Der philosophiegeschichtliche Begriff Radikalaufklärung, englisch radical enlightenment, französisch lumières radicales, ist in den letzten Jahrzehnten aus einer transatlantischen Debatte [1] über die geistesgeschichtlichen Ursachen der Entstehung des englischen Bürgerkriegs, der amerikanischen und der französischen Revolution hervorgegangen. Angestoßen wurde diese Debatte durch ein Buch der US-amerikanische Historikerin Margaret C. Jacob aus dem Jahre 1981: The Radical Enlightenment, Pantheists, Freemasons and Republicans.[2] Seitdem ist der Begriff Radikalaufklärung in zahlreichen Monographien und Sammelbänden weiter erhellt und kontrovers diskutiert worden. Aufklärungshistoriker wie Margaret C. Jacob[3], Jonathan I. Israel[4] und Martin Mulsow [5] betrachten das Zeitalter der Aufklärung nicht mehr als unitarisches Modell[6], sondern unterscheiden zwei ideologische Hauptströmungen, die im späten 17. Jahrhundert aufkamen und das ganze 18, Jahrhundert hindurch fortbestanden: die moderate, reformerische Aufklärung, welche die Hauptströmung der Aufklärung bildete (prominente Vertreter: z.B. John Locke, Newton, Montesquieu, David Hume, Voltaire), und die revolutionäre, säkularistische Radikalaufklärung.

Diese radikale Richtung der Aufklärung ging besonders kämpferisch und subversiv gegen den Pakt von Religion und Monarchie vor, verbreitete umstürzlerisches, republikanisches Gedankengut, so dass ihre Werke nur klandestin und anonym verbreitet werden konnten.[7] Sie wurden zensiert, immer wieder verboten und öffentlich verbrannt. Die gottlosen atheistischen, materialistischen und spinozistisch-pantheistischen Radikalaufklärer, die nach Philipp Blom sogenannten bösen Philosophen , z.B. Diderot, Paul Henri Thiry d’Holbach, Julien Offray de La Mettrie, Thomas Paine, riskierten Gefängnisstrafen, Verbannung oder gar den Scheiterhaufen.[8]

Insbesondere aus dieser radikalaufklärerischen Strömung stammen die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Revolutionen des 18. Jahrhunderts.

Vordenker Bearbeiten

„Radikalaufklärung meint sowohl eine unnachsichtige Religionskritik, von einem Deismus, der jede Wirkung göttlicher Providenz ablehnt, bis zu Versionen eines militanten Atheismus und eines monistischen, von einer einzigen Substanz ausgehenden Materialismus und Empirismus, als auch und vor allem ein Programm der mehr oder weniger revolutionären Realisierung von Gleichheit und Freiheit in republikanischen beziehungsweise demokratischen Ordnungen, also einer gesellschaftlichen Umwälzung.“

Herbert Jaumann: Radikalaufklärung[9]

Vordenker der Radikalaufklärung lieferten diese Grundlagen atheistischer Religionskritik. Montaigne relativiert in seinen Essais den Wahrheitsanspruch der Religionen mit dem Argument der zufälligen ethnischen Zugehörigkeit zu einer Religion kraft Geburt und Erziehung: [10]

„Nous sommes Chrétiens à même titre que nous sommes ou Périgourdins ou Allemands.“

Essais, II,12 Apologie de Raimond Sebond

„Christen sind wir im gleichen Sinne, wie wir Perigorden oder Deutsche sind.“

In seinem Hauptwerk, Ethica more geometrico demonstrata, naturalisiert Spinoza Gott: Deus seu Natura - die Natur selbst ist Gott.[11]. Der englische Philosoph und Freidenker John Toland bezeichnet dieses Weltbild Spinozas in seinem Pantheistikon, 1720, als Pantheismus . [12]

Das Dictionnaire historique et critique (DHC), 1697, des französischen Frühaufklärers Pierre Bayle, welches skeptizistisch zu jedem Thema Thesen und Gegenthesen wiedergibt, unternimmt erstmals eine quellenkritische Sichtung des theologischen, philosophischen und historischen Wissens. Das Buch wurde unmittelbar nach Erscheinen von der Zensur verboten. Dennoch fand das Dictionaire seine Leser und wurde wie später auch Diderots Enzyklopädie zu einer „Bibel der Aufklärung“: [13]

„Il faut nécessairement opter entre la philosophie et l’Évangile: si vous ne voulez rien croire que ce qui est évident, et conforme aux normes communes, prenez la philosophie, et quittez le christianisme: si vous voulez croire les mystères incompréhensibles de la religion, prenez le christianisme et quittez la philosophie; car de posséder ensemble l’évidence et l’incompréhensibilité, c’est ce qui ne se peut… Il faut opter nécessairement.“

Piere Bayle: Dictionnaire historique et critique: Éclaircissements, IIIe éclaircissement aux objections des pyrrhoniens[14]

„Man muss sich zwischen der Philosophie und dem Evangelium entscheiden. Möchte man nur das glauben. was evident ist, und mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt, muss man die Philosophie wählen und das Christentum aufgeben: Möchte man an völlig unveständliche religiöse Geheimnisse glauben, muss man das Christentum wählen und die Philosophie aufgeben, denn man kann nicht beides haben: Evidenz und Unverständlichkeit... Man muss sich entscheiden.“

Klandestines und anonymes Schriftum Bearbeiten

Die religiös-politischen Systeme des 17. und 18. Jahrhunderts erlaubten keine Meinungsfreiheit. Kritische Werke wurden zensiert und verbrannt. Deshalb konnten sie nur anonym als Untergrundliteratur zirkulieren.

So kursierten Manuskripte, welche die Religionsbetrugthese propagierten. In dem lateinischen Traktat über die drei Betrüger, De tribus impostoribus, 17. Jhd., werden die drei Religionsstifter Moses, Jesus und Mohammed als Betrüger dargestellt. Der Vorwurf des Betruges zielt auf vorgebliche Offenbarungen und Taschenspielertricks (scheinbare Wunder). In dem anonymen französischsprachigen Traktat Traité des trois imposteurs wird darüber hinaus – im Sinne eines spinozistischen Pantheismus – die Lehre von einem persönlichen, d. h. freien und intelligenten Welturheber, von der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen sowie von Strafen und Belohnungen für sein Handeln im Jenseits, von der Vorsehung und der zweckmäßigen, auf den Menschen bezogenen Einrichtung der Schöpfung, von der Unsterblichkeit der Seele geleugnet.

Der Theophrastus redivivus, von einem unbekannten französischen Autor um das Jahr 1659 in lateinischer Sprache verfasst, wurde ebenfalls nur unter der Hand verbreitet. Der Theophrastus redivivus gilt als das früheste dezidiert atheistische Dokument der Neuzeit. Der Autor, der sich als Redivivus des Theophrastos von Eresos sieht, kritisiert die gängigen Gottesbeweise, wobei er unter anderem auf das Theodizee-Argument zurückgreift. Er gelangt zu dem Schluss, dass es Gott nicht gibt. Dennoch sei Religion aber nützlich.[15]

Der Romanist Antony McKenna [15] betont die Bedeutung des klandestinen Manuskriptes Mémoire des pensées et sentiments de Jean Meslier, welches der atheistische Dorfpfarrer, der Curé Jean Meslier, postum hunterlassen hat:

„Die nachdrücklichste Lektion klandestiner Philosophie stammt aber von einem Dorfpriester, vom Curé Meslier, der die Aufdeckung religiösen Aberglaubens und Betrugs mit der Bloßstellung politischer Autorität und gesellschaftlicher Hierarchien verbindet.“

Antony McKenna: Klandestine Philosphie[16]


Divergente Meinungen in der Aufklärungsforschung Bearbeiten

Margaret C. Jacob[17] sieht die revolutionären Unruhen Mitte des 17. Jahrhunderts in England als den eigentlichen Ursprung der Radikaklaufklärung. Für M. C. Jacob waren vor allem die deistischen und republikanischen Strömungen, wie sie sich in den Schriften John Tolands widerspiegeln der zentrale Motor für die Entstehung der Radikalaufklärung.[1] Sie misst insbesondere dem Einfluss der Freimaurerlogen viel mehr Gewicht zu als andere Forscher.

Nach Jonathan Irvine Israel lieg der Ursprung der Radikalaufklärung hingegen in monistische Philosophiesystemen begründet, insbesondere auf im Spinozismus und in einem Krypto-Spinzismus, wie er von Pierre Bayle und Diderot etwickelt worden ist.[18]

„Jonathan Israels Beharren darauf, die Philosophie wieder zu einem Teil der Aufklärungsforschung zu machen, sowie sein Versuch, ein der europäischen Aufklärung zugrunde liegendes, zusammenhängendes Programm zu formulieren, waren längst überfällig. Seine Darstellung der von Spinoza geprägten Radikalaufklärung als einheitliche, kontinuierliche Bewegung lässt jedoch Zwefel aufkommen.“

Wiep von Bunge: Radikalaufklärung neu definiert: eine holländische Perspektive[19]

Weblinks Bearbeiten

  • Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment and the Making of the French Revolution (1750–1800) Vortrag
  • Jonathan I. Israel and Philipp Blom Discuss Radical Enlightenment [1]]
  • A Session in Honor of Margaret Jacob, Chicago 2012 Radical Enlightenment

Literatur Bearbeiten

  • Jonathan I. Israel und Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Suhrkamp Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29653-0
  • Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750, Oxford University Press, 2001
  • Enlightenment Contested: Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man, 1670–1752, Oxford University Press, 2006
  • A Revolution of the Mind: Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy, Princeton University Press, 2009
  • Democratic Enlightenment: Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790, Oxford University Press, 2011
  • Revolutionary Ideas: An Intellectual History of the French Revolution from The Rights of Man to Robespierre, 2014
  • Martin Mulsow, Dirk Sangmeister (Hrsg.): Subversive Literatur: Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806),nVerlag: Wallstein 2014, ISBN 978-3-8353-1439-9.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung, Suhrkamp Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29653-0
  2. Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons and Republicans, 1981, Neuaflage Michael Poll Pub 2006, ISBN 978-1-887560-74-0
  3. Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment and Freemasonry: where we are now, in:Philosophica 88 (2013) pp.13-29
  4. Jonathan I. Israel:Radical Enlightenment and the Making of the French Revolution (1750–1800) Vortrag
  5. Rezension des bereits zitierten Suhrkamp-Buches ‚‘Radikalaufklärung‘‘
  6. Der Aufklärungshistoriker Peter Gay, Autor des Ünberblickwerks The Enlightenment. An Interpretation, 2 Bde. 1966-69,lehnt hingegen jede Vorstellung von Pluralität oder Dualität in der Aufklärung ab
  7. Subversive Literatur: Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806), Herausgeber: Martin Mulsow , Dirk Sangmeister, Verlag: Wallstein 2014, ISBN 978-3-8353-1439-9
  8. Philipp Blom: Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. Carl Hanser Verlag, München 2011, ISBN 978-3-446-23648-6.
  9. Herbert Jaumann: Radikalaufklärung, in: literaturkritik.de
  10. Jonathan I. Israel und Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Suhrkamp Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29653-0, S. 157
  11. Baruch de Spinoza: „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt”, Meiner Verlag, S.374, (22) Deus, seu Natura
  12. Pantheismus», eine absolute Welt ohne Gott, ist daher nur ein Euphemismus für Atheismus. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Band 1, Seite 109
  13. :Jonathan I. Israel und Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Suhrkamp Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29653-0, S.163
  14. Dictionnaire Historique et Critique de Pierre Bayle, tome 15ème, Desoer Paris 1820, p.317, Google Books
  15. a b "suhrkamp">
  16. Jonathan I. Israel und Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Suhrkamp Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29653-0, S. 172
  17. Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment and Freemasonry: where we are now. In: Philosophica. 88, 2013, S. 13–29.
  18. Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity. 1650–1750, Oxford University Press, 2001.
  19. Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Suhrkamp, Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29653-0, Google Books, S.146.

Kategorie:Aufklärung Kategorie:Geschichte der Philosophie