Warschauer Robinsons

Spitzname für Personen am Ende des 2. Weltkrieges

Die Warschauer Robinsons (polnisch Robinsonowie warszawscy) war der Spitzname für Personen, die nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes (1. August – 3. Oktober 1944) in der Hauptstadt bleiben wollten und sich vor den Deutschen in den Ruinen versteckten. Nicht selten blieben sie bis zum Einmarsch der Truppen der Roten Armee und der Polnischen Volksarmee am 17. Januar 1945 in Folge der „Warschauer Operation“ in Warschau. Der berühmteste unter den „Robinsons“ war Władysław Szpilman.

Ruinen von Warschau im Januar 1945.

Ursprung Bearbeiten

Der Begriff „Warschauer Robinson“ erscheint zum ersten Mal vor dem Zweiten Weltkrieg in einem Science-Fiction-Roman von Antoni Słonimski „Dwa końce świata“ (deutsch: „Zweimal Weltuntergang“) von 1937.

 
Die Gedenktafel an die vier „Warschauer Robinsons“, die 2015 an der Marszałkowska-Straße 21/25 enthüllt wurde.

Der Roman erzählt die Geschichte der gesamten Menschheit, die durch die von Hans Retlich ausgestrahlten „blauen Strahlen des Todes“ zerstört wurde. Hans Retlich ist ein Verrückter, der das politische Programm Adolf Hitlers für zu wenig radikal hält („Retlich“ ist ein ungenaues Anagramm des Namens Hitler). Zufällig überlebt den Angriff von Retlich in Warschau ein Buchhändler, Henryk Szwalba. Im Titel des vierten Kapitels nennt ihn der Autor „Warschauer Robinson“, und die Handlung des Romans bezieht sich mehrmals auf den Roman „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe. Zum Beispiel findet Szwalba im verlassenen Warschau seinen „Freitag“, einen Mann namens Chomiak, der Alkoholiker ist und im stilisierten Warschauer Dialekt spricht, im sog. „wiech“ (auf Polnisch).

„Evakuierung“ von Warschau Bearbeiten

Aufgrund des am 2. Oktober 1944 unterzeichneten „Abkommens über die Einstellung der Kriegshandlungen in Warschau“ sollten alle in Warschau verbliebenen Zivilisten zusammen mit den kapitulierenden Einheiten der polnischen Heimatarmee (pol. Armia Krajowa, kurz AK) die Stadt verlassen. Die meisten überlebenden Bewohner verließen die Hauptstadt in den ersten zehn Tagen des Oktobers. Nach einem kurzen Aufenthalt im Durchgangslager in Pruszków wurden die meisten von ihnen zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt oder in die westlichen Bezirke des Generalgouvernements vertrieben. Am 24. Oktober 1944 endete die Evakuierung von Verletzten und Kranken aus den aufständischen Krankenhäusern. Am selben Tag wurden die bis dahin in Warschau verbliebenen Haupt- und Bezirksverwaltung des Polnischen Roten Kreuzes nach Radom evakuiert.[1] Am 25. Oktober trat ein Beschluss in Kraft, der den Zivilisten in Warschau zu bleiben verbot.[2] Ab dieser Zeit war Warschau eine militärische Zone (Festung Warschau). Gleichzeitig begannen die deutschen Einheiten, die polnische Hauptstadt systematisch zu plündern und zu zerstören.

In der verlassenen und zerstörten Stadt versteckten sich immer noch Menschen, die Warschau nicht verlassen wollten. Diese Menschen wurden „Warschauer Robinsons“ genannt (in Bezug auf den Roman von Antoni Słonimski und den berühmten „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe). Heute ist es schwierig, die genaue Anzahl der Personen zu bestimmen. Laut Jadwiga Marczak gab es etwa 400 von ihnen, während Stanisław Kopf ihre Anzahl um 1000 schätzte.[1] Zu den „Robinsons“ gehörten sowohl Männer als auch Frauen. Es gab auch ältere Menschen, hingegen wurden keine Informationen gefunden, die darauf hindeuteten, dass sich in den Ruinen auch Kinder versteckten (Jugendliche nicht mitgerechnet).[3]

Es gab verschiedene Gründe, warum „Robinsons“ in Warschau bleiben wollten. Unter anderem gab es Personen, die die Massenhinrichtungen, die in den ersten Wochen des Aufstandes von Soldaten unter der Anführung von Reinefarth und Dirlewanger durchgeführt wurden, überlebten und sich später in den Ruinen versteckten. Diese Menschen blieben von der Welt abgeschnitten und wussten oft lange nicht, dass der Aufstand vorbei war. In Warschau blieb auch eine relativ große Gruppe von Menschen jüdischer Herkunft und einige Aufständische, die den deutschen Zusicherungen über die Behandlung der Gefangenen gemäß der Haager Konvention nicht glaubten. Einige Kranke und Alte blieben ebenfalls in der Stadt, weil sie keine Kraft und Mut hatten, um sich auf die Wanderung einzulassen. Darüber hinaus versteckten sich in den Ruinen auch Menschen, die gegen die Deutschen weiterkämpfen wollten. Für jüngere „Robinsons“ konnte auch ein Gefühl des Abenteuers eine Rolle spielen.[3][4]

Die „Robinsons“ versteckten sich meistens in Kellern oder Dachböden der verlassenen Gebäude. Gewöhnlich versuchten sie, sich in den am meisten zerstörten Gebäuden zu verstecken, denen keine Brandlegung oder Sprengung von deutschen Kräften drohte. Die Keller dieser Gebäude wurden in echte, versteckte Bunker mit Luftzufuhr und einigen Eingängen umgebaut. Manchmal wurde ein Durchgang in Nachbarkeller geschaffen und so die unterirdische Kommunikation sichergestellt. In den Ruinen versteckten sich sowohl einzelne Personen als auch Gruppen. Die größte Gruppe von 37 Flüchtlingen versteckte sich im Keller des Hauses in der Sienna-Straße.[3] Die „Robinsons“ fanden sich in allen Bezirken Warschaus, obwohl sie sich meistens in Śródmieście, dann in Żoliborz und Ochota versteckten.[3]

Lebensbedingungen Bearbeiten

Die Lebensbedingungen der „Robinsons“ waren extrem schwierig. Besonders schwer war es Wasser und Nahrung in der zerstörten Stadt zu finden. Bei jedem Schritt mussten die Flüchtlingen auf ihre Spuren, ihre Geräusche und ihre Gerüche (z. B. Rauch aus der Feuerstelle) achten, um die Deutschen nicht auf ihr Versteck aufmerksam zu machen. Aus diesem Grund verließen die „Robinsons“ ihren Unterschlupf nur dann, wenn es wirklich notwendig war. Einige der Flüchtlinge wurden mehr oder weniger schwer verletzt. Dazu kamen auch psychologische Probleme, die sich aufgrund der Gefangenschaft und Einsamkeit einstellten,[5] oder die sich wegen des ständigen Zusammenseins in derselben kleinen Gruppe von Menschen bildeten. Einer der Versteckten erinnerte sich an dieser Zeit:

„Im Winter haben wir den Raum mit einem Eisenofen beheizt. Wir hatten genug Brennstoff, aber die Deutschen konnten den Rauch bemerken, deswegen war es möglich, nur nachtsüber zu heizen. Während des Tages haben wir gewöhnlich geschlafen. Wenn es dunkel war, begann das Leben bei uns.“[4]

Die „Robinsons“ versuchten (außer vereinzelte Fälle) den Kontakt mit den Deutschen zu vermeiden. Diese betrachteten die Versteckten jedoch als echte Bedrohung in ihrem Rücken und behandelten sie als „bolschewistische Agenten“. Am 18. Oktober 1944 erteilte General Smilo von Lüttwitz, Kommandeur der 9. deutschen Armee im Warschauer Distrikt, einen Befehl an die ihm unterstellten Einheiten: „In den Ruinen von Warschau gibt es noch heimtückische Polen, die den Rücken der deutschen Armee bedrohen könnten. Die Elemente, die sich in den Ruinen und Kellern der Häuser verstecken, sind eine ständige Gefahr für den Rücken der Kampfeinheiten.“ Drei Polizeiregimenter – 34, 17 und 23 – erhielten den Auftrag, eine große Razzia durchzuführen, die zum Zweck hatte, die Stadt vollständig „zu säubern“.[6] Die Situation am 15. November 1944 war eine Ausnahme, als die infolge einer großen Razzia gefangen genommenen Flüchtlinge ins Lager in Pruszków gebracht wurden.[7]

Die Schicksale der „Robinsons“ gestalteten sich unterschiedlich. Einige Personen informierten die anderen außerhalb der Stadt über ihren Standort und konnten dann mit Hilfe der Polen, die bei den Deutschen beim Abtransport von wertvollen Gegenständen und Material aus der Stadt arbeiteten oder dank der Hilfe der Mitarbeiter des Hauptrates der Wohlfahrt und des Polnischen Roten Kreuzes aus der Stadt entkommen. Andere wurden von den Deutschen gefunden und ermordet. Ein Teil der „Robinsons“ versteckte sich bis zur Befreiung Warschaus durch die Truppen der Roten Armee und der Polnischen Volksarmee im Januar 1945.[1]

Der berühmteste der „Warschauer Robinsons“ war Władysław Szpilman. Für einige Wochen versteckten sich in den Ruinen der Stadt auch Marek Edelman und der Publizist und Chronist des Warschauer Aufstandes, Wacław Gluth-Nowowiejski.

Der Film Bearbeiten

Auf der Basis der Memoiren von Władysław Szpilman entstand ein Drehbuch von Czesław Miłosz und Jerzy Andrzejewski. Es wurde weitgehend überarbeitet in Übereinstimmung mit der kommunistischen Propaganda und auf seiner Grundlage wurde der Film „Miasto nieujarzmione“ (deutsch: Unbesiegte Stadt) gedreht.

Erinnerung Bearbeiten

Am 2. Oktober 2015 wurde an der Wand des Gebäudes in der Marszałkowska-Straße 21/25 eine Gedenktafel zur Erinnerung an die vier Warschauer Robinsons enthüllt: Antoni (Dudek) Czarkowski, Jan Łatwiński, Zdzisław Michalik und Władysław Tymiński, die sich in die Ruinen des Mietshauses an der Ecke der Marszałkowska-Straße und Oleandrów-Straße versteckten.[8]

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b c Berezowska, Małgorzata., Borecka, Emilia., Kazimierski, Józef., Muzeum Historyczne m. st. Warszawy., Archiwum Państwowe m. st. Warszawy.: Exodus Warszawy : ludzie i miasto po Powstaniu 1944. Wyd. 1 Auflage. Państwowy Instytut Wydawniczy, Warszawa 1992, ISBN 83-06-01589-4.
  2. Stanisław Kopf: Wyrok na miasto. Warszawskie Termopile 1944–1945. Warszawa: Wydawnictwo Askon, 2001, S. 17.
  3. a b c d Dunin-Wąsowicz, Krzysztof.: Warszawa w latach 1939–1945. Wyd. 1 Auflage. Państwowe Wydawn. Nauk, Warszawa 1984, ISBN 83-01-04207-9.
  4. a b Stanisław Kopf: Wyrok na miasto. Warszawskie Termopile 1944–1945, op.cit. S. 68.
  5. Wacław Gluth-Nowowiejski: Stolica Jaskiń (Memento des Originals vom 5. März 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.zwoje-scrolls.com. Plus-Minus, Rzeczpospolita, 14 września 2002.
  6. Stanisław Kopf: Wyrok na miasto. Warszawskie Termopile 1944–1945, op.cit. S. 67.
  7. Stanisław Kopf: Wyrok na miasto. Warszawskie Termopile 1944–1945, op.cit. S. 30.
  8. Robinsonowie warszawscy. In: Stolica. S. 10, Januar – Februar 2016.

Literatur Bearbeiten

  • Krzysztof Dunin-Wąsowicz: Warszawa w latach 1939–1945. Warszawa: Państwowe Wydawnictwo Naukowe, 1984. ISBN 83-01-04207-9.
  • Wacław Gluth-Nowowiejski: Stolica Jaskiń. Plus-Minus, Rzeczpospolita, 14 września 2002.
  • Stanisław Kopf: Wyrok na miasto. Warszawskie Termopile 1944–1945. Warszawa: Wydawnictwo Askon, 2001.
  • Exodus Warszawy. Ludzie i miasto po Powstaniu 1944. T. I: Pamiętniki, relacje. Warszawa: Państwowy Instytut Wydawniczy, 1992. ISBN 83-06-01589-4.