nachstehende sandbox beruht auf einem copypaste aus Soziale Wirklichkeit, autoren siehe dort und [1].

Der Ausdruck Soziale Wirklichkeit (auch: soziale Realität, soziale Tatbestände bzw. Tatsachen) bezeichnet nach zahlreichen jüngeren Auffassungen den spezifischen Gegenstandsbereich der Soziologie.[1] Die Soziologie nämlich untersuche eine durch handelnde Akteure oder durch Institutionen "erschaffene" Wirklichkeit. Gemeint ist, dass es beispielsweise ausreicht, dass etwas für wahr, gültig oder bedeutsam gehalten wird, um soziale Folgen zu zeitigen. Deswegen kann sich die Soziologie nicht allein naturwissenschaftlicher[2] oder individualpsychologischer Instrumentarien bedienen.

Begriffsgeschichte

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Durkheim (1858-1917) betont in den Regeln der soziologischen Methode von 1895, dass "Soziale Tatsachen [...] in besonderen Arten des Handelns, Denkens und Fühlens," bestünden, "die außerhalb des Einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft derer sie sich aufdrängen."[3]

Der Rechtsphilosoph Hans Kelsen (1881-1973) unterscheidet zwischen einer "spezifischen Rechtswirklichkeit" und einer "real-sozialen Wirklichkeit". Erstere sei nicht per se Teil letzterer (und darum auch nicht direkt empirisch fassbar). Kelsen bezieht sich auf Durkheim und erklärt, wenn Durkheim Normen auch in weiten Teilen gesellschaftlichen Funktionierens dingfest mache, dann erscheine die Soziologie schlicht als Rechtswissenschaft.[4]

Im Anschluss an Kelsen und Theodor Litt entwickelt Rudolf Smend eine Rechtstheorie, welche "soziale Wirklichkeit als Sinnzusammenhang auffassen" will, "dessen Gesetze durch einfühlendes Verstehen zu erkennen sind".[5] So formuliert Smend beispielsweise:

"Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert, in und aus dem Einzelnen aufbaut - dieser Vorgang ist sein Wesen als geistig-soziale Wirklichkeit."[6].

In teilweise erklärtem, teilweise losem Gefolge von Kelsen, Smend und vielen anderen spricht ein großer Teil der modernen Verfassungs- und Rechtstheorie von Wechselwirkungen zwischen positivem Recht und "sozialer Wirklichkeit". Dies betrifft einerseits die Normrezeption und -interpretation, andererseits deren Setzung.[7]

Max Weber (1864-1920) entwickelt eine sog. verstehende Soziologie. Diesen Ansatz führt Schütz weiter.

Alfred Schütz (1899-1959), der durch Weber, durch die „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“ und dabei insb. durch Kelsen sowie durch die Begründer der Phänomenologie (Henri Bergson, Edmund Husserl) geprägte Begründer der phänomenologischen Soziologie, publiziert 1932 seine grundlegende Monographie Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Sein methodisches Interesse zielt dabei auf die Entstehung einer durch Sinnbezüge ("subjektiver Sinn“, "sinnhafter Aufbau") strukturierten "sozialen Welt" aus der Interaktion von Individuen. Er formuliert dort beispielsweise:

"Das Beobachtungsfeld des Sozialwissenschaftlers, also die soziale Wirklichkeit, hat [...] eine besondere Bedeutung und Relevanzstruktur für die in ihr lebenden, handelnden und denkenden menschlichen Wesen. Sie haben diese Welt, in der sie die Wirklichkeit ihres täglichen Lebens erfahren, in einer Folge von Konstruktionen des Alltagsverstandes bereits vorher ausgesucht und interpretiert“[8]

Der Soziologe rekonstruiert demnach die alltäglichen Prozesse des Sinndeutens und Sinnsetzens. Diese Analyse wird als einer Untersuchung und Erklärung "sinngeleiteten Handelns" (Weber) vorgängig verstanden. Zwischen Schütz und Talcott Parsons, dem Begründer des Strukturfunktionalismus, einem Vorläufer der Systemtheorie, bestand ein reger Austausch, der letztlich aber in Verwerfungen endete. Ein Grund dafür war, dass aus Schütz' Sicht bei Parsons die Theorie Vorrang vor der sozialen Wirklichkeit habe.

Thomas Luckmann, ein Schüler und Herausgeber der Werke von Schütz, führt dessen Projekt weiter zu einem sog. Sozialkonstruktivismus. Sozial wirklich sei, was als "Wissen" interaktiv und kommunikativ konstruiert und akzeptiert ("objektiviert") werde.

Seit Luckmann und Peter L. Bergers 1966 erschienenem Werk "The Social Construction of Reality" haben sich einige Philosophen, Psychologen, Soziologen, Ethnologen u.a. der Richtung eines sog. "sozialen Konstruktivismus" angeschlossen. Dabei wird üblicherweise vertreten, dass mindestens einige vermeintlich "natürlich gegebene" Objekte keine Existenz außerhalb sozialer Praktiken haben: Menschen handeln so, als ob diese Objekte auch unabhängig von diesem Handeln existieren würden. Gleichwohl gilt: Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, so sind auch ihre Folgen wirklich. (das sog. Thomas-Theorem)[9]. Typische Kandidaten derartiger "sozial konstruierter" Objekte sind z.B. Geld, Staatsbürgerschaft und gesellschaftliche Ämter. Viele Vertreter schränken die These eines sozialen Konstruktivismus nur auf derartige Objekte ein, so z.B. Steven Pinker, Stanley Fish, John Searle und Ian Hacking. Insbesondere Searle versteht sich selbst als Realist. Auch ein allgemeiner sozialer Konstruktivismus wird von einigen sog. "postmodernen" Theoretikern vertreten. Searle schreibt beispielsweise:

„Ein rätselhaftes Phänomen der sozialen Wirklichkeit ist die Tatsache, dass sie nur existiert, weil wir denken, dass sie existiert. Es ist ein objektives Faktum, dass das Stück Papier in meiner Hand ein 20-Dollar-Schein ist, dass ich ein Bürger der Vereinigten Staaten bin oder dass Giants die Athletics im gestrigen Baseballspiel 3:2 besiegt haben. All dies sind objektive Fakten in dem Sinne, dass sie nicht von meiner Meinung abhängen. Wenn ich das Gegenteil glaube, liege ich einfach falsch. Aber diese objektiven Fakten existieren nur durch eine gemeinsame Akzeptanz oder Anerkennung.“[10]

Literatur

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  • Gukenbiehl, Hermann L.: Soziologie als Wissenschaft, in: Hermann Korte, Bernhard Schäfers (Hgg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie: Einführungskurs Soziologie, VS Verlag 2007, S. 11-22, ISBN 3531150294.
  • Keppler, Angela: Medien und soziale Wirklichkeit, in: Michael Jäckel (Hg.): Mediensoziologie: Grundfragen und Forschungsfelder, VS Verlag 2005, ISBN 3531144839, 91-106.
  • Kohli, M. / Roberts, G. (Hgg.): Biographie und soziale Wirklichkeit, Stuttgart 1983.
  • Merz-Benz, Peter-Ulrich: Das, was "Sinn macht", in: Ingolf U. Dalferth, Philipp Stoellger (Hgg.): Interpretation in den Wissenschaften, Königshausen & Neumann 2005, ISBN 3826031121, 59-70.
  • Schütz, A.: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt 2. A 1981.
  • Schütz, A.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971.
  • Schütze, Fritz: Symbolischer Interaktionismus; in: Ulrich Ammon, Norbert Dittmar, Klaus J. Mattheier (Hgg.): Soziolinguistik, Berlin/New York, De Gruyter 1987, 520-553.
  • Searle, John: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Rowohlt, Reinbek 1997, ISBN 3-499-55587-5
  • Srubar, Ilja / Vaitkus, Steven (Hgg.): Phänomenologie und soziale Wirklichkeit, Opladen: Leske + Budrich 2003, 215-238.
  • Weymann, Ansgar: Sozialer Wandel: Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft, Juventa 1998, ISBN 377991462X, v.a. 35-74 (Kap. 3: Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit)

Einzelnachweise

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  1. Gukenbiehl, l.c. Einleitend definiert Gukenbiehl: "In einer ersten Annäherung kann man Soziologie als Wissenschaft von der sozialen Wirklichkeit bezeichnen. Soziale Wirklichkeit meint dabei jenen Teil der erfahrbaren Wirklichkeit, der sich im Zusammenleben der Menschen ausdrückt oder durch dieses Zusammenleben und Zusammenhandeln hervorgebracht wird." (S. 12) Weitere Präzisierungen folgen ibid. nach.
  2. Vgl. z.B. Denz, Hermann: Grundlagen einer empirischen Soziologie: Der Beitrag des quantitativen Ansatzes, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 2005, ISBN 3825871223, 31ff.
  3. Emile Durkheim:Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1895, 107
  4. Vgl. z.B. René König: Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Hans Aldo Legnaro / Fritz Sack (Hgg.): Materialien zur Kriminalsoziologie, VS Verlag 2005, ISBN 3810033065, 83-100, hier 95; zu Kelsen auch: Winkler, Günther: Rechtstheorie und Erkenntnislehre: Kritische Anmerkungen zum Dilemma von sein und sollen in der reinen Rechtslehre aus geistesgeschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, Springer 1990, ISBN 038782183X.
  5. Stefan Korioth: „Soweit man nicht aus Wien ist“ oder aus Berlin: Die Kelsen/Smend-Kontroverse, in: Stanley L. Paulson, Michael Stolleis (Hgg.): Hans Kelsen: Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Mohr Siebeck 2005, ISBN 3161486196, 318–332, hier 324
  6. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Duncker & Humblot, München 1928, 138
  7. Siehe exemplarisch beispielsweise Pieroth, Bodo (Hg.): Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, Berlin: Duncker & Humblot 2000, ISBN 978-3-428-09932-02000; Hassemer, W. / Hoffmann-Riem, W. / Limbach, J. (Hgg): Grundrechte und soziale Wirklichkeit, Baden-Baden 1982.
  8. Schütz 1971, 68. weitere Literatur; s. insb. Bodenstedt, A.: Idealtypus und soziale Wirklichkeit: A. Schütz und sein Beitrag zur »Verstehenden Soziologie«, in: Soziale Welt 17 (1966), 79-91
  9. Nach W. I. Thomas / D.S. Thomas: The Child in America, New York: Knopf 1928, 572.
  10. Searle: Social Ontology: Some Basic Principles. Weiteres zu Searle
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  • Thomas Schwietring: Soziale Wirklichkeit, Seminarplan und Auswahlbibliographie zu einem an der Uni Kassel im Sommersemester 1998 gehaltenen Seminar

Kategorie:Erkenntnistheorie Kategorie:Sozialwissenschaft Kategorie:Soziologie