Das Kognitionsverfahren (cognitio extra ordinem, abgekürzt c.e.o, auch cognitio extraordinaria oder extraordinaria cognitio)[1] war ein zivilprozessuales Gerichtsverfahren, das in der römischen Kaiserzeit entwickelt wurde.[2]

Entwicklungsgeschichte

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Während der Zeit des Zwölftafelgesetzes in der frühen römischen Republik und noch während des frühen Prinzipats wurden Gerichtsverfahren zunächst über die sogenannten Legisaktionen und später über den Formularprozess ausgetragen. Für sie galt der zweigeteilte Prozess, der im ersten Schritt mit der Festlegung der Spruchformeln vor dem Gerichtsmagistraten – regelmäßig war das der Prätor – eröffnet wurde (in iure). Im zweiten Schritt wurde der Prozess vor dem Iudex, das war der Richter, weiterverfolgt (apud iudicem). Der Richter erhob Beweis und sprach das Urteil.[3] Beide Prozesstypen, die zeitweise nebeneinander existierten, wurden im 3. Jahrhundert durch das Kognitionsverfahren abgelöst, das zum Ziel hatte, Prozessverfahren zu vereinheitlichen und damit zu erleichtern. Gleichwohl standen auch der Formular- und Kognitionsprozesstyp zeitweise noch nebeneinander, bis Constantius II. und Constans das Formularverfahren 342 gesetzlich final abschafften.[4] Die Obliegenheit der Prozessführung wurde nunmehr zur umfassenden Abwicklung auf einen öffentlich bestellten Gerichtsmagistraten übertragen. Der Wandel der Gerichtsbarkeit und des Zivilprozesses war tiefgreifend, wenn die Entwicklungsgeschichte von der republikanischen Verfassung hin zum Beamtenstaat, der selbst in der Zeit vom Prinzipat zur Spätantike einem erheblichen Wandel ausgesetzt war, gewürdigt wird.

Das Prinzip des Kognitionsverfahrens konnte sich letztlich gegenüber dem Formularprozess durchsetzen, weil man sich daran erinnerte, dass es sich in Zeiten der Republik schon bewährt hatte, Verwaltungsstreitsachen einheitlich und von einem Richter entscheiden zu lassen. Namensgebend: cognitio extraordinaria. Da es eine Gewaltenteilung nicht gab, konnte ein Gremium in der verwaltungsrechtlichen Sache ebenso entscheiden wie nachfolgend im Prozess. Da die Anzahl der Prozesse durch neue Anspruchstypen (beispielsweise Unterhaltsansprüche) deutlich angestiegen war und in einigen römischen Provinzen der Formularprozess gar nicht erst eingeführt war, weil Entscheidungen dort vom beamteten Richter der Militärverwaltung getroffen wurden, erhielt das Kognitionsverfahren ab 342 dann die Alleinstellung.[5] Statt Beibehaltung einer horizontalen Zweigliederung, wurde eine vertikale eingeführt, der Instanzenzug. Der Berufungs- beziehungsweise Beschwerderichter, vornehmlich jedoch der Princeps, konnte beanstandete Urteile überprüfen, sodass die Prozesslogik (nach heutigem Verständnis) aufgewertet wurde.[6] Auch die zunächst gefeierte Rechtsschöpfungsmacht des Formularprozesses gegenüber dem archaischen Legisaktionenverfahren konnte diesen Prozesstyp nicht „retten“, zumal bereits vor der finalen Redaktion des edictum perpetuum unter Kaiser Hadrian der Formelbestand weitgehend abgeschlossen war und keine überschießende Flexibilität aufwies.

Gerichtsverfahren

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Geladen wurde im Kognitionsprozess nicht mehr privat durch die Parteien in Eigenregie, sondern von Amts wegen. Der Kläger erklärte vorab sein Anliegen in Form einer Streitansage. Der Prozess wurde grundsätzlich ohne Öffentlichkeit geführt, wobei dem Richter bei der Untersuchung, Prüfung und Erörterung der Streitsache Ermessen eingeräumt war (causae cognitio). Er erließ ein Versäumnisurteil, wenn eine Partei (contumacia) ausblieb. Die herkömmliche aktionenrechtliche Denkweise wich zwar einem vereinheitlichten Verfahren, blieb für die Rechtsverwirklichung im Prozess gleichwohl von zentraler Bedeutung.[7] Das auf den (actiones) (Klagen) und den (exceptiones) (Gegenklagen) beruhende Prinzip des Prozesses wandelte sich nicht; es wurden daraus Ansprüche und Einwendungen/Einreden.[6] Sehr häufig wurde aber gar nicht geklagt, weil Einigungen und Kompromisse außergerichtlich angestrebt wurden. Eine private Sondergerichtsbarkeit wurde hingegen nicht eingerichtet. Blieb eine außergerichtliche Einigung erfolglos, war der Rechtsweg in Rom über die städtische Gerichtsbarkeit vor den Stadtmagistraten (duumviri) eröffnet. Bei geringem Streitwert konnte die Verhandlung vor friedensrichterlichen Schlichtungsstellen geführt werden. In den Provinzen zeichnete der Provinzrichter (iudex pedaneus) zuständig. Mangels eigenen Rechtskenntnissen wurde der häufig von einem rechtskundigen Beisitzer (adsessor) oder seltener von einem Consilium unterstützt. Ersatzweise konnten sich die Parteien auch an den Statthalter (rector provinciae) wenden.[8]

Ursprünglich war die zivilprozessuale Verfahrensform der cognitio[9] in den Provinzen beheimatet. Dort war es oft problematisch, genügend römische Staatsbürger zu finden, die als Geschworene hätten eingesetzt werden können. Aus dem Grund übernahm der Prätor deren Aufgaben in Personalunion und leitete die gerichtlichen Untersuchungen (causae cognitio) selbst. Unter Augustus wurde die cognitio zur cognitio extra ordinem erweitert, bei der der Magistrat auch keinen Privatrichter (iudex privatus) mehr einsetzte, sondern selbst entschied oder ein kaiserlicher Amtsträger. Die Abschaffung des zivilen Formularprozesses griff auf den Strafprozess durch, denn auch die schwurgerichtlichen quaestiones verschwanden.

Das antike Urteil zeichnete den Weg für das Urteil im modernen Rechtsverständnis vor. Urteile wurde schriftlich abgefasst und mussten begründet werden. Entscheidungen über die Herausgabe beweglicher Sachen (Mobilien) wichen von dem Grundsatz ab, dass jede Verurteilung auf Geld lautet (omnis condemnatio pecuniaria est), was vollstreckungsrechtliche Konsequenzen nach sich zog, denn die Zwangsvollstreckung in den herausgabepflichtigen Gegenstand war nun möglich. Urteile waren im Instanzenzug vollständig überprüfbar (appellatio), wobei keine neuen Tatsachen vorgetragen werden durften.[6]

Wie gut das Kognitionsverfahren funktionierte, ist schwer bestimmbar, denn es gibt kaum aufschlussreiche Informationen zu den Abläufen. Mitteilungen aus der Praxis in bestimmten Provinzen sind aber auf Papyri und als Inschriften festgehalten.[10] Da die Gerichtsverfahren teuer waren, obsiegte zumeist wohl der, der den besten Anwalt hatte.[11]

Das römisch-kanonische Verfahren mittelalterlicher Gerichte beruht auf der cognitio extra ordinem.

Sonstige Verfahrensarten

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Neben dem ordentlichen Gerichtsverfahren des Kognitionsprozesses und der Schiedsgerichtsbarkeit, eine solche war auch dem jüdischen Patriarchat[12] zugestanden, gab es Sondergerichtsbarkeiten. Der Sondergerichtsbarkeit unterfielen – nur beispielsweise – das Finanz- und Fiskalwesen, aber auch spezielles Berufsrecht, wenn etwa Streitigkeiten im Heer entstanden. Angelegenheiten mit klerikalem Bezug wurden vor dem Bischofsgericht (episcopalis audientia) verhandelt, wo neben dem römischen, kanonisches Recht zur Anwendung kam. Gegen Urteile des Bischofsgerichts war eine weitere Appellation an weltliche Gerichte nicht möglich.

Die freiwillige Gerichtsbarkeit ist insbesondere im Familienrecht bezeugt.[13] Materien waren die Wahl und Ernennung von Vormündern, Emanzipationen und Freilassungen von Sklaven.[14]

Literatur

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Anmerkungen

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  1. Gerhard Köbler: Juristisches Wörterbuch. 15. Auflage, München, 2012
  2. Christian Reitzenstein-Ronning: Der römische Senat in der Kaiserzeit (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive) LMU München, Abteilung Alte Geschichte
  3. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 22.
  4. Codex Theodosianus 2,57,1.
  5. Max Kaser, Karl Hackl: Das römische Zivilprozessrecht. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage / neu bearbeitet von Karl Hackl. 2. Auflage. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40490-1.
  6. a b c Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 386–388.
  7. Arnold Hugh Martin Jones: The Later Roman Empire 284–602. A social, economic, and administrative survey. Band I, Kapitel IV („Justice“), 1964. [Nachdruck 1986].
  8. Lorena Atzeri: Vom Prinzipat zur Spätantike. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 75–100, hier S. 94 ff. (Rnr. 57 ff.; 64 ff.).
  9. Moriz Wlassak: Cognitio. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band IV,1, Stuttgart 1900, Sp. 207–211.
  10. Ägyptische Protokolle der spätantiken Statthaltergerichte sind zusammengestellt bei Rudolf Haensch, in Rudolf Haensch (Hrsg.): Recht haben und Rechtbekommen im Imperium Romanum. Das Gerichtswesen der römischen Kaiserzeit und seine dokumentarische Evidenz. Ausgewählte Beiträge einer Serie von drei Konferenzen an der Villa Vignoni in den Jahren 2010 bis 2012. (The Journal of Juristic Papyrology Supplement XXIV), Warschau 2016.
  11. Zu den anwaltlichen Aufgaben, siehe John Noël Dillon: The Justice of Constantine. Law, Communication, and Control. Ann Arbor 2012. S. 123 f.
  12. Codex Theodosianus 16,8,8 (a.392) / 16,8,9 (a.393) / 16,8,13 (a.397).
  13. Codex Theodosianus 3,17,3 pr. (a.389).
  14. Zum ganzen Komplex, Lorena Atzeri: Vom Prinzipat zur Spätantike. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 75–100, hier S. 98 f.