Komplexe Leistung (Elektrotechnik)

komplexe Größe der Elektrotechnik aus Wirkleistung (Realteil) und Blindleistung (Imaginärteil)
(Weitergeleitet von Komplexe Scheinleistung)

Die komplexe Leistung (auch komplexe Scheinleistung) ist eine Rechengröße der Elektrotechnik, welche die verschiedenen Leistungskennwerte bei Wechselstrom zu einem Wert zusammenfasst, welcher mit der symbolischen Methode der komplexen Wechselstromrechnung vereinbar ist. Die Bezeichnung resultiert daraus, dass dieser Wert eine komplexe Zahl ist.

Motivation Bearbeiten

Die komplexe Wechselstromrechnung ist, wie dort gezeigt wird, nur für lineare Rechenoperationen geeignet. Sie versagt beispielsweise bei der Multiplikation von komplexer Spannung und komplexem Strom. Im Gegensatz zur Momentanleistung   und zur Scheinleistung   hat deshalb das entsprechende Produkt   genauso wie das Produkt aus den komplexen Effektivwerten   keinen praktischen Sinn. Wenn man jedoch eine komplexe Spannung mit einem konjugiert komplexen Strom multipliziert, heben sich die zeitabhängigen Teile   und   gegenseitig auf und es geht nur die gegenseitige Phasenverschiebung ein. Das motiviert zur folgenden Definition.

Definition Bearbeiten

Als komplexe Leistung   an einem Zweipol definiert man das Produkt aus komplexem Effektivwert der Spannung   und konjugiert komplexem Effektivwert des Stromes  . Da die Amplituden um   größer als die Effektivwerte sind, ist die komplexe Leistung damit gleich dem halben Produkt aus komplexer Amplitude der Spannung und konjugiert komplexer Amplitude des Stromes:

 

Durch die ausführliche Schreibweise

 

und die übliche Abkürzung   für die Phasenverschiebung sowie die Aufspaltung in Real- und Imaginärteil

 
Leistungszeigerdiagramm bei sinusförmigen Spannungen und Strömen in der komplexen Ebene
 

wird deutlich, wie die in der Wechselstromtechnik üblichen drei Kenngrößen der Leistung mit der komplexen Leistung zusammen hängen:

  • Die Wirkleistung   ist der Realteil der komplexen Leistung:
 
  • Die (Verschiebungs-)Blindleistung   ist der Imaginärteil der komplexen Leistung:
 
  • Die Scheinleistung   ist der Betrag der komplexen Leistung
 

Hat beispielsweise die Spannung die Amplitude   und den Nullphasenwinkel   sowie der Strom die Amplitude   und den Nullphasenwinkel  , dann erhält man für die komplexe Leistung

 

mit der Wirkleistung   und der Blindleistung  . Sofern Strom und Spannung dem Verbraucherzählpfeilsystem entstammen, handelt es sich bei diesem Zweipol also um einen kapazitiven ( ) Verbraucher ( ).

Komplexe Leistung an passiven Zweipolen Bearbeiten

Sind die Stromstärke und die Impedanz oder Admittanz eines passiven (linearen) Zweipols gegeben, dann gilt (unter Annahme des Verbraucherzählpfeilsystems) mit   für die komplexe Leistung

 

Sind dagegen die Spannung und die Impedanz oder Admittanz gegeben, dann gilt mit  

 

Damit erhält man für Wirk-, Blind- und Scheinleistung

 
 
 

Als Beispiel erhält man für die Blindleistung eines Kondensators mit der Kapazität   an einer Spannung mit der Amplitude   und der Kreisfrequenz  

 

Konkret entsteht bei   und   an einem Kondensator mit einer Kapazität von   eine Blindleistung von  .

Zusammenhang der komplexen Leistung mit der Momentanleistung Bearbeiten

Der Energiefluss in einen Zweipol wird durch den Momentanwert der elektrischen Leistung   beschrieben und ist das Produkt der reellen Momentanwerte von Spannung und Strom. Bei Verwendung der Kosinus-Schreibweise für die reellen Signale wird damit

 

Aufgrund der Beziehung   für komplexe Zahlen kann man schreiben

 

und nach dem Umordnen wieder als Realteil formulieren

 

sowie komplexe Effektivwerte einführen

 

Daraus ergibt sich schließlich der fundamentale Zusammenhang zwischen Momentanleistung und komplexer Leistung:

 

Damit ist eine Analyse der Momentanleistung möglich, ohne dass die Additionstheoreme der Kreisfunktionen genutzt werden.

Analyse der Momentanleistung Bearbeiten

Indem man den Realteil des Produkts bildet

 

und anschließend die Real- bzw. Imaginärteilbildung konkret ausführt, ergibt sich schließlich die aus klassischen Leistungsberechnung (unter Verwendung der Kosinus-Schreibweise für die reellen Signale) bekannte Formel

 
 
Momentane Leistung   (Kurve 1) als Überlagerung von Blindleistung erzeugender Schwingung (Kurve 2) und Wirkleistung erzeugender Schwingung (Kurve 3) bei den konkreten Nullphasenwinkeln   und  

Deren Komponenten können wie folgt interpretiert werden:

  1. Die Summe beider Komponenten   ist die gesamte Momentanleistung (im Diagramm als Kurve 1 gekennzeichnet). Sie schwingt mit der doppelten Grundfrequenz um ihren Mittelwert, der gleich der Wirkleistung   ist, und besitzt eine Amplitude in der Größe der Scheinleistung  .
  2. Die rechte Komponente der Momentanleistung (im Diagramm als Kurve 2 gekennzeichnet) ist ebenfalls mit der doppelten Grundfrequenz alternierend. Ihr zeitlicher Mittelwert ist gleich   und ihre Amplitude gleich dem Betrag der Blindleistung  . Die durch diese Leistung repräsentierte Energie fließt also „immer abwechselnd in gleicher Menge“ zwischen Generator- und Lastzweipol in beiden Richtungen hin und her und kann deshalb im zeitlichen Mittel keine Wirkung ausüben. Aufgrund ihrer Definition wird bei Annahme des Verbraucherzählpfeilsystems positive Blindleistung im Allgemeinen von Induktivitäten, negative Blindleistung von Kapazitäten hervorgerufen. In der Praxis spricht man davon, dass Induktivitäten „Blindleistung beziehen“ und Kapazitäten „Blindleistung liefern“.
  3. Die linke Komponente der Momentanleistung (im Diagramm als Kurve 3 gekennzeichnet) besteht (wegen  ) aus „ -Schwingungen“ (sinusförmig mit der doppelten Grundfrequenz schwingend), welche von   bis   ansteigen und damit die doppelte Höhe der Wirkleistung haben, wobei ihr zeitlicher Mittelwert (im Diagramm gestrichelt gezeichnet) ebenfalls gleich   ist. Die durch diese Leistung repräsentierte Energie fließt also immer in der gleichen Richtung und kann deshalb (im zeitlichen Mittel) eine „tatsächliche Wirkung“ im Lastzweipol (z. B. Erwärmung oder mechanische Arbeit) ausüben. Die Wirkleistung   ist also die Amplitude der „tatsächlich wirkenden“ Komponente der Momentanleistung und gleichzeitig ihr zeitlicher Mittelwert. Da die Wirkleistung um den Faktor   gegenüber der Scheinleistung geringer ist, nennt man   den Wirkfaktor (manchmal auch Leistungsfaktor). Eine negative Wirkleistung deutet auf einen „rückwärtigen (der Bezugsrichtung entgegen gerichteten) Energietransport“ hin. Dieser Fall tritt auf, wenn im Verbraucherzählpfeilsystem der Zweipol als (aktiver) Generator wirkt oder ein passiver Zweipol im Erzeugerzählpfeilsystem beschrieben wird.

Auf Basis dieser Analyse und der grafischen Darstellung kann man auch folgende Aussagen über Wirk- und Blindenergie machen:

  • Die Wirkenergie, die während der Dauer einer Periode   in den Zweipol fließt oder von ihm abgegeben wird, hat den Betrag  .
  • Der Flächeninhalt einer Halbschwingung des Verlaufs der Blindleistung repräsentiert die „gesamte hin und her pendelnde Energie“  . Da der Flächeninhalt einer Sinushalbschwingung bekanntlich   ist, ergibt sich für diesen Energieanteil  .

Beispielsweise erhält man für die „pendelnde Energie“ eines Kondensators mit der Kapazität   an einer Spannung mit der Amplitude   und der Kreisfrequenz   entsprechend der oben angegebenen Blindleistung

 

Das ist aber gerade die bekannte Energie eines auf die Spannung   aufgeladenen Kondensators.

Literatur Bearbeiten

  • Klaus Lunze: Theorie der Wechselstromschaltungen. 8. Auflage. Verlag Technik GmbH, Berlin 1991, ISBN 3-341-00984-1.
  • Reinhold Paul: Elektrotechnik 2 – Netzwerke. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 1994, ISBN 3-540-55866-7.