker Schrift über die ganze Seite hin verfassten Gedicht in Form eines Abecedarius zu Ehren des hl. Niklaus von Flüe und wurde im 16. Jahrhundert hinzugeschrieben. Jeder Satz beginnt der Reihenfolge des Alphabets entsprechend mit einem anderen Buchstaben.[5]

Geschichte Bearbeiten

Der Handschrift ist ein loses Papierblatt in der Schrift des Basler Priesters Heinrich von Rumersheim beigefügt. Er erläutert, dass er im Auftrag der verstorbenen Margaretha zum goldenen Ring, deren Beichtvater er war, dieses Buch den Beginen in der Vorderen Au bei Einsiedeln übergebe. Im Tal von Einsiedeln gab es vier Beginenhäuser; der Codex sollte zwischen diesen zirkulieren.[6] Die Gründe für dieses Geschenk werden nicht genannt. Margaretha starb kurz nach 1400; ob sie die Auftraggeberin des Manuskriptes war oder ob es erst für jemand anderen geschrieben wurde und später in ihren Besitz gelangte, ist nicht mehr mit Sicherheit feststellbar. Es besteht zudem die Möglichkeit, dass sie die Handschrift, die vielleicht zuvor nur aus dem Fliessenden Licht der Gottheit bestand, durch den zweiten Teil ergänzen liess. Margaretha gehörte in den frommen Kreis um den Basler Prediger Heinrich von Nördlingen, welcher sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts mit den Schriften Mechthilds von Magdeburg eingehend beschäftigte und entscheidend zu deren Verbreitung beitrug.[7] Auf welchen Wegen die Handschrift schliesslich in die Stiftsbibliothek Einsiedeln gelangte, ist nicht klar; aus dem 16. Jahrhundert datiert ein Besitzeintrag, wo angegeben wird, dass der Codex noch in der Vorderen Au aufbewahrt wurde. Ein weiterer Vermerk, wo bereits Einsiedeln genannt wird, stammt vermutlich aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert. Der letztmögliche Zeitpunkt, an dem das Manuskript ins Kloster Einsiedeln gelangt sein könnte, dürfte das Jahr 1798 sein. Die Schwestern in der Vorderen Au flüchteten vor den einmarschierenden Franzosen und der Codex wird mit anderen Besitztümern nach Einsiedeln gebracht worden sein.[8]

Literatur Bearbeiten

  • H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. 2 Bände. München 1990–1993.
  • M. Schmidt: Das fliessende Licht der Gottheit. Stuttgart 1995.
  • U. Federer: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner. Berlin 2011, S. 335–352. (Eingehende Erörterung der Entstehungsgeschichte des Codex 277)

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/sbe/0277 (13. Januar 2014); H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 175–179.
  2. H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 178.
  3. H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 178 und 206ff.
  4. H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 178–184.
  5. H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 176f.; http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/sbe/0277 (13. Januar 2014)
  6. http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/sbe/0277 (13. Januar 2014); H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 176 und 184f.; U. Federer: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner. Berlin 2011, 335; M. Schmidt: Das fliessende Licht der Gottheit. Stuttgart 1995, IXf.
  7. M. Schmidt: Das fliessende Licht der Gottheit. Stuttgart 1995, IX; U. Federer: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner. Berlin 2011, 335–352; H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 184f.
  8. H. Neumann (Hg.): Mechthild von Magdeburg. „Das fliessende Licht der Gottheit“. Bd. II, München 1993, 186. Bei M. Schmidt findet sich auf Seite X die Bemerkung, der Codex enthalte einen Besitzeintrag des Klosters St. Peter auf dem Bach in Schwyz. Dies ist fehlerhaft; der entsprechende Eintrag stammt aus dem Codex Einsidlensis 278, welcher ebenfalls von Margarethe zum goldenen Ring den Beginen im Einsiedler Tal geschenkt wurde. Hier liegt demnach eine Verwechslung vor.