Der Grabhügel der Athener bei Marathon.

Polyandrion (altgriechisch πολυάνδριον ‚viele Männer‘, Plural Polyandria, von πολυ „viel“ und άνδριον „Mann“) ist der archäologische Begriff für das Gemeinschaftsgrab im antiken Griechenland, das gewöhnlich Kriegsgefallenen von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt wurde.[1]

Definition

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Gemäß LSJ hat der Begriff die Bedeutung eines „Ortes, wo viele Menschen zusammenkommen“, im Besonderen ein „Begräbnisplatz für Viele“. Das Lexikon beruft sich dabei auf Plutarch und Claudius Aelianus.[2] Als archäologischer Begriff wurde Polyandrion erstmals im frühen 17. Jahrhundert von William Strachey in The historie of travell into Virginia Britania verwendet.[3] Von der modernen Wissenschaft wird Polyandrion als Grabanlage verstanden, die die Städte der griechischen Antike ihren Bürgern, in der Regel Kriegsgefallenen, zur Verfügung stellten.[4]

Entwicklung

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In der griechischen Kultur war es Tradition, die Kriegsgefallenen auf dem Schlachtfeld in einem Polyandrion zu begraben. Der Brauch geht wahrscheinlich bis in die Dunklen Jahrhunderte vor 600 v. Chr. zurück. Homer erwähnt ein Polyandrion für die getöteten Griechen in der Ilias. Es ist die einzige Erwähnung einer Grabstätte in den Gesängen. An weiteren Stellen im Werk wurden die Toten auf dem Schlachtfeld üblicherweise Vögeln und anderen Tieren überlassen.[5]

Athen ist die einzige bekannte Stadt, die ihre Kriegsgefallenen heimbrachte. Zu welchem Zeitpunkt das athenische Polyandrion (siehe dazu Demosion Sema) im Stadtteil Kerameikos eingeführt wurde, ist in der Forschung umstritten. Die Meinungen gehen vom Ende des 6. Jh. v. Chr. bis zur Pentekontaetie.[6] Die Heimführung der Gefallenen, deren Begräbnis und die Ausführung der Rituale fielen dem Staat in der Rolle des Polemarchen zu.[7]

Um 317 v. Chr., nach der Einführung der Gesetzgebung von Demetrios von Phaleron, der die Demonstration der reichen Skulpturen verbot, endete die Zeit der Polyandria. Daraufhin benutzten zum Beispiel die Bürger von Athen entweder einen Opfertisch mit Gaben (trapeza) oder es wurde eine kleine Säule eingesetzt. Die Denkmäler enthalten im Allgemeinen den Namen des Verstorbenen, den Namen seines Vaters und die Gemeinde, in der der Bürger registriert war. Der einfache Stil der neueren Denkmäler galt als extremer Ausdruck der Ideologie der Isonomie, der Vorstellung von der grundlegenden Gleichheit aller Bürger.[8]

Struktur

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Gefallenenlisten

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Seit archaischer Zeit war es in Griechenland üblich, Gräber mit dem Namen der Toten zu versehen. Der Brauch wurde auch bei den Gemeinschaftsgräbern angewendet, so dass lange Listen von Gefallenen, versehen mit den Namen und der Zugehörigkeit zur Phyle, entstanden. Die Namen wurden auf rechteckigen, flachen Stelen eingetragen, die wie zum Beispiel im Stadtteil Kerameikos von Athen überall herumstanden und dann plötzlich am Anfang des 4. Jh. v. Chr. verschwanden. Sie sind entweder für die Nachwelt nicht mehr sichtbar, weil sie zum Beispiel die Form verändert haben oder aufgegeben wurden.[9]

Epigramme

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Es war üblich, die Staatsgräber mit einem Epigramm zu schmücken, die von bedeuteten Dichtern ausgeführt wurden. Die Form war ein Doppeldistichon, die die Anlehnung an die Elegie zum Ausdruck bringt. Die Sprache ist formell und typisch ist das οἶδε (Wisse), das auf die Gefallenen verweist. Manchmal kommt es auch vor, dass die Toten selber sprechen oder angesprochen werden.[10]

Das Hauptthema der Epigramme ist die Arete, die Leistung, die der Tüchtige für den Staat erbringt. „Nicht mehr die überragende individuelle Leistung, wie im homerischen Einzelkampf, sondern das Aushalten in der Schlachtreihe macht im Bürgerheer die Arete des tapferen Kriegers aus.“[11] Der Verlust der Jugend, des Lebens, das Begraben des Körpers und der Weg zum Hades werden dem Ruhm des Staatgrabs gegenübergestellt. Das Ziel ist das Aufrechterhalten der Erinnerung, dargestellt durch Mneme, um den Ruhm durch Betonung der Arete andauern zu lassen.[12]

Reliefschmuck

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Grabformen

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Ein bekanntes Polyandrion sind die Lakedaimoniergräber in Athen. Die Form und Entwicklung von durchschnittlichen Polyandria sind nicht bekannt und man ist auf Vermutungen und Rückschlüsse von privaten Grabbauten angewiesen. Die ältesten Polyandria waren wahrscheinlich einfache Tymboi. Auf dem Grabhügel oder an dessen Fuß stand eine Stele. Manchmal war er umrundet von einer Stützmauer. Gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. wurden die runden Grabhügel durch rechteckige Grabbauten abgelöst.[13]

Die Gefallenen wurden auf dem Schlachtfeld verbrannt. Im Fall von Athen, das seine Gefallenen heimbrachte, wurde einmal im Jahr, gewöhnlich im Winter, wenn der Krieg ruhte, ein gemeinsames Begräbnis abgehalten. Das Begräbnis begann mit einer dreitägigen Aufbahrung (Prothesis), während der Spenden und Totenklagen ausgeführt wurden. Danach wurden die Überreste nach Phylen geordnet in zypressene Särge in einer Prozession zum Begräbnisort gebracht. Nach dem Zuschütten des Grabes hielt ein von der Stadt ausgewählter Redner die Epitaphios Logos auf die Gefallenen. Mit dem Ende der Rede war das eigentliche Begräbnis zu Ende.[14]

Opfer????

Epitaphios Logos

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Epitaphios Agon

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Zeitpunkt

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Empfänger

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In den Polyandria wurden die Bürger einer Stadt beerdigt. Es gibt vereinzelte Überlieferungen, in denen einem Bürger ein Staatsbegräbnis verweigert wird wie im Fall des Atheners, der sich dem Feind ergeben hatte. Von Athen ist ebenfalls bekannt, dass Bürger der Stadt, die als Söldner in fremden Diensten waren, kein Staatsbegräbnis erhielten. Dagegen werden Verbündete und sogar Sklaven, denen man die Freiheit und das Bürgerrecht als Belohnung für den Heerdienst versprochen hatte, auf den Listen geführt.[15]

Quellenlage

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Archäologische Funde

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In den 80–er Jahren des 20. Jh. wurde ein antiker Friedhof in Paros ausgegraben, der das wohl älteste bekannte Polyandrion der griechischen Welt enthält. Der Friedhof wurde mindestens fünf Jahrhunderte benutzt. Es wurden 140 Vasen mit Aschen von Verstorbenen gefunden und auf das 8. Jh. v. Chr. datiert. Aufgrund des Alters und der Anzahl der Verstorbenen, den Zeichnungen auf den Vasen und einer Speerspitze wurde der Ort als Massenbestattung von Kriegstoten interpretiert und als Polyandrion bezeichnet.[16]

1969 zählte man 108 athenische Fragmente von Stelen mit Gefallenenlisten. Sie wurden verstreut als Teil von Hausfundamenten, Kirchen und sogar auf dem Land gefunden. Bereits in klassischer Zeit wurden die Stelen abgebaut und in Bauten wiederverwendet. Die Framente werden 30 bis 41 Monumenten zugeordnet.[17]

Aus dem 5. Jh. v. Chr. sind Polyandria in Attika, Mittelgriechenland und Nordgriechenland bekannt. Sie werden aber kaum mit extremen historischen Bedingungen (???) in Verbindung gebracht.[18]

Epigramme

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Viele Epigramme sind durch antike Redner und Historiker überliefert. Es sind auch einige authentische Epigramme oder Fragmente auf Gefallenenstelen oder Basisblöcken in Athen gefunden worden. Von den insgesamt 28 Überlieferungen aus Athen stammen 11 aus der Literatur, 2 aus Literatur und Inschriften, und der Rest von Inschriften. Nicht in allen Fällen ist die Zugehörigkeit zu Polyandria gesichert, ebenso wenig wie die Zuweisung zu einem bestimmten Ereignis. Die meisten literarischen Quellen sind in der Griechischen Anthologie aufgeführt.[19]

Epitaphien

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Literarische Quellen

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Thukydides[20] und Pausanias sind die wichtigsten Quellen im literarischen Bereich.

Literatur

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  • Cornelius Stöhr: Tod für die Patris. Das Gefallenengedenken in den griechischen Poleis klassischer und hellenistischer Zeit.
  • W. Kendrick Pritchett: The Greek State at War. 5 Bände, University of California Press, Berkeley u. a. 1971–1991. Band 4 S. 125–139.
  • Claudia Ruggeris: Die antiken Schriftzeugnisse über den Kerameikos von Athen.
  • Johannes Engels: Funerum sepulcrorumque magnificentia: Begräbnis- und Grabluxusgesetze in der griechisch-römischen Welt mit einigen Ausblicken auf Einschränkungen des funeralen und sepulkralen Luxus im Mittelalter und in der Neuzeit. Hermes 78, Stuttgart 1998.
  • Demetrius Umberto Schilardi: The Thespian Polyandrion (424 B. C.): the excavations and finds from a Thespian state burial. 2 Bände, Dissertation Princeton University. Ann Arbor 1979.
  • Michael Jung: Marathon und Plataiai: zwei Perserschlachten als „lieux de mémoire“ im antiken Griechenland. In: Hypomnemata Band 164. Göttingen 2006, S. 61–66 Digitalisat.
  • Nathan T. Arrington: Ashes, images, and memories : the presence of the war dead in fifth-century Athens. Oxford 2015.
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  • William Strachey: The historie of travell into Virginia Britania (1612). Hrsg. Louis Booker Wright, Virginia Freund. Bd. 103. Hakluyt Society, zweite Auflage, Nendeln 1967.
  • 1758 John Gill: An exposition of the Books of the Prophets of the Old Testament, both larger and lesser. Vol. II. Containing the prophecies of Ezekiel, Daniel, Hosea, Joel, Amos, Obadiah, Jonah, Micah, Nahum… · 1758. 196/2: „The city nearest to this place where Gog and his multitude shall be buried, shall be called Hamonah..which signifies a multitude; or Polyandrion, as the Septuagint version, a place where many graves are.“
  • 1796 Valentine Green: The history and antiquities of the city and suburbs of Worcester. London 1796. I. 150 (note) : „The Bœotians, who died fighting against Phillip, and were buried in one common Polyandrium.“
  • 1820 Thomas Smart Hughes: Travels in Sicily, Greece and Albania. London 1820. Sicily I. xi. 335: „That polyandrium which covered the remains of those brave Thebans who fell in defence of Grecian liberty.“
  • 1944 The Journal of Hellenic Studies: 64 40/2: „One can […] maintain that Pausanias' own description is nothing but an excerpt of a more detailed periegesis, from which he took over […] a certain number of single graves and polyandria.“
  • 1991 Pamela Vaughn: The identification and retrieval of the hoplite battle-Dead. In Victor Davis Hanson Hoplites: the classical Greek battle experience. London 1991, S. 43.: „At Phigaleia […] a polyandrion was erected of those 'chosen Oresthasians' who helped to force a Spartan garrison from the area.“

Einzelnachweise

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  1. Cyril M. Harris: Illustrated Dictionary of Historic Architecture. Courier Corporation, 2013 (google.gr).
  2. Polyandrion. Abgerufen am 27. Februar 2020.
  3. Oxford English Dictionary Polyandrion. Abgerufen am 25. Februar 2020.
  4. Illustrated Dictionary of Historic Architecture. Abgerufen am 27. Februar 2020.
  5. Felix Jacoby: Patrios Nomos: State burial in Athens and the public cemetery in the Kerameikos. In: The Journal of Hellenic Studies, Band 64, S. 42–44.
  6. Michael Jung: Marathon und Plataiai: zwei Perserschlachten als „lieux de mémoire“ im antiken Griechenland. In: Hypomnemata Band 164. Göttingen 2006, S. 61–62.
  7. Felix Jacoby: Patrios Nomos: State burial in Athens and the public cemetery in the Kerameikos. In: The Journal of Hellenic Studies, Band 64, S. 38.
  8. J. W. Mollett: An Illustrated Dictionary of Words Used in Art and Archaeology. Gilbert and Rivington, London 1883, 260 (archive.org).. Zum Begriff trapeza siehe Gunnel Ekroth: The Sacrificial Rituals of Greek Hero-Cults in the Archaic to the Early Hellenistic Period. Liége 2002, Kapitel II, Absatz 23, (openedition.org).
  9. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 5–6.
  10. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 12–13.
  11. Arete#Arete im allgemeinen Sprachgebrauch
  12. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 14.
  13. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 22–23.
  14. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 31–33.
  15. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 8, 10, 11.
  16. The dead are many, a polyandrion from Paros. Abgerufen am 28. Februar 2020.
  17. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 8.
  18. E. Baziotopoulou-Valavani: Excavating Classical Culture. Hrsg.: Stamatopoulou, M. 2002, A Mass Burial from the Cemetery of Kerameikos, S. 187–201.
  19. Reinhard Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen. Dissertation. Münster 1977, S. 12–13, siehe Liste unter Anmerkungen S. 11–12.
  20. Thukydides, historiae 2,34.