Die Siegel-Nullstelle (auch Landau-Siegel-Nullstelle) bezeichnet in der analytischen Zahlentheorie ein potentielles Gegenbeispiel, um die verallgemeinerte Riemannsche Vermutung zu widerlegen. Diese Vermutung weitet die klassische Riemannsche Vermutung auf Dirichletsche L-Funktionen aus. Es handelt sich um eine hypothetische Nullstelle einer L-Funktion in der Nähe des Wertes . Für eine L-Funktion kann es höchstens eine Siegel-Nullstelle geben.

Die Existenz von Siegel-Nullstellen hat einige Konsequenzen. So gilt nach einem Satz von Roger Heath-Brown, dass die Existenz von unendlich vielen Siegel-Nullstellen (für verschiedene L-Funktionen) die Primzahlzwillingsvermutung impliziert.[1] Die Primzahlzwillings-Vermutung geht dahin, dass unendlich viele Zahlenpaare existieren, deren beide Komponenten prim sind.

Die Landau-Siegel-Nullstelle ist nach den deutschen Mathematikern Carl Ludwig Siegel und Edmund Landau benannt.

Grundbegriffe Bearbeiten

Dirichlet-Charakter Bearbeiten

Als Dirichlet-Charakter (mod  ) für ein   bezeichnet man eine komplexe Funktion  , wenn sie für alle   folgende Eigenschaften erfüllt

1)  .
2)   falls  .
3)   falls  .
4)  .

Reeller und komplexer Dirichlet-Charakter Bearbeiten

Ein Dirichlet-Charakter   heißt reell (oder quadratisch) falls alle seine Werte   reell sind oder äquivalent falls er gleich seiner komplex Konjugierten ist

 

Ansonsten ist er komplex oder nicht-reell.

Dirichletsche L-Funktion Bearbeiten

Eine Dirichletsche L-Funktion ist für ein   und einen Dirichlet-Charakter   die Funktion

 

Nullstellen Bearbeiten

Die Nullstellen   der Dirichletschen L-Funktion   werden in triviale und nicht-triviale Nullstellen aufgeteilt. Die trivialen Nullstellen sind alle negativ und die nicht-trivialen befinden sich im kritischen Streifen

 

Die verallgemeinerte Riemannsche Vermutung nimmt an, dass für alle nicht-trivialen Nullstellen   gilt.

Definition Bearbeiten

Notation:

  •   bezeichnet eine komplexe Zahl.
  •   ist ein Dirichlet-Charakter.
  •   ist eine zu   gehörende L-Funktion.

Definition:

Zentral für die Definition ist folgendes Theorem (welches in unterschiedlichen Varianten von Landau, Grönwall und Titchmarsh stammt, siehe [2])

I) Falls   komplex ist, dann existiert eine (effektiv-berechenbare) reelle Konstante  , so dass

 

in der Region

 

ist.

II) Falls   reell ist, so kann es höchstens ein   mit   in der Region   geben. Weiter muss diese Nullstelle   reell sein, d. h.  .

Ein solches   für den Dirichlet-Charakter   nennt man Siegel-Nullstelle oder außergewöhnliche Nullstelle.[3]

Eigenschaften Bearbeiten

Die Siegel-Nullstelle   hängt vom gewählten Dirichlet-Charakter   ab.

Satz von Siegel Bearbeiten

Sei   eine Siegel-Nullstelle für einen primitiven Dirichlet-Charakter   mit Leiter (englisch conductor)   (d. h.  ). Für   existiert eine Konstante  , so dass[4]

 

Sätze von Heath-Brown Bearbeiten

Von Heath-Brown stammen folgende Aussagen über die Siegel-Nullstellen und die Primzahlzwillingsvermutung.

Satz 1 Bearbeiten

Sei   ein reeller, primitiver Dirichlet-Charakter und   eine Siegel-Nullstelle und

 

Falls unendlich viele solche   existieren, dann existieren unendlich viele Primzahlzwillinge.[3]

Satz 2 Bearbeiten

Mindestens eine der beiden Aussagen ist wahr:[3][5]

  1. Es existieren keine Siegel-Nullstellen, d. h. es existiert eine gemeinsame Schranke  , so dass für alle   und alle   gilt   für
 
  1. Die Primzahlzwillingsvermutung ist wahr.

Deuring-Heilbronns Repulsions-Phänomen Bearbeiten

Sei   die Familie aller Dirichlet-Charaktere zum Modulus  . Die Existenz einer Siegel-Nullstelle zu einem Dirichlet-Charakter   hat Auswirkungen auf die anderen Nullstellen innerhalb der gleichen Familie  . Dieses Phänomen ist nach Max Deuring und Hans Arnold Heilbronn benannt. Es wurde quantifiziert von Juri Wladimirowitsch Linnik durch nachfolgendes Theorem.[6]

Linniks Repulsions-Theorem Bearbeiten

Falls eine Siegel-Nullstelle   zu einem Dirichlet-Charakter   existiert, so dass

 

für ein hinreichend kleines   gilt, dann sind alle anderen Nullstellen   der Familie   in der Region

 

für eine (effektiv-berechenbare) positive Konstante  .

Literatur Bearbeiten

  • D. R. Heath-Brown: Prime Twins and Siegel Zeros. In: London Mathematical Society (Hrsg.): Proceedings of the London Mathematical Society. s3-47, Ausgabe, 1983.
  • Thomas Wright: Prime Tuples and Siegel Zeros. Hrsg.: arXiv. 2021, doi:10.48550/ARXIV.2111.14054.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Kaisa Matomäki und Jori Merikoski: Siegel zeros, twin primes, Goldbach's conjecture, and primes in short intervals. Hrsg.: arXiv. 2021, doi:10.48550/arxiv.2112.11412.
  2. Harold Davenport: Multiplicative Number Theory. In: Springer New York (Hrsg.): Graduate Texts in Mathematics 74. 1980.
  3. a b c D. R. Heath-Brown: Prime Twins and Siegel Zeros. In: London Mathematical Society (Hrsg.): Proceedings of the London Mathematical Society. s3-47, Ausgabe, 1983.
  4. Gautami Bhowmik und Karin Halupczok: Condtional Bounds on Siegel Zeros. Hrsg.: arXiv. 2020, S. 3, doi:10.48550/ARXIV.2010.01308, arxiv:2010.01308 [abs].
  5. Terence Tao: Heath-Brown’s theorem on prime twins and Siegel zeroes. Abgerufen am 20. Juli 2022 (englisch).
  6. J. W. Linnik: On the least prime in an arithmetic progression. II: The Deuring-Heilbronn theorem. In: Tipogr. Lissnera i Sobko (Hrsg.): Matematiceskij sbornik. Band 57, Nr. 3, 1944, S. 347–368 (englisch, eudml.org).