Als Anatolischen Tiger (türkisch Anadolu Kaplanları) bezeichnet man – in Anlehnung an die asiatischen Tigerstaaten[1] (Taiwan, Südkorea, Singapur und Hongkong) – das seit den 1980er und 1990er Jahren registrierte Phänomen des wirtschaftlichen Aufstiegs mehrerer größerer Städte und damit auch der urbanen Globalisierung[2] in den türkischen Provinzen in Zentral- und Ostanatolien.[3] In den 2000er Jahren setzte sich der Begriff durch.[3] Außerdem ist damit das aufstrebende kleine und mittlere[3] Unternehmertum in Provinzhauptstädten wie Konya, Denizli und Kayseri[3] gemeint.

Entwicklung und Erklärungsansätze Bearbeiten

Der marktwirtschaftlich ausgerichtete türkische Ministerpräsident Turgut Özal (ANAP) versuchte in seiner Regierungszeit, von 1983 bis 1989, bestehende oligarchische[2] Strukturen, die mit der etablierten und die Großindustrie vertretenden Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute TÜSİAD mit Schwerpunkt Istanbul und Ankara gewachsen waren, durch mehr Wettbewerb[2] zu reformieren. Dazu wurden in einigen Unternehmen neuere Führungstechniken[2] angewandt, die auch zu einer veränderten Unternehmenskultur[2] führten. Die Konkurrenzorganisation MÜSİAD entstand 1990.[3] Sie wurde anfangs insbesondere durch islamische Parteien wie die Refah Partisi und Fazilet Partisi im Umfeld der Millî-Görüş-Bewegung unterstützt.[3] Später gab es enge Verbindungen mit der konservativen AKP[3] um den derzeitigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Mitte der 1990er Jahre griff die Presse das Phänomen auf. So porträtierte 1996 die konservative türkische Tageszeitung Milliyet in einer Reihe die folgenden Städte als „anatolische Tiger“: Amasya, Çankırı, Çorum, Denizli, Gaziantep, Kahramanmaraş, Kastamonu, Kayseri, Malatya, Niğde, Samsun, Şanlıurfa, Trabzon, Tokat, Uşak und Van.[4]

Im folgenden wissenschaftlichen und medialen Diskurs wurde die Begrifflichkeit ursächlich mit der finanziellen Ressource, dem auch in der Türkei verbreiteten Finanzinstrument „Grünes Kapital“ bzw. „Islamisches Kapital“ in Verbindung gebracht.[5]

2005 wurde in einer Studie der Denkfabrik der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) aus Sarajevo alternativ zum etablierten Begriff von „Islamic Calvinists“ (vgl. Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus) gesprochen.[6] Der Wachstumsstandort Kayseri in Zentralanatolien wurde in dieser Studie unter den fünf Gesichtspunkten Endogenes Wachstum, Neue Unternehmensethik, Bildungsschwerpunkt, pragmatische Lösungen in Bezug auf Finanzierung und Rolle der Frau untersucht.[7]

Der türkische Ökonom Şevket Pamuk versuchte etwas unbestimmt das Phänomen mit der türkischen Rückbesinnung auf osmanische Wirtschafts- und Handelsgrundsätze zu erklären.[1] Andere Soziologen verfolgten einen ähnlichen Ansatz.[1]

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • Amr Adly: State Reform and Development in the Middle East. Turkey and Egypt in the Post-Liberalization Era. Routledge, Abingdon 2013, ISBN 978-0-415-62419-0, S. 192 ff. (Kapitel: Anatolian Tigers' voting performance indicators)
  • OECD (Hrsg.): OECD Economic Surveys. Turkey 2008. OECD, Paris 2008, S. 26 f. (Kapitel: The rise of “Anatolian Tigers” as chultural change)
  • Guy Sorman: Economics Does Not Lie. A Defense of the Free Market in a Time of Crisis. Encounter Books, New York 2009, ISBN 978-1-59403-254-7, S. 250 ff. (Kapitel: The Tigers of Anatolia)

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b c Guy Sorman: Economics Does Not Lie. A Defense of the Free Market in a Time of Crisis. Encounter Books, New York 2009, ISBN 978-1-59403-254-7, S. 250 ff. (Kapitel: The Tigers of Anatolia)
  2. a b c d e M. Hakan Yavuz: Islamic Political Identity in Turkey. Oxford University Press, Oxford u. a. 2003, ISBN 0-19-516-085-1, S. 88.
  3. a b c d e f g Amr Adly: State Reform and Development in the Middle East. Turkey and Egypt in the Post-Liberalization Era. Routledge, Abingdon 2013, ISBN 978-0-415-62419-0, S. 192 ff. (Kapitel: Anatolian Tigers' voting performance indicators)
  4. Andreas Goldberg, Dirk Halm, Faruk Şen: Die deutschen Türken. Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-8232-2, S. 37. (Kapitel: Islamische Calvinisten – Umbruch und Konservatismus in Zentralanatolien)
  5. Işık Özel: Political Islam and Islamic Capital. The Case of Turkey. In: Jeffrey Haynes (Hrsg.): Religion and Politics in Europe, the Middle East and North Africa. Routledge, Abingdon u. a. 2010, ISBN 978-0-415-47713-0, S. 146.
  6. Chris Rumford: Cosmopolitan Spaces. Europe, Globalization, Theory. Routledge, New York 2008, ISBN 978-0-415-39067-5, S. 122.
  7. OECD (Hrsg.): OECD Economic Surveys. Turkey 2008. OECD, Paris 2008, S. 26 f. (Kapitel: The rise of “Anatolian Tigers” as chultural change)