Die Martiner Deklaration, auch 'Deklaration des slowakischen Volkes' genannt, war ein am 30. Oktober 1918 in St. Martin in der Turz (sl. Turčiansky Svätý Martin)[1] erstelltes Dokument, welches den Beitritt der Slowakei in einen gemeinsamen Staat mit den Tschechen seine Zustimmung gab.

Das Gebäude der Tatra Bank, in welchem die 'Deklaration' unterzeichnet wurde.

Historischer Rückblick Bearbeiten

Am 26. September 1918 wurde in Paris die erste provisorische Regierung[2] der Tschecho-Slowakischen Republik gebildet. Am 28. Oktober 1918 – sechs Tage vor dem Waffenstillstand – kam es zum Umsturz. Der Tschechoslowakischer Nationalausschuss[3] – gestützt auf die Vorbereitungen der tschechischen Exilpolitiker Tomáš Garigue Masaryk und Edvard Beneš – rief, unter dem Eindruck der Ereignisse des Zusammenbruchs der Donaumonarchie am 28. Oktober 1918 die Tschecho-Slowakische Republik (Č-SR) unter Einbeziehung der Slowakei aus.[4] Als Grundlage der Proklamation diente, das von diesem Ausschuss erlassene Gesetz über die Errichtung des selbstständigen tschechoslowakischen Staates (sl. „Prvý zákon a manifestačné vyhlásenie o vzniku samostatného československého štátu“). Von slowakischer Seite wurde dieses Gesetz durch Vavro Šrobár unterzeichnet.

Die Zustimmung zum Beitritt der Slowakei in dem gemeinsamen Staat mit den Tschechen erfolgte jedoch erst zwei Tage später und zwar am 30. Oktober 1918 in St. Martin in der Turz. Hier versammelten sich im Gebäude der Tatra Bank 101 selbsternannte slowakische Volksvertreter – die sich selbst als „Slowakischer Nationalrat“ bezeichneten (SNR)[5] – unter der Leitung von Samuel Zoch und Emil Stodola. Die Delegierten ahnten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass bereits zwei Tage früher in Prag – ohne ihr Zutun – die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wurde. Die Delegierten beschlossen einen Nationalrat des slowakischen Zweiges der tschechoslowakischen Nation (sl. „Národná rada slovenskej vetvy jedného československého národa“) zu gründen, dessen erster Vorsitzender Matúš Dula wurde.[6]

Der zweite Tagungspunkt war der Erlass einer Deklaration des slowakischen Volkes zum Beitritt in einen gemeinsamen Staat mit den Tschechen. Im heute etwas kurios klingenden, von Samuel Zoch abgefassten Text heißt es: Das slowakische Volk ist sprachlich als auch kultur-historisch Teil eines einheitlichen tschecho-slowakischen Volkes. Für dieses tschecho-slowakische Volk fordern auch wir das uneingeschränkte Recht auf Selbstbestimmung auf der Grundlage völliger Unabhängigkeit. (dt. Übersetzung vom Anton Klipp). Dass die Slowaken von Prag aus vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, erfuhren sie erst nach dem Abschluss der Versammlung von Milan Hodža, der verspätet in St. Martin eintraf. Die Martiner Deklaration musste auf Anraten Hodžas umgearbeitet werden, um sie an die aktuelle politische Situation anzupassen.[7]

 
Gedenktafel am Gebäude der Tatra Bank in St. Martin in der Turz. Deutsche Übersetzung des Textes: In diesem Gebäude wurde vom Slowakischen Nationalrat am 30. Oktober 1918 die Deklaration des slowakischen Volkes angenommen, in welcher die Slowaken ihre Zustimmung zur Gründung einer Tschecho-Slowakischen Republik erteilten.

Der bedeutende slowakische Historiker, Milan S. Ďurica schreibt zu den o. g. Ereignissen folgendes[8]: Der ursprüngliche Text (der Deklaration, Anm. des Übersetzers), sowie das Sitzungsprotokoll 'gingen verloren', was ein Gegenstand späterer kontroverser Interpretationen und sogar von Gerichtsverhandlungen wurde. An der Sitzung nahmen 101 Personen teil, von denen 95 Personen evangelischen Glaubens waren und 31 Personen (also etwa 25 %, Anm. d. Übersetzers.) aus St. Martin stammten. Deshalb kann hier nur schwer von einer Vertretung des slowakischen Volkes gesprochen werden. Die slowakischen Katholiken, die immerhin 84 % der Gesamtbevölkerung darstellten, wurden nur von einigen hervorragenden Persönlichkeiten repräsentiert, diese bildeten jedoch nur eine unbedeutende Minderheit.

Einen wesentlichen Schatten auf das Dokument wirft die Tatsache, dass der abgestimmte (d. h. von der Versammlung gebilligte, Anm. d. Verf.) Text in der folgenden Nacht von Milan Hodža – in einer privaten Sitzung in Anwesenheit nur einiger Personen – in wesentlichen Punkten, wie z. B. das Selbstbestimmungsrecht des slowakischen Volkes, sowie die Teilnahme slowakischer Repräsentanten an der Friedenskonferenz, willkürlich verändert wurde. Einer der beiden Unterzeichner des Deklarationstextes, Karol Medvecký, der damals Sekretär des Slowakischen Nationalrates (sl. Slovenská národná rada) war, behauptete sogar, dass es sich bei dem Dokument um en Falsifikat (Fälschung) handelt, und bestritt, dass er die Deklaration in vorliegender Form unterzeichnet hätte.[9] (Deutsche Übersetzung von Anton Klipp).

Die Deklaration gab in der Zwischenkriegszeit Anlass zu zahlreichen Konflikten zwischen Slowaken und Tschechen. Die Slowaken fühlten sich im gemeinsamen Staat immer wieder benachteiligt. Bei den Friedensverhandlungen von Paris, saßen außer den Entente-Mächten seitens der Tschechoslowakei nur tschechische Politiker am Verhandlungstisch. Als Andrej Hlinka, der Führer der vorher gegründeten Slowakischen Volkspartei, an den Verhandlungen teilnehmen wollte, um im Rahmen der neuen Č-SR die Autonomie der Slowaken, wie sie im Pittsburgher Abkommen vorgesehen war, einzufordern, wurde er zu den Verhandlungen nicht zugelassen. Als es Hlinka – mit Hilfe Polens – trotzdem gelang nach Paris zu kommen, stand er vor verschlossenen Türen und wurde abermals abgewiesen. Seine tschechischen Widersacher im Verhandlungsraum sorgten dafür, dass er von der französischen Polizei abgeschoben wurde. Nach seiner Rückkehr in die Heimat sorgten seine Gegner dafür, dass er öffentlich als slowakischer „Nationalist“ und „Separatist“ verunglimpft  und von tschechischen Behörden für einige Monate im Gefängnis gesetzt wurde.[6]

Literatur Bearbeiten

  • Dušan Kováč: Slovensko v Rakúsko-Uhorsku ('Die Slowakei in Österreich-Ungarn'), Bratislava 1995 (slowakisch).
  • Milan S. Ďurica: Dejiny Slovenska a Slovákov v časovej následnosti faktov dvoch tisícročí, Bratislava 2003, ISBN 80-7114-386-3. (slowakisch)
  • Anton Klipp: Preßburg. Neue Ansichten zu einer alten Stadt. Karpatendeutsches Kulturwerk, Karlsruhe 2010, ISBN 978-3-927020-15-3.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. 1951 in der Zeit der kommunistischen Diktatur wurde der Ort in "Martin" umbenannt.
  2. Die provisorische Regierung wurde von den tschechischen Exilpolitikern Tomáš Garigue Masaryk und Edvard Beneš in Paris proklamiert: Masaryk ernannte sich selbst zum Ministerpräsidenten und Finanzminister, und Beneš zum Außen- und Innenminister. Der Slowake Milan Rastislav Štefánik wurde - ohne dessen Wissen - zum Kriegsminister bestimmt. Da sich Štefánik zu diesem Zeitpunkt in Tokyo befand, erfuhr er über seine „Ernennung“ aus der Zeitung. Štefánik protestierte über dieses eigenwillige Vorgehen, da er mit vielen Maßnahmen die in Paris getroffen wurden, nicht einverstanden war. (zit. bei Milan S. Ďurica: Dejiny Slovenska a Slovákov v časovej následnosti faktov dvoch tisícročí, Bratislava 2003, S. 286; siehe Literatur)
  3. Dieser Nationalausschuss bestand aus 42, überwiegend aus Tschechen bestehenden Mitgliedern; außer Šrobár waren keine Slowaken vertreten. Über die Existenz eines solchen Ausschusses hatte man in der Slowakei keine Kenntnis.
  4. Masaryk, Beneš und Štefánik befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch im Ausland, wo sie eine Deklaration über die Unabhängigkeit einer Tschecho-Slowakischen Republik veröffentlichten. 
  5. Der Vorsitzende der Slowakischen Nationalpartei Matúš Dula lud am 12. September 1918 in Budapest zwölf slowakische Politiker zu einer „privaten Sitzung“ ein. In dieser Sitzung wurde der Slowakische Nationalrat (sl. „Slovenská národná rada“) gegründet. Offiziell wurde der Nationalrat jedoch erst am 30. Oktober 1918 in St. Martin in der Turz gegründet. (zit. nach Milan S. Ďurica: Dejiny Slovenska a Slovákov v časovej následnosti faktov dvoch tisícročí, Bratislava 2003, S. 286)
  6. a b zit. bei Anton Klipp: Preßburg... S. 15ff (Literaturverzeichnis)
  7. zit. bei D. Kováč: „Slovensko v Rakúsko-Uhorsku“, S. 122 f.    
  8. Zitiert bei Milan S. Ďurica: Dejiny Slovenska a Slovákov v časovej následnosti faktov dvoch tisícročí, Bratislava 2003, S. 288. f  (siehe Literatur) 
  9. Der slowakische Originaltext hat folgenden Wortlaut:          Pôvodný text a zápisnica o priebehu zhromaždenia „sa stratili“, čo neskôr bolo predmetom kontroverzných interpretácii, ba i súdných sporov. Na porade sa zišlo 101 účastníkov, z ktorých 95 bolo evanjelického vyznania a 31 z Turč. Sv. Martina, teda je ťažko hovoriť o reprezentácii celého slovenského národa. Slovenských katolíkov, ktorí vtedy predstavovali asi 84 % obyvateľstva Slovenska, reprezentovalo niekoľko vynikajúcich osobností, ktoré však tvorili nepatrnú menšinu. Ešte vážnejší tieň na tento dokument vrhá skutočnosť, že text odhlasovaný účastníkmi porady bol potom v noci zákrokom Dr. Milana  Hodžu na súkromnej porade niekoľkých osôb svojvoľne zmenený, a to práve u takých podstatných bodoch, akými bola požiadavka   sebaurčovacieho práva slovenského národa a účasť jeho reprezentantov na mierovej konferencii. Jeden z dvoch podpisovateľov uverejneného textu Deklarácie, Karol Medvecký, ktorý bol  tajomníkom SNR, vyhlásil uverejnený text za falzifikovanú deklaráciu a poprel, že by ju bol býval v takej forme podpísal.