Der Geograph Hans Bobek hat 1959 in einer "berühmten Publikation"[1] mit dem Titel Die Hauptstufen der Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung in geographischer Sicht[2] eine Kulturstufentheorie vorgeschlagen, in der sechs verschiedene, aufeinander folgende, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsstadien kritisch beschrieben werden.

Die Kulturstufen

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Kurzcharakterisierung der sechs Stufen:

  1. Wildbeuterstufe (Anpassung des Menschen an die Natur mit Nutzung der natürlichen Nahrungsquellen)
  2. Stufe der spezialisierten Sammler, Jäger und Fischer (Spezialisierung und Arbeitsteilung, Beginn der Vorratshaltung)
  3. Stufe des Sippenbauerntums und des Hirtennomadismus (geplante Nahrungsmittelproduktion, Nutztierhaltung)
  4. Stufe der hierarchisch organisierten Agrargesellschaft (Klassengesellschaft, abhängige Bauern)
  5. Stufe des älteren Städtewesens und des Rentenkapitalismus
  6. Stufe des produktiven Kapitalismus, der industriellen Gesellschaft und des jüngeren Städtewesens

Bei der Beschreibung der Kulturstufen hebt Bobek auf bestimmte kulturelle Bereiche ab, innerhalb derer sich Evolutionen vollziehen. Dies sind v.a.: die Entwicklung der Technik, insbesondere des Nahrungserwerbs (vom konsumptiven Jagen & Sammeln zur aktiven Produktion Lebensmitteln in der sog. "Neolithischen Revolution"), aber auch die darauf aufbauenden Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse (von handwerklicher zu industrieller Produktion, vom "parasitären" Rentenkapitalismus zum produktiven, modernen Kapitalismus), die Bevölkerungsdichte, die sozialen "Herrschafts"-Verhältnisse (vom Stamm zum modernen Staat), die Siedlungsstrukturen (vom Dorf zur Stadt: "Urbane Revolution"[3]), als auch die landschaftlich-klimatischen Rahmenbedingungen von kulturellen Entwicklungen (etwa Bewässerungslandbau in Flussnähe im trockenen Süden vs. Ackerbau in nördlichen Regen-Gebieten) sowie – umgekehrt – der "Einfluss der Kulturen auf die Landschaft"[4] (z. B. Waldreduktion durch absichtliche Feuereinwirkung und später das großflächige Anlegen von landwirtschaftlich genutzten Flächen durch Rodung oder durch städtische Zersiedelung) und nicht zuletzt der Mentalitätswandel (von einer negativen zu einer positiven Einstellung zu Arbeit und wirtschaftlicher Produktion) und die oft zäh beharrenden, kulturellen Traditionen.

Innerhalb der einzelnen Entwicklungsstufen werden auch unterschiedliche Varianten und Unterphasen beschrieben. So wird etwa auf der Stufe der "hierarchisch organisierten Agrargesellschaft" unterschieden zwischen "zwei extremen Ausbildungen": "weitgehend dezentralisierte, feudalistische" und "hochgradig zentralisierte monarchisch-bürokratische Strukturen".[5] Auf der Stufe des "älteren Städtewesens" wird differenziert zwischen dem "frühen Tempelstadt-Typus" und dem "von Kriegsherren bestimmten Palast- und Burgstadt-Typus".[6] Auf der Stufe des "produktiven Kapitalismus, der industriellen Gesellschaft und das jüngeren Städtewesens" wird chronologisch gegliedert in eine "Frühphase", eine "klassische Phase" und eine "dritte Phase"[7], deren evolutive Merkmale charakterisiert werden.

Die einzelnen Kulturstufen werden sowohl abstrakt beschrieben, als auch anhand zahlreicher Beispiele in ihren multilinearen, historisch-konkreten Ausprägungen erläutert.

Es handelt sich um eine von vielen Kulturstufentheorien[8] (#Siehe auch), die derzeit häufig kritisch gesehen werden, insbesondere von Theoretikern, die dem Kulturrelativismus nahe stehen.

Rezeption und Kritik

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Bobek wird v.a., aber nicht nur, im Kreis von Geographen wertschätzend, jedoch auch kritisch rezipiert.

So heißt es in einer Doktor-Arbeit: "Bobek ist besonders bekannt [...] aufgrund seiner Kulturstufentheorie, einer Theorie kultureller Etappen."[9] Weiter schreibt ein peruanischer Akademiker und Ministerialbeamter[10]: "[...] ein weiteres, wichtiges Ergebnis [Bobeks] war die Theorie über kulturelle Etappen (Kulturstufentheorie)."[11]

Eher kritisch klingt die Einordnung von Ulf Strohmayer[12], der von einem "[...] bei Hans Bobek skizzenhaft entwickelten, funktional gedachten Begriffsvokabular[13] [spricht], welches über das ursprünglich dem Landschaftsbegriff anhaftende, deskriptive Erkenntniswollen hinaus einen klar analytischen Anspruch realisieren wollte (Bobek, 1959)."[14] Jedenfalls lässt sich im durchaus nicht nur "skizzenhaften" Text selbst ein "ursprünglich dem Landschaftsbegriff anhaftendes [...] Erkenntniswollen" nicht feststellen, eher das 'Darüber-hinaus-Gehen', da Bobek die kulturelle Entwicklung unter den verschiedensten Gesichtspunkten beschreibt, und mitbestimmende geo-klimatische Einflüsse nur gelegentlich erwähnt.

Der Geograph Eckart Ehlers kommt sogar zu folgender Aussage: "Die Unterordnung des Menschen gegenüber den dominanten Kräften der Natur, vor allem das Konzept der Lebensformgruppen, hatte in der deutschsprachigen Geographie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine wirkungsvolle Tradition, insbesondere durch die Publikation von Hans Bobek über „Die Hauptstufen der Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung in geographischer Sicht“ (Bobek 1959).[15] Das Konzept der "Lebensformgruppe" stammt von Paul Vidal de la Blache und findet sich meist im Kontext der Biologie. Es beschreibt Gruppen, die an ein bestimmtes Milieu angepasst sind; in der Geographie spricht man – gerne kritisch – von Geodeterminismus. Bobek beschreibt jedoch detailliert den Fortschritt menschlicher Kultur bei der Naturbeherrschung, insbesondere die tiefgreifend verändernden Eingriffe in Landschaft und Vegetation, und endet seinen Text sogar mit folgender Kulturkritik: "Es scheint, daß der Mensch im Begriffe steht, die Rückwirkung seiner selbstherrlich geschaffenen Kulturumwelt auf seine eigene Natur zu vervielfachen und manche Lebensvorgänge seiner Willkür zu unterwerfen, die bisher seiner Einflußnahme entzogen waren. Vor solchen Möglichkeiten und Konsequenzen aufs höchste gesteigerter Naturbeherrschung mag uns schaudern."[16]

Ebenso setzen sich Politologen mit Bobeks Theorie auseinander. So erläutert Manuel Friedrich[17] das Kulturstufenmodell besonders an Bobeks Begriff und Stufe des Rentenkapitalismus, speziell am Beispiel "Orientalischer Rentenkapitalismus".[18]

Auch in dem wirtschaftswissenschaftlichen Standardwerk "Gabler Wirtschaftslexikon" wird Bobeks Kulturstufentheorie knapp referiert.[19]

Schließlich findet sich auf populärwissenschaftlicher Ebene eine kritische Auseinandersetzung mit Bobeks Kulturstufentheorie. Auf sciodoo.de stellt ein ungenannter Autor zunächst die Stufen Bobeks im Wesentlichen richtig und ausführlicher dar:

"1. Jäger und Sammler: Der Wildbeuter-Mensch passt sich an seine Umwelt an und nutzt natürliche Ressourcen als Nahrung und Rückzugsort. Zeitlich ist diese Kulturstufe mit dem Beginn der Steinzeit verknüpft.

2. Spezialisierte Jäger und Sammler: Erste Formen von Arbeitsteilung entstehen, wonach sich Jäger und Sammler spezialisieren konnten. Frühe Formen der Vorratshaltung entstehen, allerdings ohne Keramik, Ackerbau und Viehhaltung. Diese Kulturstufe beginnt noch während der Altsteinzeit, wird aber die typische Lebensweise der Mittelsteinzeit sein.

3. Hirtennomaden und Sippenbauern: Nahrungsmittelproduktion geschieht durch Ackerbau und Viehhaltung. Allerdings sind keine Weideflächen oder andere Kulturlandschaften angelegt, so dass die Viehhirten weiterhin als Nomaden leben. Der Ackerbau bewirkt, dass sich Sesshaftigkeit einstellt. Dieser Kulturwandel setzte während der Jungsteinzeit ein und wird als Neolithische Revolution bezeichnet.

4. Feudalgesellschaft: Ein hierarchisch aufgebaute Agrarwirtschaft mit Lehnwesen, abhängigen Bauern und sozialen Klassen. Das Feudalsystem war die typische Gesellschaftsordnung im europäischen Mittelalter.

5. Rentenkapitalismus: Grundbesitzer überlassen abhängigen Bauern und Verwaltern ihre Agrarflächen und beziehen einen Großteil der Ernte. (Ertragsrente, Ernteeinkommen)

6. Produktionskapitalismus: Kapitalisten sind Besitzer von Produktionsmitteln und setzen diese ein, um ihre Interessen zu wahren bzw. durchzusetzen. In Europa ist dies die typische Gesellschaftsordnung ab dem 18. Jahrhundert mit Beginn der Industriellen Revolution."[20]

Es folgt eine Kritik, die typisch ist für die Ablehnung von "evolutionistischen" Kulturstufentheorien seitens bestimmter Autoren auch aus wissenschaftlichen Kreisen, die diese vom rein moralischen, bewertenden Standpunkt aus ablehnen, ohne konkrete Einwände zur sachlichen Richtigkeit vorzubringen:

"Das Kulturstufenmodell ist kritisch zu sehen. Denn es ist eng mit dem Evolutionismus verknüpft, da die Annahme suggeriert wird, dass es primitive Kulturen gibt, welche einen bestimmten Kulturwandel noch nicht durchlaufen haben. Demnach sind Naturvölker oder Naturreligionen als niederstufig anzusetzen, welche von höheren Kulturen dominiert werden könnten. Der Sozialdarwinismus, welcher im 19. Jahrhundert ebenfalls populär war, gründet darauf."

Siehe auch

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Literatur

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Einzelnachweise

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  1. "He also published famous papers on“main stages in socio-economic evolution” and “rent capitalism” as empirical studies." Hiroshi Morikawa: https://www.jstage.jst.go.jp/article/jgeography1889/109/3/109_3_445/_article/-char/ja/ ; visum 19.4.2024
  2. s. Literatur
  3. Begriff von Vere Gordon Childe, den Darcy Ribeiro aufgreift; s. auch: [1] ; visum 17.4.2024
  4. Bobek, 1959, S. 265
  5. Bobek, 1959, S. 275
  6. Bobek, 1959, S. 285
  7. Bobek, 1959, S. 291 f
  8. Man denke an die Steinzeit-Stufen von Lubbock, das grundlegende Dreiperiodensystem Thomsens, das Pulszky um eine vierte Stufe ergänzte, das 'romantische' Modell Bachofens, das Gimbutas später archäologisch substantiierte, die veralteten Modelle des kolonialistisch beeinflussten Evolutionismus von Tyor und Morgen, das Gesellschaftsformations-Modell von Marx und Engels, an die Stufenmodelle der Archäologen Childe oder Braidwood, an die neoevolutionistischen, multilinearen Modelle der Ethnologen Julian Steward, Leslie White, Elman Service, Marshall Sahlins, Morton Fried oder Kunz Dittmer, an die v.a. soziologischen Modelle von Ribeiro oder Dux, oder an das psychohistorische Modell von Janus und dessen historischen Vorgänger Wundt mit seiner Völkerpsychologie.
  9. "Bobek es muy conocido [...] especialmente por la Kulturstufentheorie: teoria de las etapas culturales." José Orlando Parra: Geografía humana, Bogotá D.C., Fundación Universitaria del Área Andina. 2017 ISBN 978-958-5459-60-1, S. 93; s.a. https://www.academia.edu/94187421/Geograf%C3%ADa_humana ; visum 18.4.2024
  10. Diego Medina Cárdenas s. https://www.facebook.com/j.d.medinacardenas , visum 17.4.2024
  11. "Su teoría acerca de las interacciones urbanas y rurales se llamaba Rentenkapitalismus, otro resultado importante fue la teoría de las etapas culturales (Kulturstufentheorie)."; https://pdfcoffee.com/determinismo-geografico-3-pdf-free.html ; 17.4.2024
  12. Prof. für Geographie: https://www.universityofgalway.ie/our-research/people/geography-and-archaeology/ulfstrohmayer/ ; visum 17.4.2024
  13. Ein merkwürdig widersprüchlicher Pleonasmus: entweder "Begriff", oder "Vokabular" – Signifikat oder Signifikant, was zu unterscheiden ist!
  14. Ulf Strohmayer: An was genau erinnert „Kiel 1969“? In: Geographica Helvetica. Band 75, Nr. 3, 2020, S. 215–219, doi:10.5194/GH-75-215-2020.; s.a. [2] visum 17.4.2024
  15. Eckart Ehlers: Das Verhältnis von Natur und Mensch im Zeitalter des Anthropozän – Geographische Perspektiven. In: Marburger Geographische Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch 2021. 2022, S. 98–116 (uni-marburg.de [PDF]).
  16. Bobek, 1959, S. 296
  17. Dr. rer. pol.
  18. [3] Zusammenstellung von Dr. rer. pol. Manuel Friedrich aus Wikipedia, PDF, visum 22.3.2024
  19. selbstverständlich nach Peer-Review; https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/kulturstufentheorie-54306 ; visum 18.4.2024
  20. [4] ScioDoo zum Thema "Kulturen"; visum 22.3.2024