Neurocranium des Menschen

Das Neurocranium ist der Teil des Wirbeltierschädels, der die Schädelhöhle bildet und das darin befindliche Gehirn umgibt. Es wird entsprechend vor allem beim kompakten knöchernen Schädel der Landwirbeltiere und damit auch des Menschen häufig als Hirnschädel bezeichnet.

Ontogenese Bearbeiten

Das Neurocranium wird in der Individualentwicklung bzw. Ontogenese aller Wirbeltiere grundsätzlich knorpelig angelegt und bildet so das Chondrocranium. Bei den Knorpelfischen ändert sich dies nicht, bei allen anderen Wirbeltieren wird dieser ursprüngliche Schädel allerdings in der Folge stark ungebaut. Dabei werden die Knorpelstrukturen teilweise wieder abgebaut oder in Ersatzknochen umgebaut und durch diese ersetzt.[1] Bei vielen Wirbeltieren bleiben Teile des knorpeligen Neurocraniums bestehen und können auch noch im Schädel der ausgewachsenen Tiere vorhanden sein, so etwa die äußeren Nasenknorpel bei den Säugetieren einschließlich des Menschen. Bei einzelnen Tiergruppen wird die Verknöcherung auch sekundär unterbunden, sodass diese auch als ausgewachsene Individuen ein knorpeliges Neurocranium besitzen. Beispiele hierfür sind die Störe und die Lungenfische, aber auch einige Amphibien.[1]

Das Neurocranium bildet sich in der frühen Phase der Ontogenese als knorpelige Schale unterhalb des sich entwickelnden Gehirns zusammen mit mindestens einer Abdeckung desselben über dem Austritt des Rückenmarks aus der Wirbelsäule. Im vorderen Bereich verwächst das Neurocranium mit den Nasenkapsels, im hinteren Bereich mit den Ohrkapseln. Die bindegewebige Umhüllung der Augen, die Sklera, verwachsen dagegen nicht mit dem Neurocranium und sind mit diesem nur über Muskulatur verbunden.[2] An der Bildung des Neurocraniums beteiligt sind dadurch das Mesektoderm der Kopfneuralleiste, das paraxiale Kopfmesoderm sowie die Somitomere der Wirbelanlagen.[2]

Bildung des chordalen hinteren Abschnitts Bearbeiten

In der Frühphase entwickelt sich beiderseits der Chorda dorsalis zwei Parachordalknorpel, die zu einer knorpeligen Basalplatte verwachsen und dabei die Chorda unter- und oberseits einschließen. Bei den Rundmäulern (Cyclostomata) verbleibt das Neurocranium in diesem Zustand auch bei den ausgewachsenen Tieren. Bei den meisten Wirbeltieren bildet sich danach eine weitere knorpelige Spange, der Acrochordalknorpel, von der Chordaspitze, dem späteren Vorderende des Gehirns, und bildet so ein dorsales und basicraniales Fenster. Aus der Basalplatte und dem Acrochordalknorpel geht die mittlere Schädelbasis hervor. Zugleich verwachsen am hinteren, caudalen, Ende der Basalplatte mehrere Wirbelanlagen mit dieser und bilden den späteren Hinterhauptsbereich, die Occipitalregion. Vor hier aus wachsen aus den seitlichen Rändern die so genannten Occipitalpfeiler nach dorsal und bilden so einen Knorpelring, der das Myelencephalon umgreift und später mit der Labyrinthkapsel des Innenohres verwächst und zusammen mit Elementen des Mesoderms die Ohrkapsel bildet, die das häutige Labyrinth und die Bogengänge umschliesst. Der Hinterrand des Hinterhaupts bildet mit den vordersten Halswirbeln das Kopfgelenk. Bei den verschiedenen Wirbeltiergruppen dabei können unterschiedlich viele Halswirbel mit dem Hinterhaupt verwachsen. Beim Verwachsen umfassen die angeschlossenen Wirbel die Wurzeln der paarigen Nervi hypoglossi. Durch die Verknöcherung der angewachsenen Wirbelkörper entstehen im Hinterhaupt die Basisoccipitale, Supraoccipitale und die beiden Exoccipitalia als Knochenkerne.[1]

Bildung des prächordalen vorderen Abschnitts Bearbeiten

Vor der chordalen Hirnkapel bilden sich zwei spangenartige Trabekel sowie im vorderen Bereich die Nasenkapseln, die sich beide aus dem Mesektoderm der Neuralleiste bilden. Mit ihren hinteren Abschnitten umfassen die Trabekel die Anlage der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse). Sie werden teilweise als isolierte Polknorpel angelegt. Aus dem sich hier gebildeten Rahmen des Hypophysenfensters, dem Acrochordalknorpel und Teilen der Parachordalia bildet sich die mittlere Schädelbasis, die als Basisphenoid verknöchert. Die vorderen Teile der Trabekel bilden die vordere Schädelbasis, die als Präsphenoid verknöchern, sowie die Nasenkapsel und das Nasenseptum, verknöchert als Siebbein (Ethmoid).[1]

Der hintere Bereich, an dem die Trabekelenden mit den vorderen Bereichen der Parachordalknorpel verwachsen, wird teilweise als homolog zum Intracranialgelenk angesehen, das bei basalen Formen der Osteognathostomata (Wirbeltiere mit knöchernem Skelett) vorhanden ist. Die Schädelbasis verwächst zusätzlich mit mehreren seitlich von dieser angelegten Skelettelementen, die als primäre Schädelöffnungen die bereits existierenden Öffnungen für die Hirnnerven und die Gefäße umwachsen. Aus dem oberen Bereich der Ohrkapsel entwickeln sich weitere Wandelemente des hinteren Schädels, die Lamina parietalis und das Tectum synoticum. Zudem wachsen bei den Tetrapoda hinter den Augenkapseln seitliche und dorsale flügelartige Knorpelwände, die Ala orbitalis und die Ala temporalis, die eine vordere und eine seitliche Schädelwand bilden. Hinzu kommen weitere Fortsätze, die teilweise mit den Trabekeln und der Ohrkapsel verwachsen und Durchtrittsstellen für die Hirnnerven und Gefäße der Augenhöhle frei lassen.[1]

Evolutive Entwicklung Bearbeiten

Das Neurocranium wird nur bei Wirbeltieren ausgebildet und gehört hier zu einem der zentralen neu entwickelten Merkmale (Autapomorphien). Innerhalb der Wirbeltiere ist er dabei innerhalb der verschiedenen Tiergruppen unterschiedlich weit entwickelt.

Neurocranium bei Rundmäulern und Knorpelfischen Bearbeiten

 
Kopf und Kiefer der Neunaugen. Der Schädel der Kieferlosen besteht nur aus ein knorpeligen Endocranium.

Die basalen Rundmäuler (Cyclostomata), zu denen die Neunaugen und die Schleimaale gehören, nur über eine knorpelige Hirnkapsel, die der Basalplatte aus dem chordalen hinteren Abschnitt entspricht. Bei ihnen sind zudem keine weiteren Schädelteile und auch keine Kiefer ausgebildet. Bei den Schleimaalen sind Skelettelemente nur im Kopf ausgebildet, wo das Neurocranium aus einer Basalplatte der Parachordalia unterhalb der Chorda liegt und nach vor hinten die Chordaspitze einhüllt. Sie setzen sich nach vorn in den Trabekeln fort, die im Mittelteil verwachsen sind und vorn bis zur Nasenkapsel reichen. Im Kopfskelett existieren weitere stangenartige Knorpel, die mit dem Neurocranium teilweise verbunden sind. So sind der basale Zungenknorpel und Palatinalknorpel mit dem Gaumenzahn mit seitlichen Elementen fest am Neurocranium befestigt. Ein Subnasalknorpel und ein Hypophysealknorpel liegen unterhalb des Nasen-Gaumengangs und sind mit verzweigten Velarknorpeln unterhalb der Chorda verbunden. Das Nasenrohr selbst wird durch Knorpelspangen verstärkt.[3] Bei den Neunaugen sind dagegen neben dem knorpeligen Neurocranium mehrere Deckknorpel ausgebildet, die als Seitenwände und als dorsales Dach über den Ohrkapseln den Schädel bilden.[4]

 
Bei den Knorpelfischen bilden die knorpeligen Elemente des Endocraniums eine kompakte, einheitliche Knorpelkapsel.

Mit der Bildung der Kiefer der dadurch zusammengefassten Kiefermäuler (Gnathostomata) aus den vorderen Visceral-Kiemenbögen bilden sich auch weitere Teile der vorderen, mittleren und hinteren Schädelbasis und das Hinterhaupt, dass bei den Knorpelfischen (Chondrichthyes) allerdings noch keine weiteren Wirbelkörper einschliesst. Zudem bleibt bei diesen Tieren das Neurocranium wie das gesamte Kopf- und Achsenskelett als Chondrocranium knorpelig, eine Verknöcherung findet nicht noch statt. Der eigentliche Schädel der Knorpelfische besteht nur aus dem Neurocranium und einem frühen Viscerocanium, der vor allem durch die Kiefer gebildet wird. Das Neurocranium bildet den vorderen Bewegungspol und die Verbindung mit der Wirbelsäule ist vergleichsweise starr, eine gelenkige Verbindung ist nur bei Ausnahmen wie den Geigen- und Sägerochen vorhanden.[5]

Das Endocranium der Knorpelfische besteht aus sieben Struktureinheiten mit einem Rostrum, zwei paarig nach vorn geöffneten Nasenkapseln, die über eine Internasalplatte verbunden sind, einem Dach über der Hirnhöhle bis zur hinteren Fossa parietalis, einer Basalplatte als Boden der Hirnhöhe, die von der Internasalplatte bis zum Hinterhaupt reicht, den Augenhöhle (Orbitae) mit einer Leiste oberhalb der Augen und einem Schelf unter den Augen, den beiden Ohrkapseln und dem Hinterhaupt mit dem zentralen Foramen magnum für den Durchtritt des Rückenmarks und den Gelenkflächen zur Wirbelsäule. Das gesamte Endocranium ist dabei verwachsen und bildet eine einheitliche Knorpelkapsel.[5]

Verknöcherung des Schädels Bearbeiten

Mit der Verknöcherung des Skeletts der basaen Osteognathostomata kommt es auch zu einer Verknöcherung des Schädels und damit auch des Neurocraniums, der im weiteren Verlauf mehr und mehr mit dem Viscerocranium und dem aus neu gebildeten Schädeldeckknochen entstehendem Dermatocranium zusammenwächst[6] und so den später kompakten Schädel der Landwirbeltiere bildet. Bei den Strahlenflossern ermöglichen diese Deckknochenelemente eine große Beweglichkeit der Kiefer- und Kopfelemente,[7] das Neurocranium verändert sich jedoch nur leicht durch die Verknöcherung der Elemente und kann bei einzelnen Teilgruppen ein paar Veränderungen entwickeln. So kommt es bei den Knochenhechten zu einer starken Verlängerung der Schädelbasis zusammen mit einer Vermehrung der Schädelelemente vor den Augenhöhlen, die zu einer deutlichen Schnauzen- und Kieferverlängerung führt.[8]

 
Skelett eines Lengdorsches mit Raubfischgebiss, von vorne gesehen. Der Schädel ist in zahlreiche Einzelknochen aufgelöst.

Innerhalb der Schädel der eigentlichen Knochenfische (Teleostei) kommt es zu vielfältigen Umgestaltungen des Schädels, der auch Teile des Endocraniums betreffen kann. Dabei ist die Variabilität der verschiedenen Schädelformen sehr groß. Bei den basalen Knochenfischen liegen die Teile des Neurocraniums und des Viscerocraniums meist noch zentral im Schädel, bei verschiedenen Fischformen lösen sich diese jedoch zu einzelnen shcuppenartigen Knochen auf und vermischen sich mit ehemaligen Deckknochen. Einzelne Elemente können innerhalb der verschiedenen Gruppen auch vollständig fehlen, darunter etwa das Basisphenoid oder das Orbitosphenoid, und es kann zu Neubildungen kommen, die Teile des Neurocraniums einschliessen. Mit der Wirbelsäule ist das Endocranium durch das Basisphenoid gelenkig verbunden.[9]

Eine andere evolutive Richtung wird durch die Lungenfische und ihren Nachfahren eingeschlagen. Hier bildet sich ein kompakter Schädel aus zahlreichen miteinander verbundenen Deckknochen, in deren Zentrum das Endocranium den geschlossenen Hirnschädel bildet und bereits früh in der Ontogenese mit dem Palatoquadratum verwächst (Autosynstylie).[10] Obwohl auch bei den Landwirbeltieren (Tetrapoda) ein einheitliches und konpaktes Neusocranium mit Autosynstylie ausgebildet ist, wird dies nicht als Nachweis für eine direkte Verwandtschaft herangezogen, da basale Tetrapoda ein zweiteiliges Neurocranium besitzen bzw. besassen.[10] Dieses zweiteilige Neurocranium ist auch bei den Quastenflossern vorhanden, bei der ein intercraniales Gelenk die vordere orbito-ethmoidale Region von der hinteren otico-occipitalen trennt. Die Chorda dorsalis reicht bis über dieses Gelenk, die beiden Regionen werden durch einen paarigen basicranialen Muskel verbunden.[11]

Hirnschädel der Landwirbeltiere Bearbeiten

Bei den Landwirbeltieren verändern sich auch zahlreiche Teil des Schädels und damit auch des Neurocranium. Die zahlreichen Deckknochen des Schädeldachs verwachsen zu einzelnen größeren Knochen. Das Neurocranium wird embryonal zweiteilig angelegt, die Naht zwischen den beiden Teilen verwächst allerdings vollständig, womit auch die Beweglichkeit der Hirnkapsel verloren geht. Das Basipterygoidgelenk zwischen dem Palatoquadratum und dem Hirnschädel verstetigt sich und erfährt innerhalb der Landwirbeltiere zahlreiche Abwandlungen, vom Palatoquadratum verknöchern nur das Epipterygoid und und das Quadratum. Weitere Veränderungen innerhalb der Landwirbeltiere betreffen die Ausbildung des Innenohres und des Kiefergelenks.[12]

Bei den Säugetieren bildet sich aus dem primären Kiefergelenk der basaleren Landwirbeltiere ein sekundäres, das aus den beiden Deckknochen Dentale und Squamosum bildet, während sich die Knochen des primären Kiefergelenks verkleinern und die Gehörknöchelchen bilden. Das Neurocranium der Säugetiere besteht in der Regel aus den folgenden acht Knochen:

  • 1 Siebbein (Os ethmoidale)
  • 1 Stirnbein (Os frontale); bei Neugeborenen und kleinen Kindern ist das Stirnbein noch in zwei Teilen angelegt, die durch eine Frontalnaht getrennt sind und während der postnatalen Entwicklung zusammenwachsen.
  • 1 Hinterhauptbein (Os occipitale)
  • 2 Scheitelbeine (Os parietale)
  • 1 Keilbein (Os sphenoidale)
  • 2 Schläfenbeine (Os temporale)

Die jeweils drei Gehörknöchelchen beider Seiten werden dabei meistens nicht zum Neurocranium gezählt. Falls dies doch geschieht, besteht das Neurocranium aus 14 Knochen.

Belege Bearbeiten

  1. a b c d e Alfred Goldschmid: III Kopf: 2.1 Neurocranium. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2015, ISBN 3-8274-0307-3, S. 36–37.
  2. a b Alfred Goldschmid: III Kopf: 2 Kopfskelett (Cranium). In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2015, ISBN 3-8274-0307-3, S. 35.
  3. Gunde Rieger, Wolfgang Maier: Myxinoida, Schleimaale, Inger. In: W. Westheide und R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 178–179.
  4. Wolfgang Maier: Petromyzintida, Neunaugen In: W. Westheide und R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 186.
  5. a b Alfred Goldschmid: Chondrichthyes, Knorpelfische. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 186.
  6. Hans-Peter Schultze: Osteognathostomata. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 225.
  7. Peter Bartsch: Actinopterygii, Strahl(en)flosser. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 226 ff.
  8. Peter Bartsch: Gynglimodi (Lepisosteiformes), Knochenhechte, Kaimanfische. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 236.
  9. Ralf Britz: Teleostei, Knochenfische i.e.S.. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 244–246.
  10. a b Hans-Peter Schultze: Dipnoi, Lungenfische In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 290–291.
  11. Hans-Peter Schultze: Actinistia (Coelacanthimorpha), Hohlstachler In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 298.
  12. Hans-Peter Schultze, Rainer Schoch: Tetrapoda, Landwirbeltiere In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3, S. 305.

Weblinks Bearbeiten