Bagatellisierung

Tendenz zur Verharmlosung, Untertreibung oder Herunterspielen von Tatsachen
(Weitergeleitet von Verharmlosung)

Als Bagatellisierung wird in der Psychologie die Tendenz zur Verharmlosung, Untertreibung oder zum Herunterspielen von Tatsachen oder Empfindungen bezeichnet. Die Bagatellisierung ist Teil einer psychologischen Abwehr, taucht aber in der psychologischen Literatur nicht als eigener Abwehrmechanismus auf.

Wortbedeutung, Erwähnung Bearbeiten

Das Wort leitet sich von dem romanischen Wortstamm Bagatelle für unbedeutende, geringfügige Angelegenheit, Kleinigkeit ab, wie es sich auch in den deutschsprachigen juristischen Begriffen des Bagatelldelikts und der Bagatellgrenze niedergeschlagen hat.

In der deutschsprachigen zusammenfassenden psychologisch-medizinischen Fachliteratur (Lexika, Registerbände) taucht der Begriff nur bei Stangl[1], Dorsch[2] und Uexküll[3] sowie in dem populärwissenschaftlichen Online-Lexikon DocCheck Flexikon[4] auf, während er in der Auflistung der Abwehrmechanismen nicht gesondert benannt wird. Gebräuchlich ist er als deskriptiver Begriff dennoch sowohl im klinischen Bereich als auch in der Testpsychologie und im gesellschaftlichen Kontext.

Klinische Psychologie Bearbeiten

Im psychologischen Kontext dient die Bagatellisierung der Angstabwehr und der Vermeidung von Unlust bzw. Kognitiver Dissonanz in Überforderungsituationen. Dorsch beschreibt die Bagatellisierung im klinischen Bereich als Strategie z. B. bei bipolaren Störungen als die Neigung, insbesondere die Symptome der manischen Phase herunterzuspielen, sowie beim Stockholm-Syndrom und bei Essstörungen.[2]

Im Zusammenhang mit koronaren Herzerkrankungen kann es sowohl in frühen Krankheitsphasen als auch im Zusammenhang mit der psychischen Verarbeitung eines überstandenen Herzinfarktes zur Bagatellisierung des lebensbedrohlich traumatischen Erlebens des Infarktes und den damit einhergehenden Themen und Affekten kommen. Die Bagatellisierung kann im Gegenüber Distanz als typische Gegenübertragungsreaktion auslösen. auslösen und es besteht die Gefahr, dass die psychischen Folgen des Infarktes im Rahmen der Akut- und Rehabilitationsbehandlung und auch in der Langzeitbetreuung unerkannt bleiben und eine notwendige psychotherapeutische Hilfe dadurch nicht empfohlen oder nicht in Anspruch genommen wird.[5][6]

Bei Suchterkrankungen sind Bagatellisierung und Verleugnung der Schwere der Problematik oft Teil einer Selbst- und Fremdtäuschung. Dies wird sowohl im Zusammenhang mit Substanzmissbrauch, insbesondere dem gesellschaftlich weniger tabuisierten Alkoholkonsum, als auch bei Essstörungen beschrieben. Die Bagatellisierung steht im Zusammenhang mit der mangelnden Krankheitseinsicht und dient sowohl der Erhaltung des Suchtverhaltens und der Vermeidung, sich einer Behandlung zu unterziehen, als auch der Abwehr von Scham und gesellschaftlicher Stigmatisierung.[7][8][9]

Testpsychologie Bearbeiten

In der Testpsychologie bezeichnet Bagatellisierung eine Antworttendenz in Befragungen sowie psychologischen Tests im Sinne der Sozialen Erwünschtheit. Sie führt zum Weglassen oder Untertreiben von (in der Gesellschaft) schlecht bewerteten Sachverhalten. Die gegensätzliche Bestrebung, das Übertreiben (schlecht bewerteter Sachverhalte), wird auch als Aggravation bezeichnet.[10]

Insbesondere dann, wenn das Ergebnis des Tests für den Getesteten rechtliche Folgen hat, spielt die Verfälschung der Testergebnisse durch Bagatellisierung eine bedeutsame Rolle und ist in der Konstruktion des Test zu berücksichtigen. Ein Beispiel dafür ist der Test zur Erfassung verkehrsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale (TVP), mit dem im Rahmen einer Prüfung auf Fahreignung die persönlichkeitsspezifische Eignung eines Autofahrers zur Teilnahme am Straßenverkehr erfasst wird.[11]

Gesellschaftlicher Kontext Bearbeiten

Im Zusammenhang mit Gewalt in Familien gehört die Bagatellisierung zu den Mechanismen, die dazu beitragen, die gewaltsamen Verhältnisse zu erhalten und ein Eingreifen von Außen zu verhindern. Sowohl Täter als auch Opfer, weitere Familienmitglieder oder die Umgebung (Nachbarn, Schule) können zur Bagatellisierung neigen.[12][13] Ebenso kann Bagatellisierung zum Erhalt grenzverletzenden Verhaltens oder sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz, im Vereinsleben oder kirchlichen Zusammenhang beitragen und den Betroffenen die notwendige Unterstützung vorenthalten.[14]

In Kombination mit Rationalisierung, Euphemismus gehört die Bagatellisierung zu den Mechanismen, die im Kontext von Krieg und Flucht dazu beitragen, eigene Schuld als Täter zu leugnen oder vor dem eigenen Gewissen wie vor anderen in ihrer Bedeutung zu minimieren. Hinzu können die Diffusion der Verantwortung für das eigene Handeln kommen sowie die Herabwürdigung, Dehumanisierung und Dämonisierung der Opfer (Täter-Opfer-Umkehr).[15] Diese Mechanismen können auch die Verarbeitung in den nächsten Generationen betreffen und in der Transgenerationalen Weitergabe erneut auftauchen.[16]

Weitere Themenfelder, in denen Bagatellisierung als einer der Mechanismen zur Abwehr von Angst oder Verantwortung beschrieben wurde, sind die Auseinandersetzung mit der Klimakrise[17] und die Corona-Krise[18]

Weblinks Bearbeiten

Wiktionary: bagatellisieren – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Bagatellisierung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: verharmlosen – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Werner Stangl: Stichwort: Bagatellisierung Lexikon für Psychologie und Pädagogik@1@2Vorlage:Toter Link/lexikon.stangl.eu (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Oktober 2022. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Abgerufen am 11. November 2021.
  2. a b Stichworte Bagatellisierung, Essstörung, Bipolare Störung in Dorsch: Lexikon der Psychologie online-Version. Abgerufen am 11. November 2021.
  3. Thure von Uexküll: Psychosomatische Medizin. 3- neubearbeitete und erweiterte Auflage, Urban & Schwarzenberg, München 1986, S. 1326.
  4. Bagatellisierung bei DocCheck Flexikon. Abgerufen am 11. November 2021.
  5. Thure von Uexküll: Psychosomatische Medizin. 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage, Urban & Schwarzenberg, München 1986, S. 680.
  6. J. Jordan, B. Bardé: Posttraumatische Belastungsstörungen nach einem akuten Herzinfarkt. Psychotherapeut 50, 33–42 (2005). doi:10.1007/s00278-004-0378-x.
  7. Alkoholsüchtige bagatellisierung ihre Erkrankung bei Neurologen und Psychiater im Netz. Abgerufen am 11. November 2021.
  8. Ingo Schäfer, Nena Kerkow, Martina Stubenvoll: Patienten mit Suchtproblemen. In: Hans-Wolfgang Hoefert, Martin Härter (Hrsg.) Schwierige Patienten. Huber-Verlag, Bern 2013, S. 231–240.
  9. Michael Klein: Suchterkrankungen: Medizinisch-psychologische Grundlagen der Entstehung. Veröffentlicht 2021 bei Addiction. Das Portal zum Thema Sucht und Suchterkrankungen. Abgerufen am 11. November 2021.
  10. A. Beauducel, A. Leue: Psychologische DiagnostikHogrefe Verlag, 2014
  11. U. Ewert: (2004). Test zur Erfassung verkehrsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale (TVP). (Review) Zeitschrift für Verkehrssicherheit, 50 (4), 2004, 208-20
  12. Diagnose Gewalt: Erkennen, Benennen, Informieren. Auf: Diagnose Gewalt. Abgerufen am 12. November 2021.
  13. Jan Gysi: Fünf Konzepte zur Veranschaulichung komplexer Dynamiken bei sexualisierter Gewalt. In: Jan Gysi, Peter Rüegger: Handbuch sexualisierte Gewalt. Therapie, Prävention und Strafverfolgung. Hogrefe, Bern 2018: S. 75–94.
  14. Unterstützung für Betroffene statt Bagatellisierung. Mediana Gruppe. Abgerufen am 12. November 2021.
  15. Sladjana Kosijer-Kappenberg: Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018.
  16. Mirjam Liepmann: Deutschland, bleiche Mutter. Versuch einer Annäherung an die Kriegseltern-Generation. In: Psychoanalyse im Widerspruch. 2014, 52, S. 121–139.
  17. Lea Dohm, Peter Felix, Bianca Rodenstein: Wenn Warnungen ungehört verhallen. In: Report Psychologie. 2020, 45(2): 2–5. Abgerufen am 12. November 2021-
  18. Peter Dott: Angst und Regression in der Zeit des Coronavirus. In: Psychoanalytische Familientherapie. 2020 21(1): S. 97–116. DOI:10.30820/1616-8836-2020-1-97.