In der Linguistik hat das Diversifikationsgesetz die formale bzw. funktional-semantische Differenzierung einer Einheit zum Gegenstand. Es besagt, dass die Häufigkeiten, mit denen verschiedene Formen einer sprachlichen Kategorie (z. B. die unterschiedlichen Flexionsformen eines Verbs oder die Wortarten[1]) oder die unterschiedlichen Bedeutungen eines Wortes in Texten vorkommen, gemäß einem Sprachgesetz vertreten sind, das Gabriel Altmann (1985; 1991[2]) abgeleitet und begründet hat.

Diversifikation der Pluralendungen deutscher Substantive Bearbeiten

Als Beispiel diene der Plural bei deutschen Substantiven. In diesem Fall ist eine Flexionskategorie diversifiziert. Brüers & Heeren haben für eine Reihe von Briefen Heinrich von Kleists untersucht, wie oft darin die verschiedenen Plural-Allomorphe von Substantiven vorkommen.[3] Das Deutsche hat folgende Plural-Allomorphe: -e (der Tisch – die Tisch-e), -n (die Tante – die Tante-n), -en (die Bank – die Bank-en), -er (das Kind – die Kind-er), -s (das Auto – die Auto-s), Umlaut (=U) (der Vater – die Väter), U+e (der Stand – die Ständ-e), U + -er (der Wald – die Wäld-er), (der Hebel – die Hebel-Ø). ( ist das Nullallomorph). Es ergab sich, dass in 21 Briefen die Plural-Allomorphe in verschiedener Anzahl und auch nicht immer alle vorkommen; ordnet man die vorkommenden Formen aber für jeden Text gesondert nach ihrer Häufigkeit, dann kann man zeigen, dass ihr Vorkommen sich in allen Fällen entsprechend der geometrischen Verteilung verhält. Auf die Plural-Allomorphe in 21 Kurzgeschichten von Wolfdietrich Schnurre wurde stattdessen die 1-verschobene negative hypergeometrische Verteilung mit sehr guten Ergebnissen angewendet.[4] Bei einem Pressetext bewährte sich die Hyperpoisson-Verteilung.[5]

Als Beispiel folgt die Anpassung der negativen hypergeometrischen Verteilung an Schnurres Kurzgeschichte Abstecher ins Leben; dabei werden die vorkommenden Plural-Allomorphe nach ihrer Häufigkeit in diesem Text in die Ränge 1–8 eingeteilt, wobei Rang 1 dem häufigsten Allomorph zugewiesen wird, Rang 2 dem zweithäufigsten, und so weiter:[6]

Rang Plural-Allomorph n(x) NP(x)
1 -{n} 59 58,89
2 -{Ø} 33 31,30
3 -{e} 20 23,13
4 -{en} 18 18,54
5 U + -{er} 18 15,28
6 U + -{e} 12 12,60
7 U 10 10,08
8 -{er} 7 7,18

(Dabei ist n(x) die in diesem Text beobachtete Häufigkeit des betreffenden Plural-Allomorphs; NP(x) die Häufigkeit des betreffenden Plural-Allomorphs, die berechnet wird, wenn man die hypergeometrische Verteilung an die beobachteten Daten anpasst. Ergebnis: die negative hypergeometrische Verteilung ist für diesen Text ein gutes Modell mit dem Testkriterium P = 0,90, wobei P als gut erachtet wird, wenn es größer/ gleich 0,05 ist. Für ausführlichere Erläuterungen sei auf die angegebene Literatur verwiesen.)

Weitere Diversifikationen Bearbeiten

Auch der Wortschatz einer Sprache unterliegt der Diversifikation: Er setzt sich aus Erbwörtern sowie Wörtern verschiedener Herkunftssprachen (Fremd- oder Lehnwörtern) zusammen, deren Relationen untereinander (das sogenannte Wort- oder Fremdwortspektrum) dem Diversifikationsgesetz folgen.[7] Ein weiteres Feld, in dem Diversifikation sich vielfach bemerkbar macht, sind Familiennamen. So haben sich für viele Namen verschiedene Schreibweisen (beispielsweise: Schmidt, Schmitz, Schmitt, Schmid, Schmied) herausgebildet. Ordnet man die Varianten nach ihren Häufigkeiten, lässt sich nachweisen, dass wie im Falle der Plural-Allomorphe den Rangordnungen bestimmte Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen.[8] Das Gleiche gilt für die verschiedenen Formen der Fugen in Komposita.[9] Auch für die Häufigkeit, mit der unterschiedliche Typen von Kurzwörtern verwendet werden, kann das Diversifikationsgesetz als Modell eingesetzt werden.[10] Auf phonetisch-phonologischer Ebene lässt sich die Diversifikation der Allophone des Phonems /r/ im Deutschen demonstrieren.[11] Ein weiteres Anwendungsfeld ist der Versbau: Die Verwendung von Hexameter-Typen in deutscher, griechischer und lateinischer Versdichtung unterliegt dem gleichen Gesetz.[12] Ein Beispiel aus Schriftsystemen: Das V-Zeichen der Donauschrift mit seinen Varianten unterliegt ebenfalls dem Diversifikationsgesetz.[13]

Während die bisher angeführten Beispiele die Ausdrucksseite der Sprache betreffen, können entsprechende Untersuchungen auch für die Bedeutungsseite angestellt werden. Die ersten Forschungen dazu galten ungarischen Präfixen.[14][15][16] Weitere Arbeiten widmeten sich vor allem Präpositionen. Man kann zum Beispiel untersuchen, durch welche anderen Ausdrücke mit etwa gleicher Bedeutung eine Präposition in ihrem Kontext ersetzt werden kann. Dabei zeigt sich, dass je nach Kontext für ein und dieselbe Präposition unterschiedliche Ersetzungen möglich sind, wie Untersuchungen zu den deutschen Präpositionen ‚auf‘ und ‚von‘ ergaben. Diese Ersetzungsausdrücke kann man als Beleg unterschiedlicher Bedeutungen der untersuchten Präposition betrachten. Bringt man sie gemäß ihrer Häufigkeit in eine Rangfolge, so lässt sich zeigen, dass auch hier eine gesetzmäßige Diversifikation vorliegt.[17][18] Zum gleichen Ergebnis kommen eine Untersuchung zur englischen Präposition ‚in‘[19] sowie eine weitere zur polnischen Präposition ‚w‘.[20]

Das gleiche Verfahren wurde auch am Beispiel der französischen Konjunktion ‚et‘ erfolgreich durchgeführt.[21]

Einen neuen Überblick über die Vielfalt der Phänomene, die dem Diversifikationsgesetz folgen, hat Altmann (2018) unter Verwendung eines neu entwickelten einheitlichen Modells gegeben. Hierzu haben Kolenčíková & Altmann eine Untersuchung zu slowakischen Präpositionen vorgelegt.[22]

Bedeutung des Diversifikationsgesetzes Bearbeiten

Das Diversifikationsgesetz[23] ist eines unter vielen Sprachgesetzen, die die Quantitative Linguistik vorschlägt. Es gibt eine Fülle von Überprüfungen, besonders zur Verteilung von Wortarten in Texten verschiedener Sprachen, die die Theorie stützen.

Literatur Bearbeiten

  • Gabriel Altmann: Diversification Processes of the Word. In: Peter Schmidt (Hrsg.): Glottometrika 15. Issues in General Linguistic Theory and the Theory of Word Length. Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 1996, S. 102–111. ISBN 3-88476-228-1.
  • Gabriel Altmann: Diversification processes. In: Reinhard Köhler, Gabriel Altmann & Rajmund G. Piotrowski (Hrsg.): Quantitative Linguistik – Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch. de Gruyter, Berlin/ New York 2005, S. 646–658. ISBN 3-11-015578-8.
  • Gabriel Altmann: Unified Modelling of Diversification in Language. RAM-Verlag, Lüdenscheid 2018. ISBN 978-3-942303-63-7.
  • Gabriel Altmann, Karl-Heinz Best, Bernd Kind: Eine Verallgemeinerung des Gesetzes der semantischen Diversifikation. In: Ingeborg Fickermann (Hrsg.): Glottometrika 8. Brockmeyer, Bochum 1987, S. 130–139. ISBN 3-88339-559-5.
  • Karl-Heinz Best: Bibliography: Diversification. In: Glottometrics. 28, 2014, S. 87–91 (PDF Volltext).
  • Ursula Rothe: Diversification Processes in Grammar. An Introduction. In: Ursula Rothe (Hrsg.), Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, S. 3–32.
  • Ursula Rothe (Hrsg.): Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991. ISBN 3-926862-21-1.

Weblinks Bearbeiten

Wiktionary: Diversifikationsgesetz – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. lql.uni-trier.de (Memento des Originals vom 21. Februar 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/lql.uni-trier.de
  2. Gabriel Altmann: Semantische Diversifikation. In: Folia Linguistica XIX, 1985, S. 177–200; Gabriel Altmann: Modelling diversification phenomena in language. In: Rothe, Ursula (Hrsg.), Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, S. 33–46.
  3. Nina Brüers & Anne Heeren: Plural-Allomorphe in Briefen Heinrich von Kleists. In: Glottometrics. 7, 2004, S. 85–90 (PDF|Volltext).
  4. Katharina Meuser, Jana Madlen Schütte & Sina Stremme: Pluralallomorphe in den Kurzgeschichten von Wolfdietrich Schnurre. In: Glottometrics. 17, 2008, S. 12–17 (PDF Volltext).
  5. Karl-Heinz Best: Quantitative Linguistik. Eine Annäherung. 3., stark überarbeitete und ergänzte Auflage. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2006, S. 81. ISBN 3-933043-17-4.
  6. Katharina Meuser, Jana Madlen Schütte & Sina Stremme: Pluralallomorphe in den Kurzgeschichten von Wolfdietrich Schnurre. In: Glottometrics. 17, 2008, S. 14 (PDF Volltext).
  7. Karl-Heinz Best, Emmerich Kelih (Hrsg.): Entlehnungen und Fremdwörter: Quantitative Aspekte. RAM-Verlag, Lüdenscheid 2014. ISBN 978-3-942303-23-1. Das Buch enthält zwei entsprechende Beiträge.
  8. Karl-Heinz Best: Diversifikation bei Eigennamen. In: Peter Grzybek & Reinhard Köhler (Hrsg.): Exact Methods in the Study of Language and Text. Dedicated to Gabriel Altmann on the Occasion of his 75th Birthday. Mouton de Gruyter, Berlin/ New York 2007, ISBN 978-3-11-019354-1, S. 21–31.
  9. Karl-Heinz Best: Verteilungen von Fugenelementen im Deutschen. In: Göttinger Beiträge zur Sprachwissenschaft 16, 2008, S. 7–16. (Erschienen 2010),
  10. Karl-Heinz Best: Kürzungstendenzen im Deutschen aus der Sicht der Quantitativen Linguistik. In: Jochen A. Bär, Thorsten Roelcke & Anja Steinhauer (Hrsg.): Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. de Gruyter, Berlin/ New York 2007, S. 45–62. ISBN 978-3-11-017542-4.
  11. Karl-Heinz Best: Diversifikation des Phonems /r/ im Deutschen. In: Glottometrics. 18, 2009, S. 26–31 (PDF Volltext).
  12. Karl-Heinz Best: Zur Diversifikation lateinischer und griechischer Hexameter. In: Glottometrics. 17, 2008, S. 43–50 (PDF Volltext);
    Karl-Heinz Best: Zur Diversifikation deutscher Hexameter. In: Naukovyj Visnyk Černivec’koho Universytetu: Hermans’ka filolohija. Vypusk 431, 2009, S. 172–180.
  13. Karl-Heinz Best: Diversification of a single sign of the Danube script. In: Glottometrics. 22, 2011, S. 1–4 (PDF Volltext); Test S. 2, Graphik dazu S. 3.
  14. Erszébet Beőthy, Gabriel Altmann: The diversification of meaning of Hungarian verbal prefixes. I. ‚-meg-‘. In: Ursula Rothe (Hrsg.): Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, Seite 60–66. ISBN 3-926862-21-1.
  15. Erszébet Beőthy, Gabriel Altmann: The diversification of meaning of Hungarian verbal prefixes. II. ‚ki-‘. In: Finnisch-ugrische Mitteilungen 8, 1984, Seite 29–37.
  16. Erszébet Beőthy, Gabriel Altmann: Semantic Diversification of Hungarian Verbal Prefixes. III. „föl-“, „el-“, „be-“. In: Ursula Rothe (ed.): Glottometrika 7. Brockmeyer, Bochum 1984. ISBN 3-88339-423-8. Seite 45–56.
  17. Karl-Heinz Best: ‚Von‘: Zur Diversifikation einer Partikel im Deutschen. In: Ursula Rothe (Hrsg.): Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, Seite 94–104. ISBN 3-926862-21-1.
  18. Rinje Fuchs: Semantische Diversifikation der deutschen Präposition ‚auf‘. In: Ursula Rothe (Hrsg.): Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, Seite 105–115. ISBN 3-926862-21-1.
  19. Anja Hennern: Zur semantischen Diversifikation von ‚in‘ im Englischen. In: Ursula Rothe (Hrsg.): Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, Seite 116–126. ISBN 3-926862-21-1.
  20. Rolf Hammerl, Jadwiga Sambor: Untersuchungen zur Verteilung der Bedeutungen der polyfunktionalen polnischen Präposition ‚w‘ im Text. In: Ursula Rothe (Hrsg.): Diversification Processes in Language: Grammar. Margit Rottmann Medienverlag, Hagen 1991, Seite 127–137. ISBN 3-926862-21-1.
  21. Ursula Rothe: Die Semantik des textuellen ‚et‘. Peter Lang, Frankfurt/Bern/New York 1986. ISBN 3-8204-9660-2. Kapitel: Diversifikationsanalyse, Seite 63–68, 93–95, 105–107, 117–120.
  22. Natália Kolenčíková, Gabriel Altmann: Analysis of Prepositions in ‚Marína‘ (Slovak Romantic Poem). In: Glottometrics. 48, 2020, Seite 88–107 (PDF Volltext (Memento des Originals vom 12. Juli 2020 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ram-verlag.eu)
  23. lql.uni-trier.de (Memento des Originals vom 5. Januar 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/lql.uni-trier.de