Wafa Idris, arabisch: وفاء إدريس , geb. 1974[1], gest. am 27. Januar 2002 in Jerusalem,[1] war die erste palästinensische Selbstmordattentäterin. Während der Zweiten Intifada sprengte sich Idris am 27. Januar 2002 in Jerusalem in der belebten Jaffa Street in die Luft, wobei sie einen Israeli und sich selbst tötete und mehr als einhundert Menschen verletzte. Die Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden übernahmen die Verantwortung für den Anschlag. Nach Wafa Idris folgten bis zum Ende der Intifada noch sieben weitere Frauen,[2] die sich bis zum Ende der Zweiten Intifada im Israel-Palästina-Konflikt zur Selbstmordattentäterin wurden, die ihre Tat ausführen konnten.

Familie und Leben

Bearbeiten

Die Familie von Wafa Idris war während des Palästinakrieges und der Nakba aus Ramla ins Westjordanland vertrieben worden,[3] wo Idris im Flüchtlingslager al-Am'ari bei Ramallah geboren wurde und aufwuchs.[4] Ihr Vater starb als sie noch ein Kind war.[4]

Idris war eine schlechte Schülerin und verließ nach der neunten Klasse die Schule ohne Abschluss.[3] Danach heiratete sie einen Cousin mütterlicherseits, der wie sie aus dem gleichen Flüchtlingslager kam und als Schmied arbeitete.[4] Nach einer Fehlgeburt wurde Idris unfruchtbar; nach drei Jahren Ehe ließ ihr Mann sich von ihr scheiden.[3][5] Idris wohnte daraufhin mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und dessen siebenköpfiger Familie in einer Dreizimmerwohnung zusammen.[3]

Nach ihrer Scheidung begann Idris einen Erste-Hilfe-Kurs und arbeitete ab 1999 als Sanitätshelferin beim palästinensischen Roten Halbmond in Ramallah.[3]

Idris wird als als freundliche, meist fröhliche und hilfsbereite Person beschrieben.[3] Zu ihren Freizeitaktivitäten gehörte die Taubenzucht.[3][5]

Radikalisierung und Selbstmordanschlag

Bearbeiten

Bei Wafa Idris zeigt sich eine stark von persönlichem Leid und Rückschlägen geprägte Biographie, wie sie häufig für Menschen ist, die in militante Gruppen oder gar terroristische Strukturen abgleiten und die eigene Selbstopferung in Kauf nehmen. Neben den persönlichen Rückschlägen wie instabilen Familienverhältnissen, einer Fehlgeburt und Scheidung, war die Erfahrung mit der Gewalt und den Folgen der israelischen Besatzung, von der sie bereits in ihrer Kindheit geprägt wurde. Als Kind hatte sie während der Ersten Intifada Steine auf israelische Soldaten geworfen.[3] Bei einer Protestaktion verlor eine enge Freundin ein Auge durch israelische Beschuss.[5] Ihre drei Brüder waren politisch in Yassir Arafats säkularer Fatah aktiv;[3] einer ihrer Brüder war 1985 verhaftet[5] und rund ein Jahrzehnt Jahre in einem israelischen Gefängnis inhaftiert worden.[4][5] Idris war Mitbegründerin eines Fatah-Frauenkomitees der Fatah im Flüchtlingslager und verbrachte viel Zeit mit Besuchen bei Familien, deren Söhne in israelischen Gefängnissen einsaßen oder während der Ersten Intifada zwischen getötet worden waren.[5]

Ein religiöses Motiv ist auszuschließen; da Idris nicht als religiös galt.[3] Stattdessen war sie als sehr nationalistisch bekannt.[3] Des Weiteren hätte sie ihren Anschlag damals nicht für eine islamistische Gruppierung wie etwa die Hamas verüben können; da die islamistische Hamas anfangs aus ideologischen Gründen Frauen als Selbstmordattentäterinnen ablehnte, sahen sich die al-Aqsa-Märtyrerbrigaden, eine militante Untergruppe der säkularen Fatah, nicht mit dem Aspekt religiöser Skrupel konfrontiert und begannen daher als erste Frauen als Selbstmordattentäterinnen einzusetzen.[6] Erst nachdem Idris und weitere palästinensische Frauen Selbstmordanschläge durchgeführt hatten, begann die Hamas hierzu ihre Position zu verändern.[7]

Ein zentrales Motiv müssen die Erfahrungen gewesen sein, die Wafa Idris als Sanitätshelferin machte. Als solche war sie tagtäglich an vorderster Stelle mit der Gewalt des Israel-Palästina-Konfliktes konfrontiert. So wurde sie als Sanitäterin selbst mehrfach von israelischen Dumdum-Geschossen getroffen, musste Verletzte und Tote, darunter angeschossene und getötete Kinder und Jugendliche bergen. Einmal musste sie nach einem israelischen Panzerbeschuss Leichenteile aufsammeln.[3][8] Diese Erfahrungen scheinen sie nachhaltig traumatisiert zu haben.[3]

Der Anschlag

Bearbeiten

Es gab Anzeichen, dass Idris eine mögliche Gewalttat plante; so hatte sie gegenüber Freuden und ihrer Familie angekündigt, sich für ihr Land opfern zu wollen.[5] Gegenüber ihrer Schwägerin erklärte sie: "Es ist besser als Märtyrer zu sterben, als in Demütigung zu leben."[5] In den Wochen vor ihrem Anschlag wirkte sie in sich gekehrt, mürrisch und zurückgezogen.[3] Zehn Tage vor ihrem Anschlag war sie mit einem 15-jährigen Jungen zu tun, der bei einer Demonstration von zwei Kugeln im Kopf durch israelischen Soldaten getroffen worden war.[5]

Am Sonntagmorgen des 27. Januar 2002 verabschiedete sie sich von ihrer Familie, besuchte kurz ihre Nichte und fuhr nach Jerusalem, wo sie vor einem Schuhgeschäft in der belebten Jaffa Street in die Luft sprengte und dabei sich selbst und den 81-jährigen Israeli Pinhas Tokatli tötete.[9] Mehr als einhundert Menschen wurden verletzt.[10][11] Nach einigen Spekulationen war Idris Anschlag ein Unfall, da das explosive Material in ihrem Rucksack ohne ihr Zutun zu früh hochgegangen sei.[12]

Reaktionen

Bearbeiten

Am gleichen Tag von Idris Selbstmordanschlag hielt Palästinenserführer Yassir Arafat in Ramallah eine Rede vor rund eintausend palästinensischen Frauen, die er aufforderte sich gegen die Panzer der israelischen Armee als "Märtyrerin" ("Schahida) zu werfen – bis dahin kannte man im Kontext der Intifada nur die männliche Form Schahid.[6] Drei Tage später übernahmen die al-Aqsa-Märtyrerbrigaden die Verantwortung für Idris Selbstmordattentat.[6][5] Innerhalb des nationalistisch-säkularen Teils der palästinensischen Gesellschaft führte Idris Anschlag zu einer steigenden Akzeptanz für Selbstmordattentate.[6] Nach einem Bericht der jordanischen Zeitung The Star soll innerhalb der al-Aqsa-Märtyrerbrigaden eine eigene Kandidatengruppe für Selbstmordattentate gegründet worden sein, die nach Wafa Idris benannt wurde.[13]

Nach Idris Selbstmordanschlag äußerte sich der damalige geistige Führer der Hamas, Ahmad Yasin kritisch zu ihrer Tat. Yasin hielt Frauen als "Märtyrerinnen" als problematisch für die muslimische Gesellschaft und gleichbedeutend mit einem Bruch des islamischen Rechts.[7] Gemäß Artikel 17 und 18 ihrer Gründungscharta verstand die Hamas die Aufgabe einer Frau im "Befreiungskampf" vor allem als Gebärerin und Erzieherin neuer Kämpfer.[14] Wenige Monate später, nachdem weitere Frauen, darunter Ayat al-Akhras, Selbstmordanschläge begangen hatten, räumte Yasin unter öffentlichem Druck diese Position.[7]

In einem Leitartikel der ägyptischen Wochenzeitung Al-Sha'ab wurde Idris Tat wie folgt beschrieben: "Es ist eine Frau, die euch heute eine Lektion in Sachen Heldentum erteilt, die euch die Bedeutung des Dschihad lehrt und die Art und Weise, wie man den Märtyrertod stirbt [...] Es ist eine Frau, die den Feind mit ihrem dünnen, mageren und schwachen Körper schockiert hat. Es ist eine Frau, die sich selbst in die Luft gesprengt hat und damit alle Mythen über die Schwäche, die Unterwürfigkeit und die Versklavung der Frau gesprengt hat."[15]

Der Spiegel beschrieb ihren Fall als "ganz und gar untypisch", da Idris unter den zum damaligen Zeitpunkt 47 palästinensischen Selbstmordattentätern seit Ausbruch der Intifada die erste Frau war und ihre Tat "nicht religiös, sondern politisch motiviert war."[5] Eine ägyptische Zeitung verglich Idris Aussehen mit dem der Mona Lisa.[16]

Nach Wafa Idris folgten bis zum Ende der Zweiten Intifada noch sieben weitere Frauen ihrem Beispiel als Selbstmordattentäterin.[2]

Literatur

Bearbeiten
  • Paige Whaley Eager: From freedom fighters to terrorists: women and political violence. Ashgate, 2008.
  • Andy Knight und Tanya Narozhna: Female Suicide Bombings - A Critical Gender Approach, University of Toronto Press, Toronto 2016.
  • Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006.

Einzelnachweise

Bearbeiten
  1. a b Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 235.
  2. a b Andy Knight und Tanya Narozhna: Female Suicide Bombings - A Critical Gender Approach, University of Toronto Press, Toronto 2016, S. 77–79.
  3. a b c d e f g h i j k l m n Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 236.
  4. a b c d Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 235.
  5. a b c d e f g h i j k Palästinensische Märtyrerin: Wie Wafa Idris zur lebenden Waffe wurde - Der Spiegel, 31. Januar 2002, abgerufen am 30. Oktober 2023.
  6. a b c d Andy Knight und Tanya Narozhna: Female Suicide Bombings - A Critical Gender Approach, University of Toronto Press, Toronto 2016, S. 77.
  7. a b c Andy Knight und Tanya Narozhna: Female Suicide Bombings - A Critical Gender Approach, University of Toronto Press, Toronto 2016, S. 79f., 129.
  8. Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 146.
  9. The Price of Paradise: How the Suicide Bomber Shaped the Modern Age by Iain Overton – review | The Guardian, 22. April 2019, abgerufen am 30. Oktober 2023.
  10. Andy Knight und Tanya Narozhna: Female Suicide Bombings - A Critical Gender Approach, University of Toronto Press, Toronto 2016, S. 78f.
  11. Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 240.
  12. Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 192.
  13. Thorsten Gerald Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt, LIT Verlag, Berlin 2006, S. 110.
  14. Deutsche Übersetzung der Charta der Hamas von 1988, abgerufen am 20. Oktober 2023.
  15. Übersetzung aus dem Englischen, siehe: Paige Whaley Eager: From freedom fighters to terrorists: women and political violence. Ashgate, 2008 S. 188–189.
  16. Andy Knight und Tanya Narozhna: Female Suicide Bombings - A Critical Gender Approach, University of Toronto Press, Toronto 2016, S. 35.