Beweise und Widerlegungen
Proofs and Refutations (Deutscher Titel: Beweise und Widerlegungen) ist ein Werk von Imre Lakatos (1922–1974) in der Philosophie der Mathematik. Es erschien 1963–64 in vier Teilen, und kam 1976 als Buch heraus.
Zum Inhalt
BearbeitenEs handelt sich um ein ausführlich ausgearbeitetes Fallbeispiel der Beweisanalyse. In einem imaginären Klassenzimmer versuchen ein Lehrer und seine „ziemlich fortgeschrittene“ Klasse, den eulerschen Polyedersatz zu beweisen. Lakatos greift verschiedene historische Beweisansätze auf und legt sie in die Münder der Schüler. Diese werden wiederum von anderen Schülern kritisiert. Einige Schüler bringen Gegenbeispiele, die die Grenzen der Begriffe und des Satzes austesten. Verschiedene Methoden werden besprochen, um mit diesen Beispielen umzugehen. Diese Methoden sind:[1]
- Kapitulation[2]
- Aufgrund eines Gegenbeispiels gibt man die Vermutung ganz auf.
- Monstersperre[3]
- Das Gegenbeispiel wird zum Monster erklärt. Nachträglich ändert man die Definitionen (hier: der Polyeder-Begriff), um das Monster auszuschließen.
- Ausnahmesperre[4]
- Im Gegensatz zur Monstersperre wird dem Gegenbeispiel nicht die Daseinsberechtigung abgesprochen. Stattdessen passt man den Satz an, indem man alle Ausnahmen auflistet.
- Monsteranpassung[5]
- Die Aussagen des Satzes werden so lange umgedeutet, bis sie doch auch für das Gegenbeispiel gelten.
- Hilfssatz-Einverleibung[6]
- Weist ein Hilfssatz in den Beweis Gegenbeispiele auf, so fügt man der Vermutung die Voraussetzung hinzu, dass die Aussage des Hilfssatzes erfüllt wird.
- Beweis und Widerlegungen[7]
- Lakatos fasst die Vorgehensweise zu drei heuristischen Regeln zusammen:
- 1. Regel: Entwickle einen naiven Beweis deiner Vermutung. Teile diesen Beweis durch Beweisanalyse in Hilfssätze auf. Suche Gegenbeispiele zur Vermutung selber („globale Gegenbeispiele“) und zu den einzelnen Hilfssätzen („lokale Gegenbeispiele“).
- 2. Regel: Reagiere auf ein globales Gegenbeispiel mit Kapitulation oder Hilfssatz-Einverleibung. Lehne eine Monstersperre ab. Siehe zu, dass du keine „versteckte“ Hilfssätze übersehen hast.
- 3. Regel: Prüfe jedes lokale Gegenbeispiel, ob es nicht auch ein globales Gegenbeispiel ist.
In einem Anhang wird ein zweites Fallbeispiel besprochen: Die Nachwehen im 19. Jahrhundert von Cauchys „Beweis“, dass der Grenzwert einer konvergenten Reihe stetiger Funktionen stets stetig ist.[8]
Rezeption
BearbeitenViele Autoren haben mögliche Anwendungen in der Mathematikdidaktik[9][10] und in der Lehrerbildung[8] diskutiert. Der Begriff „Monstersperre“ wurde auch in der Rechtswissenschaft aufgegriffen.[11]
Ausgaben
Bearbeiten- Imre Lakatos, Proofs and Refutations. Veröffentlicht in vier Teilen, 1963–64:
- Teil I. In: British Journal for the Philosophy of Science. Band 14, Nr. 53. Oxford University Press, Mai 1963, ISSN 0007-0882, S. 1–25, doi:10.1093/bjps/XIV.53.1.
- Teil II. In: British Journal for the Philosophy of Science. Band 14, Nr. 54. Oxford University Press, August 1963, ISSN 0007-0882, S. 120–139, doi:10.1093/bjps/XIV.54.120.
- Teil III. In: British Journal for the Philosophy of Science. Band 14, Nr. 55. Oxford University Press, November 1963, ISSN 0007-0882, S. 221–245, doi:10.1093/bjps/XIV.55.221.
- Teil IV. In: British Journal for the Philosophy of Science. Band 14, Nr. 56. Oxford University Press, Februar 1964, ISSN 0007-0882, S. 296–342, doi:10.1093/bjps/XIV.56.296.
- Imre Lakatos, herausgegeben durch John Worrall und Elie Zahar: Proofs and Refutations: The Logic of Mathematical Discovery. Cambridge University Press, London 1976, ISBN 0-521-29038-4.
- Imre Lakatos, herausgegeben durch John Worrall und Elie Zahar: Beweise und Widerlegungen: Die Logik mathematischer Entdeckungen (= Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie. Nr. 14). Vieweg Verlag, Braunschweig 1979, ISBN 3-528-08392-1 (englisch: Proofs and Refutations: The Logic of Mathematical Discovery. London 1976. Übersetzt von Detlef D. Spalt).
Literatur
Bearbeiten- W. V. Quine: Lakatos, I. [1976]: Proofs and Refutations: The Logic of Mathematical Discovery. In: British Journal for the Philosophy of Science. Band 28, Nr. 1. Oxford University Press, März 1977, ISSN 0007-0882, S. 81–82, doi:10.1093/bjps/28.1.81.
- David Corfield: Towards a Philosophy of Real Mathematics. Cambridge University Press, 2003, ISBN 0-521-03525-2 (Insbesondere Kapitel 7).
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Imre Lakatos, herausgegeben durch John Worrall und Elie Zahar: Beweise und Widerlegungen: Die Logik mathematischer Entdeckungen (= Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie. Nr. 14). Vieweg Verlag, Braunschweig 1979, ISBN 3-528-08392-1, hier S. 8–43 (englisch: Proofs and Refutations: The Logic of Mathematical Discovery. London 1976. Übersetzt von Detlef D. Spalt).
- ↑ Beweise und Widerlegungen, S. 8
- ↑ Beweise und Widerlegungen, S. 9
- ↑ Beweise und Widerlegungen, S. 18
- ↑ Beweise und Widerlegungen, S. 24
- ↑ Beweise und Widerlegungen, S. 27
- ↑ Beweise und Widerlegungen, S. 40
- ↑ a b Albrecht Beutelspacher, Rainer Danckwerts, Gregor Nickel, Susanne Spies, Gabriele Wickel: Mathematik Neu Denken: Impulse für die Gymnasiallehrerbildung an Universitäten. Vieweg+Teubner, 2011, ISBN 978-3-8348-1648-1, hier S. 77 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 17. Januar 2018]).
- ↑ David Pimm, Mary Beisiegel, Irene Meglis: Would the Real Lakatos Please Stand Up. In: Interchange. Band 39, Nr. 4, Oktober 2008, ISSN 0826-4805, S. 469–481, doi:10.1007/s10780-008-9076-x.
- ↑ Stephan Berendonk: Über eine Kluft in Lakatos‘ „Beweise und Widerlegungen“. In: Erkundungen zum Eulerschen Polyedersatz: Genetisch, explorativ, anschaulich. Springer Spektrum, 2014, ISBN 978-3-658-04598-2, Kap. 2, S. 41–84.
- ↑ Thomas Schlapp: Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik: Ansätze zu einer strukturalistischen Sicht juristischer Theoriebildung (= Schriften zur Rechtstheorie. Nr. 138). Duncker & Humblot, Berlin 1989, S. 88 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 12. August 2016] Zugleich Dissertation, Universität Frankfurt (Main), 1988).