Als Viskoelastizität bezeichnet man ein teilweise elastisches, teilweise viskoses Materialverhalten. Viskoelastische Stoffe vereinigen also Merkmale von Festkörpern und Flüssigkeiten in sich. Der Effekt ist zeit-, temperatur- und frequenzabhängig und tritt bei polymeren Schmelzen und Festkörpern wie z. B. Kunststoffen, aber auch bei anderen Materialien auf.

Materialverhalten

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Kelvin-Körper
 
Maxwell-Körper
  • Der elastische Anteil bewirkt grundsätzlich eine spontane, begrenzte, reversible Verformung,
  • während der viskose Anteil grundsätzlich eine zeitabhängige, unbegrenzte, irreversible Verformung bewirkt.

Viskoser und elastischer Anteil sind bei verschiedenen viskoelastischen Materialien jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt, auch die Art des Zusammenwirkens differiert.

In der Rheologie wird elastisches Verhalten durch eine Feder, das Hooke-Element, und viskoses Verhalten durch einen Dämpfungszylinder, das Newton-Element, dargestellt. Viskoelastisches Verhalten kann durch die Kombination zweier oder mehrerer dieser Elemente modelliert werden.

Die einfachsten viskoelastischen Modelle sind:

  • der Kelvin-Körper. Bei ihm sind Feder und Dämpfungszylinder parallel geschaltet. Bei Belastung, z. B. durch Dehnung, wird die Verformung durch den Dämpfungszylinder gebremst und durch die Feder in ihrem Ausmaß begrenzt. Nach einer Entlastung geht der Körper bedingt durch das Hooke-Element wieder in seine Ausgangsposition zurück. Der Kelvin-Körper verformt sich also zeitabhängig wie eine Flüssigkeit, aber begrenzt und reversibel wie ein Festkörper.
  • der Maxwell-Körper. Er ergibt sich aus der Reihenschaltung von Hooke- und Newton-Element. Bei Belastung verformt sich die Feder sofort, danach beginnt die zeitabhängige und unbegrenzte viskose Verformung. Nach Entlastung bewegt sich nur die Feder zurück, der viskose Anteil bleibt bestehen. Es liegt also eine zeitabhängige, unbegrenzte, irreversible Verformung wie bei einer Flüssigkeit vor, allerdings gibt es auch einen zeitunabhängigen und reversiblen spontanelastischen Anteil wie bei einem Festkörper.

Komplexere Modelle viskoelastischen Verhaltens sind das Zenerm-, Zenerk-, Lethersich-, Jeffreys- und Burgers-Modell.

Zur quantitativen Beschreibung dienen außerdem der komplexe Schubmodul und der komplexe Elastizitätsmodul.

Lineare Viskoelastizität

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In der Theorie lineraer Viskoelastizität besteht ein linearer Zusammenhang zwischen der Spannung   und der Dehnung   bzw. der Dehnungsrate  , welcher über ein Volterra Integralgleichung dargestellt werden kann:

 

mit der zeitabhängigen Federkonstante  , welche üblicherweise mit der Zeit abnimmt, um eine Relaxation im Material darzustellen. Die zweite Darstellung folgt hierbei aus der ersten mittels partieller Integration.

Diese Relation kann auch umgekehrt werden mittels

 ,

mit der Kriechfunktion (engl. creep function)  .

Spezialfälle

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Viele Materialmodelle erhält man für spezielle Formen der Funktion  :

Elastische Körper

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Für   als zeitunabhängige Federkonstante erhält man (mittels Hauptsatz der Differential- und Integralrechung) aus der obigen Formel das (eindimensionale) Hooksche Gesetz

 

Newtonsche Flüssigkeit

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Für   mit der Delta-Distribution   erhält man die Gleichung

 

für eine (eindimensionale) Newtonsche Flüssigkeit mit Viskosität  .

Kelvin-Körper

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Den Kelvin-Körper erhält man aus einer additiven Kombination aus Hookeschem Gesetz und Newtonscher Flüssigkeit. So erhält man für  

 

als Spannung für einen Kelvin-Körper, welchen man aus Parallelschaltung einer Feder   mit einem Dämpfungszylinder   erhält.

Maxwell-Körper

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Nimmt die Federkonstante exponentiell ab gemäß

 

erhält man

 

für die Spannung und durch Ableiten die Differentialgleichung

 

oder äquivalent

 

mit der Viskosität  . Integriert man die letzte Gleichung über die Zeit unter der Annahme   erhält man

 

was der Reihenschaltung einer Hookschen Feder mit   und eines Dämpfungszylinders mit   mit Viskosität   entspricht, also einem Maxwell-Körper. Verglichen mit der obigen Darstellung erhält man außerdem

 

Zenerm-Modell

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Fügt man zum Maxwell-Modell noch eine weitere Federkonstante   hinzu mittels

 

erhält man das Zenerm-Modell, welches aus einer Feder   besteht, welches parallel geschaltet ist zu einem Maxwell-Element bestehend aus der Feder   und einem Dämpfungszylinder mit Viskosität  . Entsprechend bleibt für   bei konstanter Dehnung  die Spannung   erhalten. Für   entspricht   der Federkonstante.

Allgemein erhält man die Spannung

 

und durch Ableiten dieser Gleichung nach der Zeit

 

Durch einfach Umformungen erhält man die Differentialgleichung

 ,

welche nach   oder   gelöst werden kann, falls man die andere Größe kennt. Unter der Annahme   erhält man durch Lösen

 

mit  . Hieraus folgt unmittelbar

 

Prony-Reihe

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Als Verallgemeinerung das Zenerm-Modell wird oft die Prony-Reihe mit

 

verwendet, welche der Parallelschaltung einer Hookschen Feder   und   verschiedenen Maxwell-Elementen jeweils mit Federkonstante   und Viskosität   für   entsprechen. Die verschiedenen Abfallzeiten   können als unterschiedlich schnelle Relaxationsvorgänge im Material betrachtet werden.   stellt wiederum die Federkonstante für sehr große Zeiten ( ) dar, während man für  

 

als Federkonstante erhält. Offensichtlich erhält man für   oder für   das Zenerm-Modell. Im Gegensatz zu den vorherigen Modellen gibt es keine einfache Differentialgleichung, die   und   miteinander verknüpft und auch die Berechnung von   ist deutlich komplexer.

Komplexes Schubmodul

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In der Rheologie wird oft nicht das zeitabhängige Schubmodul  , welches analog zu   definiert ist als

 

wobei   die Scherdeformation und   die Scherspannung ist, betrachtet, sondern das komplexe Schubmodul

 

als Funktion der (Kreis-)Frequenz  , welche z. B. in einem Scherrheometer eingestellt werden kann. Den Realteil   bezeichnet man hierbei als Speichermodul und ist proportional zum elastischen Schubmodul   und der als Verlustmodul bezeichnete Imaginärteil   entspricht dem Produkt   aus der Frequenz   und der Viskosität  . Während man einfach   für einen Kelvin-Körper erhält, weisen komplexe Materialien eine deutlich kompliziertere Frequenzabhängigkeit auf.

Zusammenhang zwischen   und  

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Das komplexe, frequenzabhängigen Schubmodul   ist mit dem (zeitlich relaxierendem) Schubmodul G(t) verknüpft über die Laplace-Transformation. Seien hierzu  ,   und   die Laplace-Transformationen von  ,   und  , dann gilt

 

wobei die Eigenschaften der Laplace-Transformation (Faltungstheorem, Laplace-Transformation der Ableitung) verwendet wurden. Setzt man   und definiert  ,   als frequenzabhängige Schubspannung und Scherdeformation, ist

 

definitionsgemäß das komplexe Schubmodul. Diese Gleichung verknüpft schließlich   mit   über dessen Laplace-Transformation.

Zusammenhang zwischen   und  

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Analog erhält man

 

aus der Laplace-Transformation der Gleichung

 

und somit

 

bzw.

 .

Damit sich   mithilfe der inversen Laplace-Transformation   aus   bzw. dessen Laplace-Transformierten   berechnen. Die Umkehrung gilt ebenso, falls   und   bekannt sind. Jedoch ist es praktisch in den meisten Fällen sehr schwierig die inverse Laplace-Transformation zu berechnen.

Übergang zwischen viskosem und festem Stoffverhalten

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Alle Flüssigkeiten und Feststoffe können wie viskoelastische Materialien betrachtet werden, indem ihr Speicher- und Verlustmodul,   und  , bzw. ihr Verlustfaktor   angegeben werden.

Bei ideal-viskosen Flüssigkeiten (newtonsches Fluid) ist der Speichermodul sehr klein gegenüber dem Verlustmodul, bei ideal-elastischen Festkörpern dagegen, die dem hookeschen Gesetz gehorchen, ist der Verlustmodul sehr klein gegenüber dem Speichermodul.

Viskoelastische Materialien weisen sowohl einen messbaren Speichermodul als auch einen messbaren Verlustmodul auf. Falls der Speichermodul größer ist als der Verlustmodul, spricht man von Feststoffen, andernfalls von Flüssigkeiten.

Flüssigkeiten Sol-Gel-Übergang Feststoffe
Materialverhalten ideal-viskos viskoelastisch ideal-elastisch
Speicher- und Verlustmodul          
Verlustfaktor          
Stoffgesetz      

In der letzten Zeile bedeuten   die Scherspannung,   die Scherung und   ihre zeitliche Änderung (siehe Skizze unter komplexer Schubmodul). Die Viskosität   hängt mit dem Imaginärteil   und der Elastizitätsmodul   mit dem Realteil   des komplexen Schubmoduls zusammen.

Ursachen

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Bei Polymeren

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Die Viskoelastizität von Polymeren beruht auf einer verzögerten Gleichgewichtseinstellung der Makromoleküle zueinander bei oder nach mechanischer Belastung. Der Anteil der jeweiligen Dehnungskomponenten an der Gesamtdehnung wird bestimmt durch Sekundärbindungen (Dipol-, Wasserstoffbrücken- sowie Van-der-Waals-Bindung) und Molekülverhakungen. Die zeitabhängige Dehnungskomponente wird bestimmt durch Streck-, Entknäuelungs- und Entschlaufungsvorgänge.

Das reversible elastische Verhalten wird durch die Entropie-Elastizität bedingt. Je nach Temperatur, Beanspruchungsdauer und -geschwindigkeit kommt es zu irreversiblen viskosen Molekülabgleitungen.

Bei Metallen und Keramiken

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In kristallinen Festkörpern wie Metallen oder Keramiken sind überwiegend Defekte wie Zwischengitteratome oder Versetzungen für eine verzögerte Dehnung und damit für viskoelastisches Verhalten verantwortlich. Meist sind die Abweichungen von der idealen Elastizität hier deutlich kleiner als bei Kunststoffen.

Viskoelastische Experimente

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  • Der Oszillationsversuch: Messung von Spannung und Dehnung bei sinusförmiger Belastung.
  • Der Kriechversuch (Retardation): Messung der zeitlich veränderlichen Dehnung bei konstanter Spannung.
  • Die Spannungsrelaxation: Messung der zeitlich veränderlichen Spannung bei / nach sprunghafter Dehnung.

Siehe auch

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Literatur

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  • Eintrag zu Viskoelastizität. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 7. Dezember 2011.
  • M.S. Blanter, I.S. Golovin, H. Neuhäuser, H.-R. Sinning: Internal friction in metallic materials: a handbook. 1. Auflage. Springer, 2007, ISBN 978-3-540-68757-3.