Julius Talbot Keller

deutscher Jurist, Landwirt und expressionistischer Lyriker

Julius Talbot Konrad Keller[1], auch Jules Talbot Keller[2], (* 21. Dezember 1890 in Aachen; † 16. Mai 1946 ebenda) war ein deutscher Jurist, Landwirt und expressionistischer Lyriker.

Familie Bearbeiten

 
Gut Eich, Eupener Straße 138 (früher 124)

Die Großeltern väterlicherseits waren der Regierungsrat Otto Keller (* 13. November 1828; † 6. April 1885) und Juliane Talbot (* 11. Juni 1846; † 20. April 1895),[3] die Enkelin des Gründers der Waggonfabrik Talbot in Aachen, Johann Hugo Jacob Talbot (1794–1850). Dieser Ehe entsprang der Sohn Julius Talbot Keller (der Ältere) (* 19. Dezember 1867; † 31. März 1934),[4] in dessen Vornamen die mütterliche Linie weiterleben sollte. 1890 gründete Julius zusammen mit Conrad Scheuten die Offene Handelsgesellschaft Scheuten & Cie. in Aachen,[5] ab 1892 in Düsseldorf[6]. Etwa zur selben Zeit heiratete er Sibylla (Sibila) Scheuten († 19. August 1942),[7] vermutlich Schwester oder Tochter des Kompagnons.

Die Geburtsanzeige von Julius Talbot Konrad Keller (der Jüngere) vom Dezember 1890 endet mit „Sohn von Julius Keller, Kaufmann, Villa Eich“.[1] Dieses Gut Eich in der Eupener Straße 124 (inzwischen Nr. 138) ist ein im 18. Jahrhundert errichtetes, Laurenz Mefferdatis zugeschriebenes imposantes Herrenhaus.[8] Vater Julius zog sich früh aus der Handelsgesellschaft zurück; das Adressbuch bezeichnet ihn schon 1899 als „Rentner“[9] (in der Bedeutung von Privatier), der zunächst am Obstbau Gefallen fand[10] und sich später als „Gutsbesitzer“[11][12] der Pferdezucht widmete, aber auch öffentliche Wirkung entfaltete. Er wurde Mitglied der Prüfungskommission für Hufschmiede,[13] Vorsitzender des Pferdezuchtvereins Aachen-Geilenkirchen,[14] Vorstandsmitglied der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz,[15] Revisor der Armenkasse der Stadt Aachen.[16] Er war reich und spendete mehrfach große Beträge für gemeinnützige Zwecke.[17][18] Nach seiner Todesanzeige[19] war er auch Rittmeister der Landwehr gewesen.

Leben Bearbeiten

Der jüngere Julius Talbot Keller war Schüler des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums in Aachen, wo er zu einem Freundeskreis literaturbegeisterter Schüler um Karl Otten gehörte, der sich später erinnerte:

„Zu den rebellischen, aus nur halb bewußten aber sehr tief gefühlten Ursachen rebellischen, jungen Dichtern, gehörten Walter Hasenclever, der Dichter und Dramatiker, Ludwig Strauß, der tragische unter den modernen Lyrikern, Philipp Keller, der mit einem außerordentlich begabten Roman begann und sich dann der Medizin zukehrte, Jules Talbot Keller, der einen Gedichtband im Verlag der Aktion veröffentlichte und ich, der aus Köln nach Aachen verschlagen dort das Gymnasium besuchte, wie ein anderer Dichter, August Stramm, ein Jahrzehnt vorher.“

Karl Otten[20]

Otten, Hasenclever und Julius Talbot Keller gaben 1910 im Verlag Fölschle den Aachener Almanach heraus.

 
Verlag Die Aktion, Anzeige für 1914-1916. Eine Anthologie. „Julius Talbot Keller türmt die Teufel des Infernos zu Goya-Versionen, aus denen ein Greco-Engel den ‚Pfad der Erlösung‘ führt.“ (Max Herrmann)

Keller studierte ab 1910 Jura an der Universität Heidelberg und wurde 1913 zum Doktor jur. promoviert.[21][22] Während der Studienzeit knüpfte er Kontakte zu den Rheinischen Expressionisten,[22] also den Malern um August Macke, Ernst Moritz Engert, Heinrich Nauen und Franz Seraph Henseler. Er kaufte Bilder von Henseler und Nauen, und war häufiger Besucher im Schloss Dilborn, Wohnsitz von Marie von Malachowski-Nauen und Heinrich Nauen von 1911 bis 1931.[23]

Bereits vor dem Krieg war er, väterlicher Tradition entsprechend, Dragonerleutnant der Reserve geworden. Am 6. September 1914, kurz nach Ausbruch des Krieges, verlobte er sich mit Thilda (Mathilde) Rasch.[24] Danach wurde er eingezogen, dem Stab des Reserve-Infanterie-Regiments 110 zugeordnet, und bereits im November 1914 mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.[25] Den Schrecken des maschinellen Krieges bewältigte er mit expressionistischer Lyrik, die ab 1916 in der Zeitschrift Die Aktion, herausgegeben von Franz Pfemfert, veröffentlicht wurde. Auch in Pfemferts Anthologie 1914–1916 und in Das Aktionsbuch (1917) wurden seine Gedichte aufgenommen. Als der Aktionsverlag 1918 in der Reihe Der rote Hahn dem „Frontdichter“ als Nummer 23 ein eigenes Heft Durchblutung widmete, war Julius Talbot Keller bereits aus gesundheitlichen Gründen vom Dienst freigestellt worden.[2] Er hielt sich 1917/18 in der Schweiz auf, wo er neue Verbindungen zu Dichtern und Künstlern anknüpfte.[22]

 
Verlag Die Aktion, Anzeige für die Buchreihe Der rote Hahn, circa 1919. Band 23: Jules Talbot Keller: Durchblutung.

Nachdem am 9. November 1918 die deutsche Monarchie gestürzt worden war, erschien im darauffolgenden Heft 45/46 der Aktion als Leitartikel ein Aufruf der Antinationalen Sozialisten-Partei (A.S.P.) Gruppe Deutschland. Das Manifest endete mit „Nieder mit den Vaterländern! (…) Es lebe das grenzpfahllose Land der arbeitenden Menschheit! Hoch die sozialistische Weltrevolution!“ und war unterzeichnet von Ludwig Bäumer, Albert Ehrenstein, J. T. Keller, Karl Otten, Franz Pfemfert, Heinrich Schaefer, Hans Siemsen, Carl Zuckmayer.[26]

Julius Talbot Keller, im Manifest nur Mitunterzeichner, bestätigte seinen revolutionären Elan mit seinem im folgenden April im ersten Heft der Zeitschrift Der Gegner erscheinenden Pamphlet Was sind Revolutionen? (Herausgeber der im Malik-Verlag erscheinenden Bilder zur Kritik der Zeit – so der Untertitel – waren Julian Gumperz und wieder einmal Karl Otten.) Dieses Glanzstück pathetischer Prosa ist exemplarisch für die Umbruchstimmung 1918/19 und beginnt folgendermaßen:

„Revolutionen brechen empor, wenn die Zeit erfüllt ist und abstirbt. Wenn das Gewölbe der Geistigkeit, das einen Zeitraum überdacht und ihm Sternhimmel ist, platt wird; wenn die Pfeiler der Sittlichkeit, die eine Epoche hochstoßen und ihre Emporstrahlung sind, abfaulen; wenn das Fundament der Menschlichkeit, das eine Periode trägt und ihr Erdboden ist, versumpft, wenn die Führer dumm werden, schlau und ohne Begeisterung, entfremdet dem inbrünstigen Bewußtsein, daß Herrschen wirkende Selbstopferung in Vernünftigkeit sei, nicht aber selbst vergötternde Untugend und gewinnbringender Würdegenuß; wenn die tragenden Stände des Zeitalters entartet sind, ihr Pathos steif und auf listigem Kothurn einkommt, wenn ihr Menschtum sich verhärtet und das Gehirn kurzsichtig kein Über- und Weitziel mehr sieht, sondern den eigenen Bauch allein, den aufzupäppeln man dann, und koste es Menschenblut, hemmungslos anstrebt.“

Julius Talbot Keller[27]

Am 8. Januar 1920 wurde der Sohn Othmar (Ottomar) geboren, und zwar in Lugano,[28] wo Julius Talbot Keller damals mit seiner Frau lebte. In den späteren 1920er Jahren lebte er wieder in Aachen und arbeitete einige Jahre als Architekt.[21][2][22] (Details waren nicht ermittelbar). Er scheint wohlhabend gewesen zu sein und trat nach wie vor als Kunstsammler in Erscheinung. Eine kunsthistorische Studie bezeichnet ihn in diesem Zusammenhang als „Aachener Industriellen (…) der bevorzugt Werke von Nauen und Henseler sammelte“.[23]

1930 wurde er – wahrscheinlich durch die Wirtschaftskrise bedingt – Landwirt, und zwar entweder im Kreis Jülich[21] oder auf dem väterlichen Gut im Kreis Jülich[2][22] oder auf einem benachbarten Hof in der Eupener Straße 138.[12] (Die Angaben sind widersprüchlich). Jedenfalls übernahm er 1934 nach dem Tod des Vaters dessen Gut[21][2][22] Eich. Ein Gedichtband Träume zwischen Tag und Tod entstand zwischen 1938 und 1946, blieb aber unveröffentlicht.[22]

Julius Talbot Keller starb nach langer Krankheit[22] am 16. Mai 1946 und wurde am Westfriedhof II in Aachen[29] begraben. In der Anthologie »Beständig ist das leicht Verletzliche« ist Julius Talbot Keller mit dem Gedicht Präzisionsschießen (1916)[30] vertreten.

Werke Bearbeiten

Vier Zeilen von Julius Talbot Keller Bearbeiten

 
Malik-Verlag Berlin, Anzeige für Der Dada, Die Pleite, Der Gegner, 1919. Im Gegner erschien Jules Talbot Kellers Was sind Revolutionen?

Aus: Präzisionsschießen

Nacht preßt wie Sargdeckel auf die gedunsenen Bäuche der
  toten Hügel, durch deren Hautschorf im Zickzack Aaskäfer
  Gänge fraßen, die phosphoreszieren.
Graue Mikroben wimmeln in den Bohrlöchern der Verwesung,
  und Fäulnis leuchtet aus hoffnungslosen Unterständen.
In Minenstollen raspelt der Wurmfraß und gärende Därme
  werden den Gasdruck nicht mehr lange binden.
Dann werden wir fliegen wie Gliederpuppen, die ein zankendes
  Kind schmeißt, kreuzförmig und den Kopf nach unten.

Monographien Bearbeiten

  • Budgetrecht und Organisationsgewalt [Juristische Dissertation Heidelberg 1916] Verlag Rössler & Herbert, Heidelberg 1916. Inhaltsübersicht
  • Durchblutung [Gedichte] (Der Rote Hahn, Heft 23). Verlag Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf, 1918.
    • Nachdruck: Kraus Reprint, Nendeln/Liechtenstein, 1973.
  • Träume zwischen Tag und Tod. Gedichte 1938–1946.[22] Unveröffentlicht.

Beiträge zu Zeitschriften Bearbeiten

  • Was sind Revolutionen? [Pamphlet] (Der Gegner / Streitschrift des Gegner, Heft 1) Joest, Halle 1919 Blue Mountain Seite 16–20.
    • auch in Der Friede 2. Jahrgang 1919, Heft 64, 11. April 1919.
  • in Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst:
    • Beiträge 1916 in Nr. 1/2 und 9/10, 1918 in Nr. 1/2, 25/26 und 31/32, 1919 in Nr. 30/31.
    • Aufruf der Antinationalen Sozialisten-Partei 1918 in Nr. 45/46 vom 16. November 1918 Internet Archive Spalte 583–586.
  • Die in einer Quelle erwähnten Beiträge zu Die weißen Blätter[2] sind nicht identifizierbar.

Beiträge zu Anthologien Bearbeiten

  • Franz Pfemfert (Hrsg.): Die Aktions-Lyrik. Band 1: 1914–1916. Eine Anthologie. Verlag der Wochenschrift Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf, 1916. Internet Archive Seite 49–58 (Gedichte Präzisionsschießen, Die Front[31], Der Pfad der Erlösung).
  • Franz Pfemfert (Hrsg.): Das Aktionsbuch. Verlag der Wochenschrift Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf, 1917. Internet Archive Seite 237 (Gedicht Präzisionsschießen).

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Geburtsanzeige, Aachener Anzeiger vom 23. Dezember 1890, Seite 9 Deutsches Zeitungsportal
  2. a b c d e f Wulf Kirsten: Keller, Julius (Jules) Talbot in: Wilhelm Kosch: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, 3. Auflage 1968 ff., Band 8 Hohberg-Kober. De Gruyter, Berlin/Boston 1981. DOI Spalte 1036.
  3. Eintrag Juliane Talbot in Familienbuch Euregio Online
  4. Todesanzeige Juliane Kufferath, verwitwete Keller, im Aachener Anzeiger vom 20. April 1895, Seite 6 Deutsches Zeitungsportal
  5. Nachricht im Aachener Anzeiger vom 13. März 1890, Seite 3 Deutsches Zeitungsportal
  6. Kölnische Zeitung vom 17. Februar 1892, Seite 7 Deutsches Zeitungsportal
  7. Todesanzeige Sibylla Keller in Aachener Anzeiger vom 21. August 1942, Seite 4 Deutsches Zeitungsportal
  8. Haus Eich als Dach: Neue Bestimmung für Bistumsgebäude, in: Aachener Zeitung vom 18. Januar 2007
  9. Adressbuch für Aachen und Umgebung 1899, Seite 191
  10. Erster Beleg: Gartenbauverein zu Aachen Burtscheid. Diplom für hervorragende Leistungen in der Anzucht schöner Früchte. In Aachener Anzeiger vom 22. November 1892, Seite 6 Deutsches Zeitungsportal
  11. Adressbuch für Aachen und Umgebung 1922, Seite 126
  12. a b Aachener Adressbuch: unter Benutzung amtlicher Quellen für 1929, Seite 165
  13. Ernennungsdekret im Aachener Anzeiger vom 18. Januar 1901, Seite 2 Deutsches Zeitungsportal
  14. Vereinsnachrichten im Aachener Anzeiger vom 18. Juli 1902, Seite 4 Deutsches Zeitungsportal
  15. Mitteilung in Aachener Anzeiger vom 14. Dezember 1919, Seite 1 Deutsches Zeitungsportal
  16. Bekanntmachung in Aachener Anzeiger vom 10. Januar 1902, Seite 2 Deutsches Zeitungsportal
  17. Spender für die Nationalflugspende: Gutsbesitzer Julius Keller 1000 Mark. In Aachener Anzeiger vom 11. Mai 1912, Seite 4 Deutsches Zeitungsportal
  18. Spender für das Rote Kreuz: Julius Keller 5000 Mark. In Aachener Anzeiger vom 12. August 1914, Seite 6 Deutsches Zeitungsportal
  19. Todesanzeige Julius Talbot Keller, Kölnische Zeitung vom 3. April 1934, Seite 12 Deutsches Zeitungsportal
  20. Karl Otten: Europa lag in Aachen. Zitiert nach: Gregor Ackermann, Werner Jung (Hrsg.): Verstaubte Liebe. Literarische Streifzüge durch Aachen. Aachen 1992, Seite 145.
  21. a b c d Wulf Kirsten (Hrsg.): »Beständig ist das leicht Verletzliche« Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan Ammann Verlag, Zürich 2010, ISBN 978-3-250-10535-0. Seite 415 und 993
  22. a b c d e f g h i Paul Raabe: Keller, Julius Talbot in: derselbe: Die Aktion. Bio-Bibliographischer Anhang zu den Jahrgängen 5–8 (1915–18) Internet Archive Seite 36–37
  23. a b Denise Steger: Die Rheinischen Expressionisten Portal Rheinische Geschichte (LVR)
  24. Verlobungsanzeige Thilda Rasch und Julius Keller. In Aachener Anzeiger vom 6. September 1914, Seite 3 Deutsches Zeitungsportal
  25. Nachricht in: Echo der Gegenwart, 24. November 1914, Seite 4 Deutsches Zeitungsportal
  26. Aufruf der Antinationalen Sozialisten-Partei (A. S. P.) Gruppe Deutschland, in: Die Aktion. 8. Jahrgang, Heft 45/46, 16. November 1918, Spalte 583–586 Internet Archive
  27. Julius Talbot Keller: Was sind Revolutionen? In: Der Gegner, Jahrgang 1, Nr. 1, April 1919, Seite 16–20 Blue Mountain
  28. Geburtsanzeige Sohn Ottomar. In: Kölnische Zeitung vom 16. Januar 1928, Seite 10 Deutsches Zeitungsportal
  29. Julius Talbot-Keller in der Datenbank Find a Grave, abgerufen am 19. Januar 2024 (englisch).
  30. Franz Pfemfert (Hrsg.): Die Aktions-Lyrik. Band 1: 1914–1916. Eine Anthologie. Verlag der Wochenschrift Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf, 1916
  31. Gertrude Cepl-Kaufmann: Schriftsteller und Krieg – Dafür oder dagegen? Der Erste Weltkrieg als Gretchenfrage, Erwähnung und Auszug aus Die Front von Julius Talbot Keller auf literaturkritik.de vom 21. November 2016