Detail eines athenischen Dekrets bezüglich Tributeintreibungen des Attischen Seebundes, stoichedon abgefasst

Als stoichedon (altgriechisch στοιχηδόν sinngemäß für „elementweise“[1]) ist eine Schreibtechnik, die in griechischen Inschriften der Antike verbreitet war. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass jedem Buchstaben darin genau gleich viel Platz zukommt und jede Zeile damit genau gleich viele Buchstaben beinhaltet.

Aussehen und Nutzung Bearbeiten

In stoichedon verfassten Texten sind die einzelnen Schriftzeichen wie in einer Tabelle angeordnet, das heißt, die Buchstaben einer Reihe stehen genau unter denen der darüberliegenden. Jedem Buchstaben wird also unabhängig von der tatsächlichen Breite des verwendeten Schriftzeichens ein einheitlicher Raum auf dem Inschriftenträger eingeräumt. Somit bilden die Zeichen des Textes nicht nur horizontale Zeilen, sondern auch vertikale Spalten (altgriechisch στοῖχοι stoichoi), von denen sich der Name des Phänomens herleitet. Der Begriff στοιχηδόν/stoichedon ist zwar antik bezeugt, allerdings nicht im Bezug auf Inschriften, sodass es sich diesem Zusammenhang um einen modern geprägten Fachausdruck handelt. Das antike griechische Wort für diese spezielle Schreibweise ist unbekannt.[2]

Dadurch, dass jede Zeile von stoichedon gestalteten Inschriften genau gleich viele Buchstaben umfasste, mussten die Zeilenumbrüche ohne jede Rücksicht auf Wort- und Silbentrennung vorgenommen werden. Um das zu vermeiden, wurde in einigen Fällen am Ende einer Zeile etwas Platz freigelassen; manchmal wurden auch lediglich die letzten Buchstaben einer Zeile stark zusammengedrängt oder auseinandergezogen, obwohl das das sonst sehr einheitliche Schriftbild dort beeinträchtigte.[3][2] Zwischen den Wörtern wurden grundsätzlich keine Leerzeichen freigelassen („Scriptio continua“). In seltenen Fällen wurde das Iota mit anderen Buchstaben zu einer Ligatur zusammengezogen, dann benötigten diese beiden gemeinsam nur ein einzelnes „Feld“ der Inschrift. Der Abstand der Zeilen und Kolumnen zueinander war von Inschrift zu Inschrift variabel.

Ein Vorteil der stoichedon-Schreibweise war, dass der Text nicht durch „Korrektur, Einfügung oder Streichung“[4] manipuliert werden konnte. Ein weiterer Grund, Inschriften stoichedon zu schreiben, soll der ornamentale und monumentale Eindruck auf den Betrachter gewesen zu sein.[5]

Geschichte Bearbeiten

 
Detail eines athenischen Dekrets, stoichedon abgefasst

Die Stoichedon-Inschriften waren vor allem in Attika, insbesondere in Athen, verbreitet und kamen ungefähr Mitte des 6. Jahrhunderts auf. Zunächst bestand dort lediglich eine Tendenz, Buchstaben untereinanderliegender Zeilen miteinander in Beziehung zu setzen, indem zum Beispiel die Iotas („Ι“) genau übereinander geschrieben wurden, wo der Text dies irgendwie hergab. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts bildete sich die Stoichedon-Schreibweise dann vollständig aus und wurde für attische Inschriften der Klassischen Zeit das gängige Design. Allerdings stammen die frühen Beispiele nicht nur aus Attika, sodass unbekannt ist, wo der Stoichedon-Stil seinen Ursprung hatte.[6] Im 5. und 4. Jahrhundert wurde diese Schreibweise die gängige Form für die inschriftliche Publikation öffentlicher Dokumente des athenischen Staates. Darüber hinaus war die Nutzung etwa auch in Delphi und auf den ägäischen Inseln (wie Chios und Samos) verbreitet. Allerdings blieb in diesen Orten und Landschaften parallel dazu immer auch die herkömmliche Schreibweise von Inschriften in Gebrauch. Aus den meisten anderen griechischen Landschaften sind nur wenige verstreute Beispiele für den Stoichedon-Stil bekannt.

Eine bisher nur von einer einzigen Inschrift bekannte Sonderform des klassischen Stoichedon ist das ‚versetzte Stoichedon‘.[7] Bei dieser Form der Inschriftengestaltung ist nur jedes zweite der (gedachten) Buchstabenfelder einer stoichedon-Zeile tatsächlich mit einem Buchstaben beschrieben, während die restlichen frei bleiben. Die untereinanderliegenden Zeilen sind außerdem gegeneinander verschoben, sodass gewissermaßen ein Schachbrettmuster aus Buchstaben und freien Feldern entsteht. Auf diese Weise wird der Eindruck diagonaler Buchstabenlinien erweckt.[8]

Außerhalb von Attika wurde die Stoichedon-Schreibweise in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts unüblich (in Delphi datieren die letzten Belege etwa in die Zeit um 275). In Athen dagegen blieb sie noch einige Jahrzehnte länger, etwa bis 225 v. Chr., im gelegentlichen Gebrauch und wurde in einigen Fällen noch im 2. Jahrhundert und später genutzt.[2] Die Aufgabe der Schreibweise wird darauf zurückgeführt, dass es zunehmend als unpraktisch empfunden wurde, wenn die Zeilenumbrüche nicht mit dem Ende eines Wortes oder zumindest einer Silbe zusammenfallen.[9] Daneben wurden aber auch ästhetische Gründe vermutet: Es sei zunehmend als unästhetisch empfunden worden, dass die Zuweisung eines gleich großen rechteckigen Raumes für jeden Buchstaben bei schmalen Buchstaben wie Ι oder Τ zu größeren Leerstellen führte, während aufeinander folgende breite Buchstaben wie Μ oder Ω sehr eng zueinander standen. Auch seien damals leicht trapezförmige Stelen als Inschriftenträger in Mode gekommen, auf denen ein strenges Stoichedon-Muster nicht ohne Weiteres möglich war.[10] Ein spätes Beispiel ist die Inschrift IG II(2) 1071, die aus dem späten 1. Jahrhundert n. Chr. stammt und in für die Zeit üblichen Buchstabenformen, aber eben stoichedon niedergeschrieben ist.[3] Die spätesten Belege für die Nutzung stammen überwiegend aus dem östlichen Mittelmeerraum (Kleinasien und Zypern). Die wohl späteste bekannte stoichedon niedergeschriebene Inschrift ist wohl aus Oinoanda in Lykien und stammt aus dem 3. Jahrhundert n. Chr.[11]

Literatur Bearbeiten

Überblicke in Handbüchern

  • Günther Klaffenbach: Griechische Epigraphik (= Studienhefte zur Altertumswissenschaft. Heft 6). 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966, S. 50.
  • Arthur Geoffrey Woodhead: The Study of Greek Inscriptions. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1981, S. 29–34.
  • B. H. McLean: An Introduction to Greek Epigraphy of the Hellenistic and Roman Periods from Alexander the Great down to the Reign of Constantine (323 B. C.–A. D. 337). University of Michigan Press, Ann Arbor 2002, ISBN 0-472-11238-4, S. 45–48.

Spezialstudien

  • R. P. Austin: The Stoichedon Style in Greek Inscriptions. Oxford University Press, London 1938.
  • Michael J. Osborne: The Stoichedon Style in Theory and Practice. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Band 10, 1973, S. 249–270.
  • Patricia A. Butz: The Art of the Hekatompedon Inscription and the Birth of the Stoikhedon Style (= Monumenta Graeca et Romana. Band 16). Brill, Leiden/Boston 2010, ISBN 978-90-04-18308-7.

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Gerson Schade: Schriftrichtung. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 11, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01481-9, Sp. 246–247.
  2. a b c Günther Klaffenbach: Griechische Epigraphik (= Studienhefte zur Altertumswissenschaft. Heft 6). 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966, S. 50.
  3. a b B. H. McLean: An Introduction to Greek Epigraphy of the Hellenistic and Roman Periods from Alexander the Great down to the Reign of Constantine (323 B. C.–A. D. 337). University of Michigan Press, Ann Arbor 2002, ISBN 0-472-11238-4, S. 45.
  4. Rudolf Wachter: Schrift III: Klassische Antike. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 11, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01481-9, Sp. 237–241.
  5. Rosalind Thomas: Literacy and Orality in Ancient Greece. Cambridge University Press, Cambridge 1992, ISBN 0-521-37346-8, S. 88.
  6. Arthur Geoffrey Woodhead: The Study of Greek Inscriptions. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1981, S. 30 f.
  7. Begriff in dieser Form bei Walter Ameling: Die Gefallenen der Phyle Erechtheis im Jahr 490 v. Chr. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Band 176, 2011, S. 10–23, hier S. 11 (wörtlich spricht Ameling von einem „versetzten στοιχηδόν-Schema“).
  8. Patricia A. Butz: The Stoichedon Arrangement of the New Marathon Stele. In: John Bodel, Nora Dimitrova: Ancient Documents and their Contexts. First North American Congress of Greek and Latin Epigraphy (2011) (= Brill Studies in Greek and Roman Epigraphy. Band 5). Brill, Leiden/Boston 2015, ISBN 978-90-04-26930-9, S. 82–97.
  9. Sterling Dow: Prytaneis. A Study of the Inscriptions honoring the Athenian Councillors (= The American Excavations in the Athenian Agora. Hesperia. Supplement I). Amercian School of Classical Studies, Athen 1937, S. 30.
  10. Arthur Geoffrey Woodhead: The Study of Greek Inscriptions. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1981, S. 33 f.
  11. Inscriptiones Graecae ad Res Romanas Pertinenentes III, 500. Siehe auch B. H. McLean: An Introduction to Greek Epigraphy of the Hellenistic and Roman Periods from Alexander the Great down to the Reign of Constantine (323 B. C.–A. D. 337). University of Michigan Press, Ann Arbor 2002, ISBN 0-472-11238-4, S. 48.